Heinz Duchhardt / Martin Espenhorst (Hgg.): August Ludwig (von) Schlözer in Europa (= Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz. Abt. für Universalgeschichte; Beiheft 86), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2012, 272 S., ISBN 978-3-525-10103-2, EUR 49,95
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Zum Anspruch der historischen Wissenschaften an die eigene Forschungstätigkeit muss immer auch eine Selbstverständigung über die eigene (Fach-) Geschichte gehören. Nicht zuletzt im Zuge der kulturwissenschaftlichen Neuorientierung zählt daher die Berufung auf Traditionen der (Kultur-) Geschichtsschreibung zu den Verfahren, die eigene Genealogie aufzuarbeiten und einzuholen. Wie Silvia Serena Tschopp allerdings schon 2009 in einer kulturgeschichtlichen Zwischenbilanz beklagt hat [1], bleibt die ältere Kulturgeschichte 'vor der Kulturgeschichte', diejenige des 18. Jahrhunderts, meist unerwähnt oder nur sehr sporadisch rezipiert und damit werden sowohl methodologische als auch kulturtheoretische Potenziale verschenkt. Insofern ist es zu begrüßen, dass Denker und Autoren der genannten Epoche neuerdings doch wieder verstärkt in den Fokus rücken. [2]
Zu den bedeutenderen Aufklärungshistoriographen zählt August Ludwig (von) Schlözer. Diesem war zu seinem 200sten Todestag eine Tagung des Mainzer Instituts für Europäische Geschichte gewidmet, deren Vorträge den Aufsätzen des hier besprochenen Bandes zugrunde liegen. Aus den angesprochenen Gründen ist eine Beschäftigung mit Figuren wie Schlözer nicht nur interessant, sondern als Baustein zu einer Selbstverständigung der historischen Kulturwissenschaften geradezu geboten. Der Fokus bei der vorliegenden Besprechung liegt auf dieser Perspektive eines reflexiven Ertrags für die kulturwissenschaftliche Selbstverständigung. Gerade bei der dezidierten Auszeichnung Schlözers als Europäer, die die Herausgeber durch Titelwahl und Einleitung vorgeben, ist diese Perspektive auf Bezüge zur kulturgeschichtlichen Erfassung der Kontexte wie zur Reflexion der Methoden und der Geschichte der Erforschung des gesamten Bereichs menschlicher symbolischer Erfahrung berechtigt.
Der Band enthält neben einer kurzen Einleitung fünf Sektionen, die Schlözer als Slawisten und Osteuropahistoriker, als Staatsrechtler und Politologen und als Publizisten thematisieren sowie weitere Dimensionen seines Werkes und seiner Biographie in den Blick nehmen. Damit wird die Breite der Tätigkeiten und des Werkes in wichtigen Aspekten erfasst. Die einzelnen Aufsätze präsentieren und diskutieren in teils sehr informativer und akribischer Rekonstruktion unterschiedliche Aspekte von Schlözers Werk und Wirkung. Vorgeschaltet ist ein Artikel des Aufklärungshistorikers und Geschichtstheoretikers Ulrich Muhlack. Er sieht die Frage nach der Einheit dieses Werks im Habitus eines Aufklärers beantwortet, der Wissenschaft nicht so sehr aus Interesse an den Dingen selbst betrieb, sondern für den die vermittelnde Tätigkeit in Wissenschaft, Lehre und Publikationen aus "einem sozusagen existenziellen Bedürfnis entsprang" (16).
An dieser Deutung lässt sich festmachen, was aus kulturwissenschaftlicher Sicht häufiger zu bemerken ist: Es werden interessante Beobachtungen und Interpretationen formuliert, es wird über handelnde Personen und ihre wissenschaftlichen Werke und Ansichten geschrieben, es unterbleibt aber zumeist eine zusätzliche Fokussierung der ermöglichenden Bedingungen, der diskursiven Einbindungen und Verflechtungen mit der Wissens- und allgemeinen Kultur der Zeit. Bei aller Akribie bleiben die Aufsätze nicht selten bei Schlözer selbst stehen, setzen ihn zu denen in Beziehung, mit denen er korrespondiert, kooperiert oder polemisiert hat - aber das alles stets nur im Rahmen einer personen- oder werkzentrierten Perspektive. Wichtig wird dann gelegentlich, was andere zu oder über Schlözer sagen und schreiben, doch werden diese Kommentare nicht auf allgemeine Diskurszusammenhänge hin überschritten. Auch wenn der Herausgeber Martin Espenhorst, selbst Verfasser einer Monographie zu Schlözer [3], in der Einleitung schreibt: "Schlözer [...] repräsentierte einen Wissenschaftlertyp, der seine Prioritäten auf das disziplinierte Erkunden (kultur-)historischer Fakten und auf die Datenbeschaffung setzte, nicht auf ihre poetische Ausgestaltung." (3), hätte man auch hier gerne gewusst, was genau das heißt und was daraus folgt, wo er mit dieser Typik innerhalb der Wissenschaftslandschaft und der gelehrten Öffentlichkeit stand und ähnliches mehr. Für Fragen nach der Klassifikation der Schlözerschen Texte im zeitgenössischen Diskurs, nach Spezifik und Konvergenz, nach Kulturbegriff und Geschichtsverständnis, nach der Typik der Verbindung von historiographischem Selbstverständnis, aufklärerischem Humanismus, medialer Proliferation und politisch-institutionellen Interessen wird so allenfalls ein - wenn auch breites - Fundament gelegt, die Fragen selbst werden nur gestreift.
So lernt man durchaus viel über Schlözer: über seine slawenkundlichen Schriften und deren vorrangig klassifikatorische Methodik bei Reinhard Lauer, über seinen Zugang zu den slawischen Sprachen und seine sprachwissenschaftlichen Schriften bei Helmut Keipert, über seine finnougrischen Studien und die auf Ungarn bezogenen historischen und politischen Schriften im Beitrag von Annamária Biró. Ertragreicher für allgemeinere Fragestellungen ist der Aufsatz von Merio Scattola, der Schlözers Rolle für die politische Kommunikation seiner Zeit und die Wissenschaftsgeschichte der Politik herausarbeitet. Schlözers Versuch, Geschichte nicht bloß als Aggregat, sondern als System zu konstruieren, fügt sich dann einerseits ein in staatstheoretisch-naturrechtliche Diskurse seit Hobbes. Hier hat Schlözer mit seiner Idee der Metapolitik eine Sphäre des genuin Politischen eröffnet. Andererseits werden die geschichtstheoretischen Elemente einer historischen Epistemologie wiederum nur angerissen beziehungsweise auf die 'statistische' Beschreibung der Staatsmerkwürdigkeiten beschränkt. Dabei handelt es sich zweifellos um einen bedeutenden methodologischen Beitrag Schlözers. Was das aber für das Staatsverständnis und die Epistemologie der Analyse desselben bedeutet - und welche Einflüsse Schlözers Ideen hatten, auf welches diskursive Entgegenkommen sie zählen konnten und ähnliches -, wird wiederum nur angerissen. Die politischen Präferenzen Schlözers und seine Einschätzung der Reichsverfassung analysiert Wolfgang Burgdorf und stellt dabei besonders die von Schlözer geschätzte "Deutsche Freiheit" heraus. Ansätze zu einer Mediengeschichte vor allem des Zeitunglesens finden sich bei Holger Böning, der neben einer Rekonstruktion von Schlözers eigener Lektüre- und Publikationstätigkeit analysiert, wie dieser die Zeitungslektüre und die publizistische Öffentlichkeit als wissenschaftliches Hilfsmittel wie als Bildungsmittel für höherer wie breiterer Stände propagiert. Für die Mentalitätsgeschichte der Spätaufklärung relevant ist auch die von Thomas Nicklas rekonstruierte Berichterstattung über einen 1781 erhängt aufgefundenen Landgeistlichen als Beispiel dafür, wie Schlözers StatsAnzeigen zu einem "Forum für provinzielle Intriganten" (162) wurde - die kurhannoversche Pressefreiheit wird auch von Schlözer genutzt, um im Rahmen einer grundsätzlichen Zustimmung zur aufgeklärten Monarchie Wahrheiten vor allem gegen politisch restaurative Kräfte zu artikulieren.
Der Beitrag über Schlözers Verständnis von Vor- und Frühgeschichte von Helmut Zedelmaier dagegen - der Autor fehlt im Autorenverzeichnis - vermag den Schritt aus der personengebundenen Perspektive gelungen zu vollziehen: die Analyse von Schlözers epochalen Setzungen und inhaltlichen Ausführungen ebenso wie in seinen methodischen Entscheidungen wird zugleich wissenschafts- und kulturgeschichtlich kontextualisiert und auf das Selbstverständnis der damaligen wie ansatzweise der späteren Historiographie hin überschritten. Martin Espenhorst arbeitet Schlözers Vorstellungen - typologischer wie realhistorischer Art - über das, was die Europäer ausmacht, heraus. Als bestimmendes Merkmal erscheint dabei die Mobilität - im Sinne sowohl der Beweglichkeit wie auch der Fähigkeit, Bestehendes neu zu verbinden. Europäisch zu sein wird so zu einer Geisteshaltung, die "Schnittstellen" (210) öffnen und "neue Transfers und Zusammenhänge schaffen" (211) kann. In der Sache ist diese Reflexion auf die Konstruktion kultureller Identitäten informativ und vielfältig anschlussfähig, auch wenn wiederum der Fokus recht deutlich auf den zu rekonstruierenden Inhalten bei Schlözer selbst liegt. Schlözers Selbstverständnis als "aufgeklärter Christ" (224) analysiert Rainer Vinke, dabei die Kontextualisierung zur zeitgenössischen Theologie und zu Anliegen und Tendenzen der Aufklärung zumindest in den Blick nehmend. Dass in den beiden abschließenden, dezidiert biographischen Aufsätzen von Jürgen Voss über die Bedeutung Frankreichs für Schlözer und von Thomas Henkel über Schlözers Korrespondenz weiterführende Überlegungen nicht im Zentrum stehen, ist wenn auch nicht zwingend, so doch nachvollziehbar.
Abschließend lässt sich aus einer dezidiert historisch-kulturwissenschaftlichen Perspektive - und eine solche soll hier vorrangig eingenommen werden - der vorliegende Band als detailreiche und mit profunden Befunden aufwartende Auseinandersetzung mit einer prägenden Figur der Spätaufklärung durchaus positiv bewerten. Zur weitergehenden Beschäftigung und zur kulturgeschichtlichen Kontextualisierung des seinerzeit äußerst bekannten Historikers und Publizisten, a forteriori zu dessen Würdigung im Rahmen einer Rekonstruktion der historisch-kulturwissenschaftlichen Genealogie, kann er allerdings eher Baustein als Abschluss sein.
Anmerkungen:
[1] Silvia Serena Tschopp: Die Neue Kulturgeschichte. Eine (Zwischen-) Bilanz, in: HZ 289 (2009), 573-605.
[2] Martin Gierl: Geschichte als präzisierte Wissenschaft. Johann Christoph Gatterer und die Historiographie des 18. Jahrhunderts im ganzen Umfang, Stuttgart / Bad Cannstatt 2012.
[3] Martin Peters: Altes Reich und Europa. Der Historiker, Statistiker und Publizist August Ludwig (v.) Schlözer (1735-1809), Münster (2003, 22005).
Andreas Hütig