Michael Braun: Wem gehört die Geschichte? Erinnerungskultur in Literatur und Film, Münster: Aschendorff 2013, 208 S., ISBN 978-3-402-12994-4, EUR 12,80
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Erinnerungskultur erlebt derzeit eine Blüte - das Wissen um die Macht der Erinnerungen für Identitätskonstruktionen hat sich in der Wissenschaft längst durchgesetzt. Nachdem die Forschung sich zunächst besonders der Rolle von Politik in Erinnerungsprozessen widmete, rücken in jüngster Zeit einzelne Personen, Familien und Massenmedien ins Zentrum des Interesses.
Letzteren widmet sich Michael Braun in seinem Buch; er untersucht, wie Film und Literatur mit Erinnerungen umgehen, aus ihnen entstehen und sie prägen. Der Autor beschränkt sich dabei auf die Themenfelder Zweiter Weltkrieg und DDR und stellt seinem Band eine Einführung zum Stand der Erinnerungskultur in Deutschland 2012 voran. Hier stehen neben der Frage, wer entscheidet, wie mit der Erinnerung umgegangen wird, vor allem die Leitfragen der Erinnerungskultur im Mittelpunkt. Diese Fragen drehen sich darum, wer sich wann, wie, wo erinnert. Autoren der Erinnerung lassen sich dabei in Primär-, Sekundär- und Tertiärzeugen einteilen, die der entsprechenden Erinnerungsgeneration entstammen. Primärzeugen haben die Ereignisse, an die sie sich erinnern, selbst erlebt, die Sekundärzeugen hatten die Gelegenheit, mit Primärzeugen zu sprechen, wohingegen den Tertiärzeugen die Erinnerung nur mittelbar durch den Unterricht in der Schule, durch Filme oder durch Hörensagen vermittelt wurde. Aus diesen drei Generationen rekrutieren sich die Regisseure und Autoren, deren Werke Braun im Folgenden kurz vorstellt.
Die Schriftsteller Günter Grass und Walter Kempowski führt Michael Braun als Beispiele für die Auseinandersetzung mit der NS-Zeit in der Erinnerungsliteratur ein. Besonders in Grass' Werk Im Krebsgang (2002) lässt sich der Umgang dreier Generationen mit einem Ereignis, nämlich dem Untergang der "Wilhelm Gustloff" ablesen. Die Hauptprotagonisten der jeweiligen Generation entsprechen den Autoren der Erinnerung, die Braun vorher beschrieben hat: die Großmutter, die in der Nacht des Untergangs ihren Sohn in einem der Rettungsboote zur Welt bringt, der Sohn, der ihre erzählten Erinnerungen niederschreibt, und der Enkel, der stark revisionistische Ansichten vertritt. Neben diese imaginäre Generationenkonstellation treten drei weitere historische Figuren, die Sieger und Verlierer, Täter und Opfer zugleich sind: Wilhelm Gustloff, sein Attentäter David Frankfurter und Alexander Marinesko, der Kommandant des U-Boots, das die "Wilhelm Gustloff" versenkte. In Grass' Werk tritt die Erinnerungsdifferenz zwischen jüdischen und deutschen Opfern des Zweiten Weltkriegs im kollektiven Gedächtnis der Bundesrepublik hervor. Es durfte, so Grass, "nur jener und nicht dieser Toten gedacht werden". Dies habe dazu geführt, dass der Diskurs über Auschwitz sämtliche anderen Diskurse über die Leiden des Tätervolks verdrängt habe. Abschließend unterstreicht Grass aber, dass eben diese Erinnerung als bleibendes Brandmal der Geschichte nie aufhören dürfe.
Diesem, zum überwiegenden Teil, fiktionalen Stoff stellt Braun Das Echolot von Walter Kempowski gegenüber. Hier ist die Frage nach der Autorenschaft der Erinnerung besonders komplex, da Kempowskis Werk eine Art Collage darstellt. Diese Zusammenstellung, die sich aus Biographien, Berichten, Tagebuchaufzeichnungen Brieffragmenten, Protokollen und mehr zusammensetzt, geht streiflichtartig auf Zeugnisse aus den Jahren 1941, 1943 und 1945 ein, wobei diese chronologisch nach Tagen angeordnet sind und Wendepunkte in der Geschichte des Zweiten Weltkriegs und des Holocausts markieren. Die einzelnen Fragmente formen ein Panoptikum privater und öffentlicher Zeitgeschichte, die zu einer kollektiven Chronik verschmolzen werden. Was der Leser lernt, bleibt ihm überlassen, da Kempowski keinen pädagogischen Anspruch verfolgt und die Geschichte als Lehrmeisterin des Lebens ohnehin ausgedient habe.
Die Erinnerung an die NS-Zeit im Film versucht Braun mit den Beispielen Operation Walküre - Das Stauffenberg-Attentat (2008), Sophie Scholl - Die letzten Tage (2005) und Der Untergang (2004) zu illustrieren. Diese Filme sind keine audiovisuellen Geschichtsbücher, sondern verdichten Geschichte zu einer spielfilmtauglichen Erzählung. Die Filmemacher sind also keine Historiker, sondern Produzenten von Überlieferung des kulturellen Gedächtnisses von einer Generation zur nächsten. Sie sind es, die die Bedeutung der Vergangenheit für die Gegenwart abwägen und durch den Film das historische Erbe konstruieren. Diese Konstruktion verzichtet häufig auf Quellentreue und ordnet diese dem Reenactment, also dem Nachstellen der Szenen unter. Dadurch entstehen gleichsam neue Quellen, die Einzug in den Unterricht und in das kulturelle Gedächtnis halten. Der Erinnerungsfilm zeigt also weniger die Geschichte, als vielmehr ein bestimmtes Verständnis von Geschichte, das stark von den Anforderungen an den Film, wie Kamera, Ton, Einstellungen, geprägt ist. Ein beliebter Kunstgriff der Filmemacher ist in diesem Zusammenhang die Einbettung des Films in eine Rahmenhandlung, in der sich Primärzeugen an die Ereignisse erinnern und ihre Sicht der Geschichte darlegen. Dies geschieht zum Beispiel in Der Untergang. Hier erinnert sich Traudl Junge, Adolf Hitlers Privatsekretärin an die Ereignisse im Berliner "Führerbunker". Durch diese Technik soll der dokumentarische Charakter des Films stark in den Vordergrund gerückt werden, selbst wenn die folgenden Szenen nur eine Rekonstruktion sein können. Auf eine weitergehende Erläuterung, wie die einzelnen Filme Erinnerung transportieren, welche Erinnerung sie stark machen oder abschwächen, verzichtet Braun.
Die Schwierigkeit, letztlich zu bestimmen, wie Erinnerungskultur generell arbeitet, wird schon darin deutlich, dass Braun nur ein "vorläufiges Fazit" ziehen kann (177). Er gibt nur eine kurze Zwischenbilanz zur Lage der Erinnerungskultur in Deutschland und Europa. Zu den wichtigsten Punkten kann man die Lösung vom faktenbasierten Wahrheitsanspruch der Geschichte hin zur Fiktion zählen, die persönlich oder familiär motivierte Hinwendung zur Zeitgeschichte durch die Autoren und Filmemacher sowie die Entdifferenzierung von Täter- und Opfergedächtnis.
Insgesamt legt Braun eine gute Übersicht über den Stand der Erinnerungskultur in Deutschland vor. Es gelingt ihm, durch die vielfältigen Beispiele aus Literatur und Film zu zeigen, wie facettenreich das Thema ist. Leider hat der Leser manchmal den Eindruck, dass der Autor tiefer in die Materie hätte einsteigen können, da er breit nacherzählt, während die analytische Einordnung seiner Fallbeispiele mitunter zu kurz ausfällt. Hervorzuheben ist das vorläufige Fazit, da es Braun dadurch treffend gelingt, Erinnerungskultur als Work-in-progress zu charakterisieren.
Michael Annegarn