Rezension über:

Michael Diers / Lars Blunck / Hans Ulrich Obrist (Hgg.): Das Interview. Formen und Foren des Künstlergesprächs (= Fundus-Bücher; Bd. 206), Hamburg: Philo & Philo Fine Arts 2013, 344 S., ISBN 978-3-86572-674-2, EUR 22,00
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Rezension von:
Grischka Petri
Kunsthistorisches Institut, Universität zu Köln
Redaktionelle Betreuung:
Stefan Gronert
Empfohlene Zitierweise:
Grischka Petri: Rezension von: Michael Diers / Lars Blunck / Hans Ulrich Obrist (Hgg.): Das Interview. Formen und Foren des Künstlergesprächs, Hamburg: Philo & Philo Fine Arts 2013, in: sehepunkte 13 (2013), Nr. 11 [15.11.2013], URL: https://www.sehepunkte.de
/2013/11/19856.html


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Michael Diers / Lars Blunck / Hans Ulrich Obrist (Hgg.): Das Interview

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"Damit unsere Diskussionen bequemer lesbar seien, werde ich sie lieber in dramatischer als in erzählender Form berichten", erklärte Cicero in der Einleitung zu den "Gesprächen in Tusculum". Er schätzte das Gespräch als die sokratische Methode der besseren Wahrheitsfindung, und etwas von dieser Wertschätzung ist wohl auch auf die Gattung des Interviews übergegangen, das keine Wahrheit, aber immerhin ein bisschen Authentizität verspricht. 2010 hatte es sich die Tagung "Interview | Conversation. Formen und Foren des Künstlergesprächs seit Vasari" an der Hamburger Hochschule für bildende Künste zum Ziel gesetzt, nach Geschichte, Funktion und Theorie des Künstlergesprächs zu fragen. [1] Der nun erschienene Tagungsband ist seinem Reihenformat gemäß gewohnt lesefreundlich gesetzt in der Janson Text und gewohnt tragbar im Kleinformat. Versammelt sind eine Einführung, elf Aufsätze und zwei aufgezeichnete Gespräche: Der rekursive Witz, Interviews in einem Band über das Interview einzuschließen, lag auf der Hand. Die Einführung von Lars Blunck und Michael Diers gibt einen Überblick über die Beiträge und setzt die unterschiedlich kritischen Beiträge zueinander in Beziehung.

Zwei Beiträge befassen sich mit der "Vorgeschichte des Künstlerinterviews" (22). Matteo Burionis Beitrag zeichnet nach, wie Michelangelo im Disput mit Giorgio Vasari und Pietro Aretino durch Installierung seiner autorisierten Biografie von Condivi der vertrauenswürdig mitgeteilten Selbstaussage des Künstlers eine herausgehobene Stellung verschaffte. Oskar Bätschmanns Aufsatz zu Benedetto Varchis Künstlerumfrage von 1547 unterstreicht die historische Bedeutung der Aufnahme des Dialogs zwischen Künstlern und Kunsttheoretikern (89). [2] Zwischen dem 16. und dem 20. Jahrhundert wird leider kein historischer Bogen geschlagen. André Félibiens Entretiens [3] werden zwar an mehreren Stellen als historische Station erwähnt, aber nicht in einem eigenen Beitrag gewürdigt. Bedauerlicherweise bleibt zwischen den Schlaglichtern des Bandes auch unausgeleuchtet, dass Interviews bereits im 19. Jahrhundert etabliert waren. Home stories von Künstlern zuhause und im Atelier waren schon damals populärer Lesestoff in europäischen wie amerikanischen Zeitschriften und nicht erst im frühen 20. Jahrhundert.

So wird der Faden der Geschichte des Interviews in diesem Band von Andreas Zeising erst mit den Künstlerinterviews im frühen Berliner Rundfunk der 1920er-Jahre aufgenommen. Die Entwicklung vom Format des Künstler-Radiovortrags zum Interview brachte eine größere Zuhörerschaft mit sich. Das Interview konnte allerdings mit verteilten Rollen schon im Vorhinein im Manuskript festgelegt sein (118ff.). Peter J. Schneemann thematisiert die Produktion von Quellenschriften in den USA der 1950er-Jahre. In dieser Blütezeit des Interviews werden Archiv und Oral History zu einer kunsthistorischen Autorität, beispielsweise in Projekten der Archives of American Art (134). Das Interview, in dem der Fragende immer Co-Autor ist, positioniert sich in einem Feld von geforderten Selbstauskünften bis zu Fragebögen und Statements mit Ghostwritern. Künstler reagieren, indem sie auf ihre Kunst zurück verweisen und positionieren sich gegenüber den Kritikern und Galeristen (138ff.).

In ihrem theoretisch-kritischen Beitrag erinnert Julia Gelshorn an drei wesentliche Funktionen des Künstlerinterviews: 1. Legitimation und Reflexion der Künstler-Rolle, 2. der im Dialogformat liegende Widerstand gegen tradierte Formen der Kunstkritik, und 3. die Vermarktung des Künstlers. Sie plädiert für die Lokalisierung des Interview-Formats in einem größeren diskursiven Feld, das Künstlerschriften und aktuelle Theorieproduktion einschließt (267-269). Drei Beiträge unternehmen hierzu einschlägige Fallanalysen. Hier stehen einzelne Künstler und deren Interviewstrategien im Fokus: Andy Warhol bei Philip Ursprung und Hubertus Butin, Marcel Duchamp bei Lars Blunck. Der Erfolg des Interviews verschiebt die Rezeptionsmuster: Authentizität wird nicht länger im Werk, sondern im Statement gesucht, dafür erschließen Interviews ein Publikum und erweitern den Zugang zum Markt (Ursprung, 155f.): Warhols Zeitschrift "inter/VIEW" wird bei Butin als Beispiel einer ertragreichen Investition nach den Regeln der Ökonomie der Aufmerksamkeitserzeugung präsentiert (214). Nicht umsonst berichtet Isabelle Graw in ihrem Beitrag, Ateliergespräche würden für die von ihr herausgegebenen "Texte zur Kunst" nicht geführt, da diese "generell unter Mystifizierungsverdacht" (284) stünden; Interviews bedienten perfekt den neuen Geist des Kapitalismus (287).

Zur Theorieproduktion gehören viele - zum Gespräch mindestens zwei. So nimmt Ursprung neben Warhol die Figur Harald Szeemanns in den Blick und stellt fest, dass der Kurator zunehmend die Kontrolle über das Künstlergespräch übernommen hat (159ff.). In der Tat: Der Initiator des seit über zwanzig Jahren betriebenen "Interview Project", Hans Ulrich Obrist, ist selbst Kurator. [4] Obrist hat sich mit der Enteignung von Maurice Blanchots "L'entretien infini" (1968) in der englischen Übersetzung (1993) als "infinite conversation" selbst seine Marke geschaffen und wendet sie auch in seinem Beitrag zu diesem Band an. [5] Diers greift diese Wendung gleichfalls auf (sein Aufsatz erschien erstmals in einem von Obrists Interviewbänden). Eine vertiefte Auseinandersetzung mit den Diskursverhältnissen dieser heutigen Interviewpraxis bleibt indes aus. Wenn also neben dem abschließenden Gespräch der drei Herausgeber auch ein weiteres zwischen Hans Ulrich Obrist und Tacita Dean nachzulesen ist, stellt sich der Band trotz der einzelnen kritischen Beiträge über weite Strecken als kuratierter Kommentar zu Obrists Interview-Projekt dar, wenn nicht gar als dessen Erweiterung.

Dennoch scheint bei einigen Autoren des Bandes Kritik an der Praxis ihres Mitherausgebers auf, und hier entfaltet der Band sein bestes kritisches Potential, indem er in seinen Gegensätzen und unterschiedlichen Reflexionen Anlass zum Nachdenken gibt. Wie Blunck festhält, sollten im Zusammenhang des Künstlerinterviews nicht nur die Diskursstrategien auf Seiten des Künstlers untersucht werden, sondern auch auf Seiten des Interviewenden (187). Julia Gelshorn widmet sich in ihrem Beitrag denn auch (u. a.) Obrists Interviewpraxis, der "jegliche kritische Reflexion über ihre Form der Komplizenschaft fehlt" (275). Die praktische Dimension dieses Problems greift Isabelle Graw als eine Art Empfehlung für zu führende Interviews auf, indem sie vorschlägt, dem sachlichen Dissens mehr Platz zulasten des gegenseitigen Sich-Abfeierns zuzugestehen (299).

Eine Bereicherung des Bandes wäre trotz der Fokussierung der Tagung auf das Künstlerinterview ein literaturwissenschaftlicher Beitrag gewesen, der die Facetten zwischen Interview, Entretien, Conversation, Gespräch und anderen Begriffen schärfer hätte konturieren können. [6] Der Duchamp-Beitrag von Lars Blunck nimmt dankenswerterweise Bezug auf solcherlei Differenzierungen. Dennoch macht der Band deutlich, dass diese Bezeichnungen keineswegs deckungsgleich in ihrer Bedeutung sind. Die Lektüre erneuert das Bewusstsein dafür, dass Interviews "complicated evidence" (William Seitz, zit. bei Schneemann, 144) sind. Künstler im Interview sind oft lügende Kreter auf Kreta. Das gleiche gilt jedoch auch für die Interviewer. Das Thema harrt noch einer systematisch-theoretischen Aufarbeitung. Der Tagungsband bietet hierzu vielfältige Ansätze. Freilich deutet er das vorhandene kritische Potential nur an, nicht aus.


Anmerkungen:

[1] Das Tagungsprogramm ist noch (Stand Oktober 2013) auf den Seiten der HfbK abrufbar: http://www.hfbk-hamburg.de/?id=878, ferner archiviert bei http://h-net.msu.edu/cgi-bin/logbrowse.pl?trx=vx&list=H-ArtHist&month=1006&week=a&msg=KUEQAiFYfcvQjTGbPZeQ5Q. Die Eröffnung durch Martin Koettering und der Einführungsvortrag von Michael Diers sind als Videos hinterlegt bei http://www.whitetube.de/2010/06/.

[2] Zum Thema von Bätschmanns Aufsatz siehe nunmehr die kommentierte Neuausgabe und Übersetzung von Benedetto Varchi: Paragone - Rangstreit der Künste, hg. von Oskar Bätschmann / Tristan Weddigen, Darmstadt 2013.

[3] André Félibien: Entretiens sur les vies et sur les ouvrages des plus excellens peintres anciens et modernes, 5 Bde., Paris 1666-85. Digitalisate sind abrufbar an der Universitätsbibliothek Düsseldorf, http://digital.ub.uni-duesseldorf.de/urn/urn:nbn:de:hbz:061:1-118274, und der Bibliothèque nationale de France, http://gallica.bnf.fr.

[4] Die Archivierung der Interviewaufzeichnungen wird vom Institute of the 21st Century unterstützt; http:// http://www.i21c.org/.

[5] Wiederabdruck aus Dora Imhof / Sibylle Omlin (Hgg.): Interviews. Oral History in Kunstwissenschaft und Kunst, München 2010.

[6] Vgl. etwa Martin Kött: Das Interview in der französischen Presse: Geschichte und Gegenwart einer journalistischen Textsorte, Tübingen 2004.

Grischka Petri