Michael Wobring / Susanne Popp (Hgg.): Der europäische Bildersaal. Europa und seine Bilder, Schwalbach: Wochenschau-Verlag 2013, 190 S., zahlr. Abb., ISBN 978-3-89974-123-0, EUR 39,80
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Unter dem Titel "Bildersaal Deutscher Geschichte - Zwei Jahrtausende deutschen Lebens in Bild und Wort" wurde 1890 von Adolf Bär und Paul Quensel bei der neugegründeten, für derartige Erbauungsliteratur dann später führenden Union Deutsche Verlagsgesellschaft Stuttgart [1] ein reich illustriertes, vaterländisch-erbauliches Historienwerk herausgegeben. In 494 Abbildungen und 48 "Kunstbeilagen" wurden dem deutschen Publikum die großen Gestalten und Taten ihrer vermeintlich bis in die germanische Vorzeit reichenden Vergangenheit, häufig in Reproduktionen bekannter Historienbilder Anton von Werners und anderer Künstler, nähergebracht. Die Wirkmächtigkeit dieser massenhaften Verbreitung populärer Geschichtsbilder in derartigen volkstümlichen, mit hoher Auflage verkauften Werken für die historische Imaginationsfähigkeit des wilhelminischen Bürgertums kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. An diese Tradition knüpft der "Europäische Bildersaal" augenzwinkernd im Titel an, zugleich die "vaterländische" Absicht des "Bildersaals deutscher Geschichte" in eine europäische Perspektive transzendierend.
In 14 Beiträgen werden "Ikonen" des europäischen Bildgedächtnisses vorgestellt. Ein instruktiv einführender Beitrag (Susanne Popp, Michael Wobring) und eine Reflexion über die "Reproduktion historischer Bildvorlagen im Schulgeschichtsbuch" (Michael Wobring) runden das Buch ab. Bei der Auswahl der 14 Bilder allerdings wird sich der Leser wundern. Die Auswahl erfolgte als Resultat von Schulbuchuntersuchungen in mehreren europäischen Ländern und sie repräsentiert die 14 am häufigsten in diesen Büchern anzutreffenden Bilder. Leider lassen die Herausgeber den Leser im Unklaren darüber, in welchen Ländern genau die Daten erhoben wurden und welche Bilder den 14 Ausgewählten im "Ranking" folgen. Sicher wäre dies bei Lektüre der in den Fußnoten erwähnten Studien, auf die sich das Ranking beziehen, nachzuholen, doch wieso wird es nicht in der Einführung erklärt?
Mit Recht verweisen die Herausgeber darauf, dass der deutsche Leser zwar manches ihm vertraute Bild vermissen werde, zum Beispiel Willy Brandts Kniefall von Warschau (4), er dies aber seiner spezifisch deutschen und eben nicht europäischen Perspektive zu verdanken habe. Was für unser geschichtskulturelles Gedächtnis wichtig ist, muss es in anderen Ländern eben noch lange nicht sein. Diese Einsicht mag banal erscheinen, ist aber doch gleichzeitig in ihrer Offenheit erhellend und horizonterweiternd. Das Anliegen des Buches ist ganz eindeutig die Darstellung der "geschichtskulturellen Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den europäischen Staaten" (5) und keine, wie sonst oft üblich, deutsche Nabelschau. So sind es eben diese europäischen und nicht "deutschen" Schulgeschichtsbuchbilder geworden, die untersucht und erklärt werden:
John Trumbull, Die amerikanische Unabhängigkeitserklärung am 4. Juli 1776 (Herwig Buntz)
Jacques-Louis David, Der Ballhausschwur (Elisabeth Erdmann)
Francisco Goya, Der 3. Mai 1808 in Madrid: Die Erschießung der Aufständischen auf der Montana del Principe Pio (Herwig Buntz)
Jean-Baptiste Isabey, Eine Arbeitssitzung des Wiener Kongresses (Markus Bernhardt)
Eugène Delacroix, Das Massaker von Chios (Alfred Czech)
Eugène Delacroix, Die Freiheit führt das Volk (Bärbel Kuhn)
Anton von Werner, Die Proklamierung des Deutschen Kaiserreichs im Spiegelsaal des Schlosses von Versailles (Charlotte Bühl-Gramer)
Anton von Werner, Der europäische Kongress zu Berlin (Torsten Wolff)
Wladimir A. Serow, Lenin proklamiert die Sowjetmacht (Michael Wobring)
William Orpen, Unterzeichnung des Versailler Vertrages (Susanne Popp)
Pablo Picasso, Guernica (Charlotte Bühl-Gramer)
Unbekannter Fotograf des US-Army Signal Corps, Konferenz von Jalta (Michael Wobring)
Jewgeni Chaldej, Hissen der sowjetischen Fahne auf dem Berliner Reichstagsgebäude am 2. Mai 1945 (Michael Wobring)
Verschiedene Fotografen, Der Fall der Berliner Mauer (Christoph Hamann)
Vielleicht hätte man bei der Auswahl das strenge Prinzip der Bildhäufigkeit bei den beiden Künstlern, die zweimal vertreten sind, zu Gunsten der Bilder auf Listenplatz 15 und 16 aufheben und damit das Feld etwas weiten können. So ist der Erkenntnisfortschritt zu Delacroix und von Werner in den jeweils zweiten Beiträgen etwas eingeschränkt.
Die Analyse der Bilder folgt in allen Beiträgen einem festen Schema: "Werk und Urheber im Überblick", "Das dargestellte Ereignis im historischen Kontext", "Die Darstellung des Ereignisses im Bild", "Das Bild als historische Quelle" sowie "Weg zur geschichtskulturellen Präsenz". Das Schema ist sinnvoll gewählt und erleichtert die Orientierung. In der Rubrik "Das Bild als historische Quelle" schimmert an manchen Stellen noch ein zumindest diskussionswürdiger Restglauben an Bilder als authentische Zeugnisse historischer Sachkultur durch (7) und in der eigentlich besonders innovativen letzten Rubrik fassen sich manche Beiträge leider etwas zu kurz. Das feste Schema führt wie die Bildauswahl stellenweise zu nicht ganz unerheblichen Redundanzen. Alle vierzehn Bildvorstellungen und -analysen sind jedoch insgesamt anregend, informativ und kenntnisreich. Insbesondere die Abbildungen anderer Bilder als Bezugsgrößen oder Nachahmer der "Ikonen", die Bildkomplexität reduzierenden und erklärenden Grafiken und die zur Verfügung gestellten ergänzenden Quellen (nur ein Beispiel: ein sehr lebendiger Bericht einer Diakonisse, die am 18. Januar 1871 Zeugin der Kaiserproklamation in Versailles wurde, 96) sind ein großer Gewinn. Jeden Beitrag vorzustellen, könnte an dieser Stelle nur in rein additiver und deskriptiver Form erfolgen; Kritik an Details wäre Beckmesserei, die dem Wert des Buches nicht gerecht würde.
Stellen wir das Buch lieber in einen problematisierenden Zusammenhang: In unserer bildgläubigen Zeit, in der die modernen Massenmedien jeden Menschen einer wahren Bilderflut aussetzen, sind Reflexionen und deutliche Worte über die Möglichkeiten, aber vor allem auch Grenzen der historischen Erkenntnis durch Bilder von großer Bedeutung. Außerdem sind Bilderforschungen und -analysen, wie das Beispiel des Erfolgs von Gerhard Pauls "Jahrhundert der Bilder" [2] zeigt, auch gerade en vogue. Und das ist gut so! Denn das Elend der deutschen Schulgeschichtsbücher wird, vor allem im Bereich der Sekundarstufe I, an kaum einem anderen Beispiel so deutlich wie am Umgang mit ihren Bildern. Auch nach Jahrzehnten geschichtsdidaktischer Forschung und Lehre unter dem Leitstern des reflektierten Geschichtsbewusstseins ist die Geschichtsdidaktik noch immer nicht wirklich im Leitmedium des Geschichtsunterrichts angekommen, wie schon Bodo von Borries 2005 feststellte. [3] Bilder werden den Schülern noch immer zu oft (selbstverständlich gibt es Ausnahmen) naiv als Illustrationen vermeintlicher historischer Wahrheit und nicht als Ausdruck zeitgebundener Wahrnehmung, also als Quelle vergangener Deutungen, präsentiert. Zum Glück findet der "Europäische Bildersaal" da zuweilen den Mut zum kritischen Wort: "Noch immer fungiert das Bild als 'Logo' eines ganzen Schulbuchkapitels, wird unkommentiert als Auftaktdoppelseite zum 'eye-catcher', illustriert ein Schulbuchcover [...]" (95).
Dabei sind die im "Europäischen Bildersaal" formulierten Erkenntnisse zum kritischen Umgang mit Bildern nicht wirklich neu, ihre fehlende Implementierung in der deutschen Schulrealität auch Jahre nach den Bemühungen der Geschichtsdidaktik, vor allem von "FUER Geschichtsbewusstsein" [4], bleibt jedoch noch immer zum verzweifeln. Wenn der "Europäische Bildersaal" einen Beitrag liefern sollte, in diesem Punkt etwas zu bewegen, wäre der Rezensent glücklich. Aber ehrlich: Lesen solche Bücher nicht eher jene Menschen, die ohnehin nicht mehr überzeugt werden müssen? Dabei gehört dieses Buch vor allem in die Hände von Geschichtslehrern, die sinnvolle Alternativen zu ihren Schulbüchern suchen (müssen)!
Anmerkungen:
[1] Adolf Bär / Paul Quensel (Hgg.): Bildersaal Deutscher Geschichte. Zwei Jahrtausende deutschen Lebens in Bild und Wort, Stuttgart / Berlin / Leipzig 1890; ein anderer erfolgreicher Band des Verlags: N. N.: Illustrierte Geschichte des Krieges 1870/71, Stuttgart / Berlin / Leipzig 1896.
[2] Gerhard Paul: Das Jahrhundert der Bilder, Bd. 1-2, Göttingen 2009.
[3] Unter anderem Bodo von Borries (Hg.): Schulbuchverständnis, Richtlinienbenutzung und Reflexionsprozesse im Geschichtsunterricht, Neuried 2005.
[4] Reinhard Krammer / Heinrich Ammerer (Hgg.): Mit Bildern arbeiten. Historische Kompetenzen erwerben, Neuried 2006.
Tobias Arand