Andreas Odenthal: Liturgie vom Frühen Mittelalter zum Zeitalter der Konfessionalisierung. Studien zur Geschichte des Gottesdienstes (= Spätmittelalter, Humanismus, Reformation; 61), Tübingen: Mohr Siebeck 2011, XVIII + 430 S., ISBN 978-3-16-150941-4, EUR 99,00
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Der anzuzeigende Band vereinigt ein Dutzend Aufsätze des noch recht jungen katholischen Tübinger Liturgiewissenschaftlers Andreas Odenthal. "Gut zehn Jahre der Lehrtätigkeit im Fach Liturgiewissenschaft und gut zwanzig Jahre eigener Forschungstätigkeit" (V), so umschreibt der Autor selbst die Spanne seines Publizierens. Die ausgewählten Studien stammen allerdings ausnahmslos aus dem letzten Jahrzehnt, zwei von ihnen sind sogar erst 2011 erstmals publiziert worden. Ist das nicht etwas früh für einen Aufsatzband, wie er früher eher gegen Ende eines Gelehrtenlebens zu erscheinen pflegte? Ein Blick in das Buch bringt den skeptischen Fragesteller jedoch zum Schweigen und die Aktualität der Beiträge wird wohl niemand als Nachteil empfinden. Dass der Band mehr ist als eine Buchbindersynthese, zeigt er bereits formal durch die konsequente Umstellung der Literaturangaben auf Kurztitel, die auf ein gemeinsames Literaturverzeichnis verweisen, sowie durch ein Register der Namen, Orte und Sachen.
Nach einer Einleitung, die den Aufbau des Bandes erläutert (2-14), folgen sieben Beiträge zum Mittelalter und fünf zum konfessionellen Zeitalter. Hervorgehoben sei die erste Studie zum Mittelalter, die sich dem frühmittelalterlichen so genannten "Rheinischen Messordo" widmet (16-49). Dieser Messordo (wenn es denn tatsächlich einer ist) zeichnet sich dadurch aus, dass er in den ausführlich geschilderten Ablauf der liturgischen Feier immer wieder persönliche Gebete einfügt, die der zelebrierende Priester vor bestimmten Handlungen beten sollte oder wenn er gerade liturgisch nicht handelte, also etwa während der Chor sang oder der Diakon das Evangelium vortrug. Bemerkenswert an diesen Gebeten ist der starke Akzent, den sie auf Reue und Vergebung legen. Sie sollten den sündhaften Zelebranten bei dem gefährlichen Kontakt mit dem Heiligen schützen. So illustrieren sie den massiven mentalen Bruch im Verständnis der Eucharistiefeier zwischen Alter Kirche und Mittelalter, den der Autor im Anschluss an die Studien von Arnold Angenendt herausarbeitet. [1]
Dieser Aufsatz ist insofern typisch für die übrigen Beiträge, als er interdisziplinär vorgeht und die "erlebte Liturgie" (160 u. ö.) ins Auge fasst, das heißt danach fragt, wie Gottesdienste tatsächlich gefeiert worden sind und wie ihre Feier von den Teilnehmenden wahrgenommen wurde. Er ist insofern untypisch, als er nicht mit jener Quellengattung arbeitet, die der Mehrzahl der Studien zugrunde liegt, jener der Libri Ordinarii. Der Liber Ordinarius war seit dem hohen Mittelalter das "Regiebuch" für die elaborierte Liturgie vor allem an Bischofs- und Stiftskirchen. Eine derartige Quelle erlaubt tiefe Einblicke in die liturgische Praxis ("erlebte Liturgie") unter Berücksichtigung der baulichen Gegebenheiten - in einer bestimmten Kirche innerhalb eines bestimmten Zeitraums.
Die bereits vorgestellte Untersuchung zum "Rheinischen Messordo", eine sich anschließende Studie zum Vollzug der Liturgie im Frühmittelalter am Beispiel des Bischofs Meinwerk von Paderborn (50-73) und der die dem Mittelalter gewidmeten Beiträge abschließende Überblick über die Liturgie der Pfarrkirche (159-206) klammern vier Studien ein, welche die Libri Ordinarii unter verschiedenen Fragestellungen auswerten. Abgesehen von der Darstellung der Feier des triduum sacrum (Gründonnerstag bis Karsamstag) im Halberstädter Dom (74-102) gelten diese Studien Kirchen in Odenthals Heimatstadt Köln. Dabei kommt mit den Stationsgottesdiensten ein Element der stadtrömischen Liturgie zur Sprache, das durch die "bonifatianisch-karolingische Liturgiereform" (Angenendt) mit den römischen Liturgiebüchern in den Norden gekommen ist: Die Integration der verschiedenen Kirchen im Stadtgebiet in eine Liturgie, um so die Einheit der städtischen Christengemeinde zu versinnbildlichen (103-124).
Von den fünf Beiträgen zur frühneuzeitlichen Liturgiegeschichte beruhen vier ebenfalls auf der Auswertung von Libri Ordinarii. Das mag zunächst erstaunen, denn sämtliche fünf Studien sind dem Stundengebet in der lutherischen Kirche gewidmet. Nach einem einleitenden Aufsatz über Luthers Stellung zum Stundengebet (208-250) untersucht Odenthal die jeweils unterschiedlich austarierte Mischung von weitergeführter mittelalterlicher Tradition und neuen Ansprüchen reformatorischer Theologie in den lutherisch gewordenen Domkapiteln des mitteldeutschen Raumes (251-282) im allgemeinen und besonders von Havelberg (283-312) und Naumburg (338-364) und im gemischtkonfessionellen Kapitel des Halberstädter Doms (313-337). Die Spanne reicht dabei von der selektiven Weiterbenutzung mittelalterlicher Liturgiekodizes bis zur Kreation neuer, die reformatorischen Ansprüche an das Stundengebet verarbeitender Bücher noch zum Ende des 18. Jahrhunderts.
Die geschilderten Charakteristika der Libri Ordinarii bestimmen auch den Charakter der gesammelten Studien. Die meisten der Beiträge gehen von der konkreten liturgischen Praxis einer bestimmten (Stifts- oder Bischofs-)Kirche aus. Sie greifen dazu in hohem Maße auf mittelalterliche und frühneuzeitliche Handschriften zurück (ein Merkmal, das in der deutschsprachigen liturgiegeschichtlichen Forschung erstaunlich selten anzutreffen ist). Obwohl der Ausgangspunkt dieser Studien zumeist die Untersuchung einer ganz bestimmten ortskirchlichen Liturgie ist, bleiben sie nicht in der Schilderung des Einzelfalls stehen, sondern gehen von übergreifenden Fragestellungen aus oder laufen auf diese zu.
Aber, so könnte man fragen, ist ein Buch, das sich der "Liturgie vom Frühen Mittelalter zum Zeitalter der Konfessionalisierung" widmet, in einer Reihe, die "Spätmittelalter, Humanismus, Reformation" im Titel trägt, am richtigen Platz? Die Antwort lautet ja, denn Odenthals Studien zur mittelalterlichen Liturgie betreffen nicht zuletzt jene Aspekte, in denen sie sich von der altkirchlichen unterschied und in denen sie die Kritik der Reformatoren auf sich zog. Was die von ihm in den Blick genommenen Veränderungen des frühen Mittelalters auszeichnet, ist, dass sie sich nicht auf einer theoretisch-theologischen Ebene vollzogen haben, daher bei einer dogmengeschichtlichen 'Höhenwanderung' nicht in den Blick kommen, und schließlich auch kaum in den Gebetstexten der liturgischen Bücher sichtbar werden, aber im alltäglichen Vollzug des Gottesdienstes und in seinem Verständnis tiefe Spuren hinterlassen haben, wie sie sich durch den "Rheinischen Messordo" oder die Libri Ordinarii erschließen lassen. Deshalb ist es zu begrüßen, dass der Band nicht in einer liturgiewissenschaftlichen Reihe erschienen ist, sondern in einer, in der ihn hoffentlich auch Reformationshistoriker zur Kenntnis nehmen.
Anmerkung:
[1] Die wichtigsten Beiträge jetzt gesammelt in: Arnold Angenendt: Liturgie im Mittelalter. Ausgewählte Aufsätze zum 70. Geburtstag, hg. von Thomas Flammer und Daniel Meyer (= Ästhetik - Theologie - Liturgik, 35), Münster, 2. Aufl. 2005.
Stephan Waldhoff