Markus Friedrich: Die Geburt des Archivs. Eine Wissensgeschichte, München: Oldenbourg 2013, 320 S., 20 s/w-Abb., ISBN 978-3-486-74595-5, EUR 39,80
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"Die Geburt des Archivs. Eine Wissensgeschichte": Ober- und Untertitel lassen keinen Zweifel daran, aus welcher Perspektive Markus Friedrich das frühneuzeitliche Archivwesen in den Blick nimmt. Auch im Inhaltsverzeichnis ist der kulturwissenschaftliche (An-)Klang vieler Formulierungen unüberhörbar. Wem dieser 'Sound' schrill in den Ohren klingt, sollte das Buch dennoch nicht beiseite legen. Das wäre ein Fehler. Ohnehin verzichtet der Autor nicht nur weitgehend auf den typischen Jargon, sondern schreibt flüssig, ja spannend. Gegenüber dem in den Kulturwissenschaften ebenso inflationär wie häufig uninformierten Gerede über das 'Archiv' stellt er mit Recht heraus, dass der dort gepflegte metaphorische Archivbegriff zum Verständnis der Institution Archiv wenig hilfreich sei (21-23).
Entsprechend seiner kulturwissenschaftlich-wissensgeschichtlichen Perspektive bietet das Buch keinen topografisch und chronologisch geordneten Überblick über die europäische Archivlandschaft der frühen Neuzeit. Von einem derartigen institutionengeschichtlichen Zugang setzt es sich explizit ab (17). Vielmehr geht es ihm, kurz gesagt, um "das Archivieren als kulturelle Praxis", wie eine Formulierung lautet, die der Autor in anderem Zusammenhang verwendet (280). Aus dieser Perspektive untersucht es nach einer Thematik und Methodik der Untersuchung klar umreißenden Einleitung (11-29) das zu archivierende Schriftgut (31-49), die Institutionalisierung von Archiven (51-87), ihre Unterbringung (159-191), die theoretische Befassung mit den Archiven (89-119), die Archivare (121-157) sowie die Archivbenutzung - und zwar die administrativ-juristische (193-229) wie die geschichtswissenschaftliche (231-276). Letztere leitet über zu dem Epilog "Das vormoderne und das moderne Archiv" (277-281).
Der Horizont des Werkes ist europäisch mit einem "Schwerpunkt auf Frankreich und Deutschland" (26). Die Argumentation entwickelt ihre Aussagen aus der exemplarischen Schilderung aussagekräftiger Einzelfälle, die es erlauben, ins Detail zu gehen, und die den allgemeinen Aussagen konkrete Anschaulichkeit, der Darstellung insgesamt Farbe verleihen. Sie ruht auf einem breiten Fundament von Sekundärliteratur, modernen Editionen, zeitgenössischen Traktaten und nicht zuletzt - besonders in den exemplarischen Fallgeschichten - den Archivalien selbst. Seine Quellen lässt der Autor in gut gewählten Zitaten zu Wort kommen. Da, wo es sich anbietet, setzt er zudem Abbildungen ein.
Der Leser wird sich allerdings fragen, warum ein Werk, das sich mit dem Archivwesen in der frühen Neuzeit beschäftigt, den Titel "Die Geburt des Archivs" trägt. Natürlich behauptet der Autor nicht, Archive seien erst in dieser Zeit entstanden. Auch die recht holzschnittartige Erklärung auf der Einbandrückseite, die suggeriert, Archive seien in der frühen Neuzeit erst sesshaft geworden, liest sich im Buch wesentlich differenzierter (52-53). Als spezifisch neuzeitlich wird schließlich das an der 1571 einsetzenden Publikation archivtheoretischer Literatur ablesbare "selbstreflexive Nachdenken von Archivverwaltern und -benutzern" herausgestellt (24-25). So recht ernst als epochales Datum nimmt der Autor dieses Jahr jedoch nicht, lässt er doch wiederholt und aus guten Gründen seine Ausführung tief im Mittelalter beginnen.
Die Konzeption der Archivgeschichte als Wissensgeschichte und die begrüßenswerte Vermeidung einer normativ-teleologischen Perspektive (20), die sich in einer dezidierten Abwendung von der bisher vor allem von Archivaren betriebenen Archivgeschichtsschreibung äußert (19-21), hat ihre Konsequenzen. Dass der Autor weitestgehend auf archivtheoretische Fachbegriffe verzichtet (selbst das Wort 'Provenienzprinzip', das Schibboleth der Archivare, taucht, wenn der Rezensent es nicht überlesen hat, kein einziges Mal auf), ist mit Blick auf ein breiteres Publikum zwar zu begrüßen, allerdings hätte der eine oder andere Aspekt durch ihre Benutzung vielleicht schärfer herausgearbeitet werden können.
Das Verständnis der Archive als "Wissensorte" (15-17) scheint zudem in der Darstellung zu einem gewissen Übergewicht ihrer geschichtswissenschaftlichen über ihre administrativ-juristische Nutzung geführt zu haben. Ohne dem Autor in seiner Meinung, diese Dichotomie sei problematisch (24), widersprechen zu wollen, und trotz Würdigung seiner Hervorhebung historiografisch motivierter Archivarbeit lange vor Ranke möchte der Rezensent doch den heuristischen Wert dieser Unterscheidung betonen. Die unterschiedlichen Nutzungen konnten schließlich unterschiedliche Bewertungen und Ordnungen des Archivguts nach sich ziehen. [1] So lässt sich fragen, ob Friedrich den Bruch in der Archivgeschichte um 1800 nicht doch zu sehr relativiert. Dass er sich damit zugleich von "verwaltungsgeschichtliche[n] Perspektiven" (20) auf die Archivgeschichte distanziert, ist bedauerlich bei einem Autor, der zu einer Ausweitung dieser Perspektiven wohl einiges beizutragen hätte. [2]
Damit hängt ein weiterer Punkt zusammen: Das erste Kapitel behandelt zwar das zu archivierende (amtliche) Schriftgut - allerdings nur für das Mittelalter (eine Zeit, in welcher der Frühneuzeithistoriker Friedrich erkennbar nicht ganz heimisch ist). Paradoxerweise bricht die Darstellung des Schriftguts in dem Zeitraum ab, mit dem die Darstellung der Archivgeschichte eigentlich einsetzt. Das ist zweifellos ein Reflex der Forschungssituation. Für die (frühe) Neuzeit fehlt eine Untersuchung, wie sie Michael Clanchy für das hochmittelalterliche England vorgelegt hat (um nur ein prominentes Beispiel zu zitieren). [3] Und es fehlt nicht nur an einer synthetisierenden Zusammenschau, sondern weitgehend auch an der dafür grundlegenden Detailforschung. Ein derartiges Desiderat ist von einer Darstellung des Zuschnitts, wie sie der Autor vorgelegt hat, jedoch nicht zu beheben.
Trotz dieser kritischen Bemerkungen bietet das Buch von Markus Friedrich eine lohnende Lektüre: klug disponiert, lehrreich und streckenweise spannend zu lesen, anregend auch dort, wo man dem Autor nicht zustimmen möchte. Es bereichert die Archivgeschichte um eine kulturwissenschaftliche Perspektive, ohne in deren Jargon und Einseitigkeiten zu verfallen.
Anmerkungen:
[1] Dies zeigen in geradezu emblematischer Prägnanz zwei Archivvermerke auf der Rückseite einer Urkunde aus dem ehemaligen Staatsarchiv Königsberg (GStA PK, XX. HA, Pergamenturkunden, Schiebl. XVII, Nr. 139): Ein frühneuzeitlicher Archivar hatte statt eines Kurzregests vermerkt: "Nichts nutz". Sein Kollege aus dem 19. Jahrhundert hat das kommentiert: "si tacuisses ..." ("Wenn du geschwiegen hättest, [wärest du Philosoph geblieben.]"). Ein Stück, dessen rechtlicher Inhalt obsolet geworden war, gewann als Geschichtsquelle erneut Bedeutung.
[2] Vgl. etwa den von ihm mitherausgegebenen Sammelband: Arndt Brendecke / Markus Friedrich / Susanne Friedrich (Hgg.): Information in der Frühen Neuzeit. Status, Bestände, Strategien (= Pluralisierung & Autorität; Bd. 16), Münster 2008.
[3] Michael T. Clanchy: From Memory to Written Record. England 1066-1307, 2. Aufl. Oxford 1993.
Stephan Waldhoff