Frank Bösch / Jürgen Danyel (Hgg.): Zeitgeschichte. Konzepte und Methoden, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2012, 464 S., ISBN 978-3-525-30060-2, EUR 29,99
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Die Zeiten, in denen Zeithistoriker an deutschen Universitäten von Fachkollegen als bessere Journalisten belächelt wurden, gehören der Vergangenheit an. Lange galt die Zeitgeschichte als weitgehend theorie- und methodenfreie Zone. Viele zeitgeschichtliche Publikationen beinhalteten eine rein deskriptive Zusammenfassung riesiger Aktenbestände, der Einfluss von Zeitzeugen erschwerte zudem die kritische Distanz und Analyse von Erzählmustern und Perspektiven. Seit den 1990er Jahren hat sich dies grundlegend verändert. Gerade in den letzten Jahren ist ein deutliches Anwachsen des Theorie- und Methodenbewusstseins in der Zeitgeschichte feststellbar.
Der von Frank Bösch und Jürgen Danyel herausgegebene Sammelband vermittelt einen fundierten Überblick über die mannigfaltigen Methoden, Konzepte und Forschungsfelder der Zeitgeschichtsforschung. Bei den Autoren handelt es sich um renommierte Historiker und ausgewiesene Experten ihres Fachgebiets. Der Band ist in zwei Teile untergliedert: Im ersten Teil werden die Grundlagen der Zeitgeschichte in neun Beiträgen vorgestellt, der zweite Teil führt in dreizehn Beiträgen in die diversen Forschungsfelder der Zeitgeschichte ein. Der Sammelband basiert auf dem umfassenderen Internet-Portal Docupedia-Zeitgeschichte (http://www.docupedia.de). Mit dieser eher ungewöhnlichen Rückbindung des Internets an die Printmedien ist es den Herausgebern gelungen, die komplementäre Daseinsberechtigung beider beispielhaft vorzuführen.
In ihrem einführenden Beitrag stellen Frank Bösch und Jürgen Danyel fest, dass die Zeitgeschichte trotz ihres deutlich gewachsenen Methodenbewusstseins bisher kaum eigenständige theoretische und methodische Zugänge entwickelt habe. Zumeist handele es sich um einen Methodentransfer aus der Geschichte des 19. Jahrhunderts oder früherer Epochen. Eine Ausnahme bilde nur die Oral History, von der in den 1980er Jahren wichtige Forschungsimpulse ausgegangen seien. Gabriele Metzler skizziert die Problem- und Aufgabenfelder der Zeitgeschichte nach dem Ende des Zeitalters der Extreme. Statt der Betonung ideologischer Differenzen mit zuweilen politisch-pädagogischem Unterton gehe es heute um "politische, religiöse und ethnische Identitäts- und Alteritätskonstruktionen". (46)
Ein grundlegender und zunehmend wichtiger Bereich der Zeitgeschichte sind die Digital Humanities. Das World Wide Web hat die Verarbeitung und Erschließung von Informationen seit den 1990er Jahren revolutioniert, die Digitalisierung der Welt schreitet unaufhaltsam voran. Gerade für die Zeitgeschichte ergibt sich daraus laut Peter Haber die besondere Aufgabe, "die hermeneutischen Grundprinzipien des geschichtswissenschaftlichen Arbeitens neu zu hinterfragen". (55) In den letzten Jahren ist die Zahl hybrider Publikationen deutlich gestiegen. Neue Peer-Review-Verfahren im Bereich der elektronischen Medien haben dazu beigetragen, alte Vorurteile gegenüber dieser Publikationsform abzubauen und wissenschaftliche Qualitätsstandards zu sichern.
Mit dem in der Geschichtswissenschaft omnipräsenten Begriff der Zeit beschäftigt sich der Beitrag von Rüdiger Graf. Gerade für die Zeitgeschichte ist die Beschäftigung mit der Zeit noch weitgehend ein Desiderat. Die besondere Herausforderung besteht in der "Unabgeschlossenheit" der Zeitgeschichte, deren "Zeit und Zeitkonzeptionen [...] offener und vielgestaltiger (sind), weil ihre Zukunft unbekannter ist als die Zukunft zurückliegender Epochen". (108) Die Periodisierung des historischen Kontinuums ist laut Martin Sabrow eine der wichtigsten Aufgaben des Historikers. Die Bestimmung von Zäsuren als markante Schnittpunkte zwischen epochalen Phasen der Geschichte ist abhängig von der Perspektive des Deuters und daher oft umstritten. Im modernen Medienzeitalter werden epochale Zäsuren rasch ausgerufen und ebenso schnell wieder vergessen. Manche Zäsuren erweisen sich aber auch erst retrospektiv als relevant. In der Neuesten Geschichte geht man daher von einem sektoralen Zäsurbegriff aus, der einer Entkoppelung von allgemeiner Geschichte und persönlicher Lebensgeschichte besser gerecht wird. Bevorzugt werden seit der Zäsur von 1989/90 auch "weichere" Termini wie Kontinuität bzw. Diskontinuität. Als heuristisches Instrument bleiben historische Zäsuren auch weiterhin unverzichtbar, trotz der Problematik eines subjektiven, perspektivischen und sektoralen Zäsurbegriffs.
Weitere Beiträge des ersten Teils beschäftigen sich mit Theoriemodellen der Zeitgeschichte (Stefan Haas) sowie mit den Themen Historisierung (Pavel Kolár) und Authentizität (Achim Saupe). Der abschließende Beitrag von Christoph Cornelißen skizziert die Erinnerungskulturen, die sich seit den 1990er Jahren zu einem Leitbegriff der Kulturwissenschaften entwickelt haben.
Der zweite Teil beginnt mit einem Beitrag von Thomas Mergel zur "Kulturgeschichte der Politik", die als innovativer methodischer Ansatz auch in der Zeitgeschichte seit den 1990er Jahren erheblich an Bedeutung gewonnen hat. Die Analyse kommunikativer Prozesse und politischer Diskurse eröffnet neue Forschungsperspektiven. Dies gilt nicht zuletzt für traditionelle Forschungsfelder wie die Sozialgeschichte, deren "Überbetonung der Macht sozio-ökonomischer Strukturen" (216, Klaus Nathaus) von Vertretern der Kulturgeschichte seit langem kritisiert wird. Achim Landwehr sieht zahlreiche, bisher ungenutzte Möglichkeiten einer "kulturhistorischen Befragung" im "Ökonomischen wie im Sozialen". (327) Erste Ansätze zur Verbindung von Kultur- und Wirtschaftsgeschichte konnten nicht überzeugen (André Steiner). In dieser Hinsicht erfolgreicher sind die jungen Forschungsfelder Umweltgeschichte (Melanie Arndt) und Konsumgeschichte (Manuel Schramm). Letztere hat sogar zu paradigmatischen Veränderungen beigetragen, die "in der Abwendung vom produktionszentrierten Paradigma der älteren Sozial- und Gesellschaftsgeschichte hin zur Betonung von Kommerzialisierungsprozessen" bestehen. (261) Ein Paradigmenwechsel hat auch in der Militärgeschichte stattgefunden, deren Methodenpluralismus eine Fülle von Anschlussmöglichkeiten bietet (Jörg Echternkamp).
Von herausragender Relevanz für die Zeitgeschichtsforschung sind die Medien. Während sie anfänglich vor allem als Quellen zur Erforschung klassischer Politikfelder dienten, sind sie in den letzten Jahren selbst zum Forschungsobjekt der Mediengeschichte geworden (Frank Bösch/Annette Vowinckel). In diesem Zusammenhang haben auch die Bildquellen eine zunehmend wichtige Funktion, mit denen sich die "Visual History" befasst. Bilder sind Instrumente der Gemeinschafts- und Identitätsbildung und in der Lage, Realitäten in der Wahrnehmung der Menschen zu erzeugen (Gerhard Paul).
Weitere Beiträge des Sammelbandes behandeln die Geschlechtergeschichte (Claudia Kemper), die "Generationenforschung" (Ulrike Jureit) und "Begriffsgeschichte und Historische Semantik" (Kathrin Kollmeier). Am Schluss steht ein Beitrag von Philipp Gassert zur "Transnationalen Geschichte". Während die "Global" oder "World History" im angelsächsischen Raum fest etabliert ist, herrscht in der deutschen Geschichtswissenschaft die theoretische und methodische Debatte vor. Trotz lohnender Perspektiven ist der empirische Ertrag einstweilen noch gering.
Die klar strukturierten und gut lesbaren Beiträge des Sammelbandes bieten Studierenden und Dozenten einen ausgezeichneten Überblick über die methodischen Grundlagen und Konzepte der Zeitgeschichtsforschung. Der Band eignet sich gleichermaßen zum Selbststudium wie für den Einsatz im universitären Lehrbetrieb.
Ursula Rombeck-Jaschinski