Walter Schmidt: Die schlesische Demokratie von 1848/49. Geschichte und Akteure. I. Halbband: Geschichte der schlesischen Demokratiebewegung (= Silesia. Schlesien im europäischen Bezugsfeld. Quellen und Forschungen; Bd. 13.1), Berlin: trafo 2012, 346 S., ISBN 978-3-86464-014-8, EUR 39,80
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Walter Schmidt: Die schlesische Demokratie von 1848/49. Geschichte und Akteure. II. Halbband: Protagonisten der schlesischen Demokratiebewegung (= Silesia. Schlesien im europäischen Bezugsfeld. Quellen und Forschungen; Bd. 13.2), Berlin: trafo 2012, 248 S., ISBN 978-3-86464-015-5, EUR 29,80
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Dass der berühmte deutsch-jüdische Schriftsteller Berthold Auerbach auch ein bedeutender Achtundvierziger war, der während der Revolution von 1848/49 in der preußischen Provinz Schlesien und vor allem in der Hauptstadt Breslau in der Demokratiebewegung an führender Stelle politisch tätig war, maßgeblich am Aufbau des demokratischen Vereinswesens mitwirkte und dabei entschieden für Volkssouveränität, die Grund- und Freiheitsrechte und die nationale Einigung Deutschlands eintrat, wird bislang nur wenigen Literaturkennern und Revolutionsforschern bekannt gewesen sein. Ähnliches ließe sich über etliche Protagonisten der schlesischen Demokratie von 1848/49 sagen, über prominente Abgeordnete der deutschen Nationalversammlung in Frankfurt und der preußischen verfassunggebenden Versammlung in Berlin wie Julius Brill, Moritz Elsner, Friedrich Wilhelm Schlöffel, Heinrich Simon oder Julius Stein genauso wie über heutzutage kaum mehr bekannte Persönlichkeiten, die "die demokratische Bewegung 'unten', an der Basis in städtischen oder ländlichen Vereinen oder als Zeitungsredakteure getragen haben", wie Sigismund Asch, Hermann Brehmer, Max Friedländer, Robert Schlehan oder Ludwig Schlinke: Ihre wechselvollen Biographien sind wie die Geschichte der organisierten achtundvierziger Demokratiebewegung in Schlesien in der Historiographie bisher weitgehend unbeachtet geblieben, von der Revolutionsforschung kaum aufgearbeitet und zudem "recht stiefmütterlich" behandelt worden (I., 9-10; II., 7).
Dieser erstaunliche Befund zur wissenschaftlichen Beschäftigung mit einem "Zentrum demokratischer Bestrebungen" der 1848er Revolution (I., 9), der bis heute auch nicht durch einzelne in jüngerer Zeit erschienene Abhandlungen oder durch die im letzten Jahrzehnt aufstrebende Forschung in Polen geheilt werden konnte [1], wird der Bedeutung Schlesiens für die demokratische Bewegung von 1848/49 in keinster Weise gerecht. Denn diese östliche Provinz Preußens konnte sich mit anderen Schwerpunkten der deutschen Revolution und der achtundvierziger Demokratie wie der Rheinprovinz, der Pfalz, Baden, Württemberg, Sachsen oder Berlin durchaus messen: Hier bildete sich seit März 1848 ein starkes Assoziationswesen heraus, das in Breslau ein breites politisches Spektrum abdeckte und neben dem liberalen Konstitutionellen Zentralverein und Vaterländischen Verein rund zehn demokratische Organisationen umfasste, darunter den Demokratischen Hauptverein und Demokratisch-konstitutionellen Verein sowie diverse Studentenverbände und den Breslauer Arbeiterverein. Der Vereinsbildungsprozess blieb aber nicht auf die Städte beschränkt, sondern dehnte sich rasch auf das Land aus, wo der schlesische Rustikalverein mit Filialen aufgebaut wurde.
Dieses Forschungsdesiderat greift nun der Historiker Walter Schmidt in seinem Buch über "Die schlesische Demokratie von 1848/49" aus dem Jahr 2012 auf. Gestützt auf eine langjährige Forschungspraxis zur Revolutionsgeschichte, kann Schmidt aus einem enormen Wissensfundus schöpfen und dem Leser in dem zweibändigen Werk einen kenntnisreichen, quellenbasierten und am Forschungsstand orientierten Überblick über alle nachweisbaren demokratischen Vereine in der Provinz Schlesien bieten, und zwar nicht nur in der Kapitale, sondern auch in vielen anderen (Kreis-)Städten und Dörfern. Schwerpunkte der Untersuchung bilden die Darstellung der Entwicklung des demokratischen Vereinslebens in Breslau als Ausgangspunkt aller politischen Organisationsbemühungen, die Auseinandersetzung mit dem kaum erforschten demokratischen Provinzialverband sowie die Rekonstruktion von 125 Biographien führender schlesischer Demokraten, deren Lebensweg, beruflicher Werdegang, weltanschaulichen Ansichten und politischen Aktivitäten zwischen Vormärz und Kaiserreich geschildert werden. Sowohl die Gesamtdarstellung als auch die Kurzporträts stützen sich auf die gründliche Auswertung der Aktenüberlieferung im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz in Berlin und der Berichterstattung in zeitgenössischen schlesischen Zeitungen.
Mit der Studie will der Autor einen Beitrag zur "Aufhellung der Rolle der schlesischen Demokratie in der achtundvierziger Revolutionsbewegung leisten" (I., 11) und damit auch die Bedeutung dieser regionalen Demokratieströmung für die deutsche Demokratiebewegung des 19. Jahrhunderts näher bestimmen. Zu dem Zweck geht er in der Untersuchung chronologisch vor und verfolgt in elf Kapiteln zuerst die Entfaltung des Assoziationswesens im Zuge von zwei Vereinsgründungswellen von März bis Oktober 1848. Dabei beschreibt er die Erfolge der schlesischen Demokratie bei den Wahlen zu den Nationalversammlungen in Frankfurt und Berlin und macht klar, dass ihre Führer im Jahr 1848 "alle Hoffnungen auf die Parlamente setzten", von diesen eine Neugestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse erwarteten und daher die linken Fraktionen in beiden Versammlungen mit ihrer Arbeit unterstützten (I., 341).
Im Herbst 1848 erreichte die schlesische Demokratiebewegung mit der größten Ausdehnung, einer vorbildhaften Organisation und politischen Aktivität zwar ihren Höhepunkt, gleichzeitig erlebte sie mit den ersten Siegen gegenrevolutionärer Kräfte aber auch einen Umschwung. Verantwortlich für die sich nun verschärfenden Gegensätze zwischen gemäßigten und radikalen Demokraten war die Frage des Einsatzes revolutionärer Gewalt, wobei die Vertreter der gemäßigten Richtung eine gewaltsame Revolution nur als allerletztes Mittel akzeptierten und einen bewaffneten Kampf gegen das Militär ablehnten. Trotz der Ausdifferenzierung in unterschiedliche Strömungen kam es im demokratischen Lager Schlesiens nicht zum Bruch zwischen den einzelnen Flügeln. Der Staatsstreich in Preußen im November 1848 stärkte vielmehr den Zusammenhalt der Demokraten, und in der Abwehr des gemeinsamen Gegners entfachten sie einen Adressen-Proteststurm gegen die Auflösung der preußischen Konstituante.
Das Frühjahr 1849 stellte, mit Blick auf die Bestrebungen zur Durchsetzung der von der deutschen Nationalversammlung verabschiedeten Reichsverfassung, eine Periode der Radikalisierung der schlesischen Demokratie dar. Angesichts der Zuspitzung der inneren Lage in Preußen nach Auflösung der zweiten Kammer des Abgeordnetenhauses Ende April mündete diese Radikalisierung in den Breslauer Maiaufstand von 1849 und die Teilnahme einiger Schlesier an der süddeutschen Reichsverfassungskampagne; die Niederschlagung des Aufstandes wie auch das Scheitern der Revolution markierte nicht sofort das Ende der Demokratiebewegung. Erst zu Beginn der 1850er Jahre kam sie unter dem Druck der Reaktion zum Erliegen.
Gleichwohl existierte seit Herbst 1849 mit der "Neuen Oder-Zeitung" ein Organ, das als einziges Blatt in Deutschland bis Mitte der 1850er Jahre "offen demokratische Politik" vertrat und das erst Ende 1855 wegen rückläufiger Abonnentenzahlen und finanzieller Probleme das Erscheinen einstellen musste (I., 304). Noch wichtiger für die schlesische Demokratie wurde die Alte Städtische Ressource, ein Ende 1845 in Breslau gegründeter Verein, der im Vormärz zur Politisierung des Bürgertums beigetragen hatte, seit der Novemberkrise 1848 wieder politisch tätig war und 1849 sogar das Ende der Revolution überstand. Während der Reaktionsära bot die Ressource als kulturell-gesellige Gesellschaft einen organisatorischen Rückhalt und blieb "auch in den 1850er Jahren ein Hort der Demokraten". Mit Beginn des öffentlichen Lebens in Preußen Anfang der 1860er Jahre nahm sie ihre alte Rolle "als Organ politischer Meinungsbildung und Selbstverständigung" oppositioneller Strömungen wieder ein. Am Beispiel der "Neuen Oder-Zeitung" und der Städtischen Ressource kann der Autor überzeugend darlegen, dass es in Schlesien zwar keine ungebrochene, aber eine fortwirkende "Kontinuität von der achtundvierziger Demokratie zu den oppositionellen liberalen und demokratischen Bestrebungen" der 60er Jahre gegeben hat (I., 331-332 u. 346).
Kritik an dem Buch ist in formaler und in konzeptioneller Hinsicht zu äußern. Dies betrifft zum einen das mitunter etwas nachlässige Lektorat des Textes, was in der Folge leider zu einigen sprachlichen Ungereimtheiten und Druckfehlern führt. Und da ist zum anderen der bedauerliche Verzicht auf ein Gesamtverzeichnis der verwendeten Quellen und Literatur zu nennen, das einen besseren Überblick über die vom Autor herangezogenen Materialien erlaubt hätte als das aufgenommene, unvollständige Siglenverzeichnis der abgekürzt zitierten Literatur oder die bibliographischen Hinweise am Ende der Biographien und in den Fußnoten.
Diese kritischen Bemerkungen können die Bedeutung der grundlegenden Studie jedoch nicht schmälern. Denn der Autor hat ein informatives, klar strukturiertes und gut lesbares Buch zur regionalen Demokratieentwicklung in Deutschland in den Revolutionsjahren 1848/49 geschrieben, das eine Fülle an neuen Erkenntnissen zur schlesischen Demokratie präsentiert: Darin werden die einzelnen Entwicklungsphasen des demokratischen Assoziationswesens und die große Vielfalt des Vereinslebens herausgearbeitet, die innerparteilichen Diskussionen und politischen Richtungskämpfe verfolgt, die Presseorgane betrachtet sowie zahlreiche Akteure der Demokratiebewegung in ihrem revolutionären Tun wie in ihren Lebensgeschichten vorgestellt. Damit ebnet diese regionalhistorische Studie, die von einer Übersicht über die demokratischen Lokalblätter und einem Personen- und Ortsnamenregister abgerundet wird, den Weg für weitere Forschungen zur Geschichte der 1848er Revolution in Schlesien. Gleichzeitig regt sie zu vergleichenden Untersuchungen mit anderen Provinzen Preußens, aber auch mit den bekannten Schwerpunkten der deutschen Revolution und Hochburgen der achtundvierziger Demokratie an und gibt obendrein noch den Anstoß, sich generell wieder mit der lohnenden Regional- und Demokratiegeschichte von 1848/49 zu beschäftigen.
Anmerkung:
[1] Vgl. etwa: Walter Schmidt u. a. (Hrsg.): Akteure eines Umbruchs. Männer und Frauen der Revolution von 1848/49, 4 Bde., Berlin 2003-2013; ders./ Helmut Bleiber (Hrsg.): Schlesien auf dem Weg in die bürgerliche Gesellschaft. Bewegungen und Protagonisten der schlesischen Demokratie im Umfeld von 1848, 2 Halbbde., Berlin 2007; Christian Gürtler: Vereine und nationale Bewegung in Breslau 1830-1871. Ein Beitrag Breslaus zur Bewegung für Freiheit und Demokratie in Deutschland, Frankfurt/ M. u. a. 2003. Einen knappen Überblick über die polnische Forschung gibt Schmidt in der Einleitung seines Werkes, 10-11.
Birgit Bublies-Godau