Winfried Baumgart: Wörterbuch historischer und politischer Begriffe des 19. und 20. Jahrhunderts. Deutsch - Englisch - Französisch, München: Oldenbourg 2010, 575 S., ISBN 978-3-486-58907-8, EUR 99,80
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Es gibt nicht viele Anlässe, in einem Fachportal für Historiker Wörterbücher zu besprechen. Man mag an die prominenten begriffsgeschichtlichen Großprojekte denken. Und wenn man den Titel von Baumgarts hier zu besprechendem 'Wörterbuch historischer und politischer Begriffe des 19. und 20. Jahrhunderts' liest, ist man in der Tat an Kosellecks 'Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland' oder Reichhardts 'Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich' erinnert.
Baumgarts Band verspricht sogar Dreisprachigkeit (Deutsch, Englisch und Französisch). Da auf den 575 Seiten des einzigen Bandes sage und schreibe 15000 Begriffe abgehandelt werden, ist klar, dass von historisch-semantischem Tiefgang nicht die Rede sein kann. Wer also hinter dem Titel eine knappes begriffshistorisches 'best of' in drei Sprachen auf dem Stand der aktuellen Forschung erwartet, wird enttäuscht - und hat vielleicht auch etwas zu viel erwartet.
Mit dieser Fülle ähnelt 'der Baumgart' eher einem anderen Nachschlagewerke für Historiker: Zahlreiche Einträge hat er mit dem episch-akribischem Kompendium "Geschichte griffbereit" von Imanuel Geiss gemein. [1] Bei Geiss findet man knappe, lexikonartige Einträge (unter anderem) zu Begriffen, die die 'sachsystematische Dimension der Weltgeschichte' aufschlüsseln sollen. Allein Band 4 seines sechsbändigen Werkes liefert auf weit über tausend Seiten ein gigantisches 'Sachregister der Weltgeschichte' mit Einträgen vom 'Aachener Kongress' bis zum 'Zypernkonflikt'. Zur "Zypernfrage" und zum "Kongress von Aachen" wird man bei Baumgart auch fündig. Allerdings liefern die Einträge keine Erklärungen, sondern lediglich englische und französische Übersetzungen. Baumgarts Band tritt als dreisprachiges Wörterbuch an - mit dem Anspruch, sich exklusiv an Historiker zu richten.
Brauchen Historiker ein solches Buch, bloß weil, wie in der Einleitung betont, Vergleichbares bislang nicht vorhanden ist? Ob Historiker über eine eigene Sprache verfügen, oder sich darum bemühen sollten, wurde in den 1970er- und 80er-Jahren in sozial- und begriffshistorischen Debatten kontrovers diskutiert. Unabhängig von dieser sehr prinzipiellen Frage, sind Historiker zweifellos mit spezifischen sprachlichen Formen konfrontiert: Mit Fachterminologien und häufig auch mit vergessenen Vokabularien, die in aktuellen Wörterbüchern längst aussortiert sind.
Aber können Historiker nicht dennoch, wenn es 'bloß' um Übersetzung geht, in allgemeinen Lexika und Enzyklopädien - oder 'im Internet' - nachschlagen? Das ist, wie die Erfahrung zeigt, oft problematisch. Wer konventionelle 'analoge', aber eben auch digitale Hilfen wie dict.cc oder leo.org regelmäßig nutzt, stößt auf der Suche nach treffenden Übersetzungen schnell an Grenzen - sprich: auf Fehlanzeigen oder 'falsche Freunde'. Genau an diesem Punkt kann Baumgarts Kompendium manchem Historiker mit verlässlichen Übersetzungen und sinnvollen Umschreibungen wirklich weiterhelfen.
In erster Linie wird es Spezialisten für deutsche Geschichte beim Verfassen französisch- und englischsprachiger Vor- beziehungsweise Beiträge helfen, solange sie sich in der Neuzeit bewegen. Englisch- und französischsprachige Wissenschaftler mag es ebenfalls bei der Arbeit an deutschsprachigen Quellen helfen, denn deutsche Einträge strukturieren den Band. Die deutsche Geschichte ist entsprechend auch inhaltlich am stärksten Vertreten. Ereignisse, denen gemeinhin weltgeschichtlicher Rang zugeschrieben wird, fanden ebenfalls Eingang, nationalgeschichtliche Fachbegriffe aus dem (west-)europäischen Ausland (mitunter auch dem 'Rest' der Welt) kommen vor, sind aber bereits deutlich dünner gesät.
Der handwerklich und editorisch nach allen Regeln der Kunst erstellte Band überzeugt auf einer arbeitspragmatischen Ebene für die genannte Zielgruppe durchaus. Bei komplexeren, geistesgeschichtlich aufgeladenen Begriffen, wird es freilich schnell kompliziert: 'Kultur' schlicht mit 'civilization' beziehungsweise 'civilisation' zu übersetzen, ist zwar zweifellos auch richtig. Aber die kontextabhängige Erschließung der jeweils aktualisierten Bedeutungsschicht im zu übersetzenden Text steht damit natürlich erst am Anfang. Will man dagegen beispielsweise wissen, wie der 'Dorfschulze', die 'Deutschtümelei' oder die 'Nibelungentreue' im Englischen oder Französischen sinnvoll zu fassen sind, ist man mit dem Wörterbuch gut bedient.
Wenn der Nutzer die durchsuchbare, auf einem Datenträger beiliegende PDF-Version zur Hilfe nimmt, kann er sogar auch ausgehend von englischen oder französischen Worten suchen. Das ist nicht so komfortabel wie eine datenbankbasierte Lösung, funktioniert aber in der Praxis recht gut.
Welche Begriffe für den Neuzeithistoriker nun wirklich wichtig sind und es deshalb in den Band geschafft haben, ist offensichtlich gar nicht so einfach zu begründen. In der Einleitung verwendet der Herausgeber viel Raum darauf, zu erklären, wie die Auswahl zustande kam. Die Herleitung mit fast 60 kategorial sehr unterschiedlichen "beispielhaft illustriert[en] [...] Wortfelder[n]", ist jedoch eher dazu geeignet, den Leser zu verwirren. Am Ende könnte man es wohl ähnlich überspitzen, wie vor vielen Jahren in der Debatte um die 'Geschichtlichen Grundbegriffe': Wichtige historische Begriffe sind offensichtlich jene, die Herausgeber einschlägiger Werke dafür halten. [2] Ein Blick auf Baumgarts Einträge lässt aber erahnen, wie man zu der getroffenen Auswahl systematisch hätte kommen können: Über eine Durchsicht gängiger Handbücher zum 19. und 20. Jahrhundert - beispielsweise des 'Gebhardt' oder des 'Huber'. Die meisten zentralen Begriffe, denen man in solchen Kompendien begegnet, wird man auch bei Baumgart finden.
Nützlich ist das Nachschlagewerk auch, weil es konzeptionelle und theoriegesättigte Termini aus der "Begriffswelt des Historikers" integriert. Hier muss man aber mit der Einschränkung leben, dass das Werk eher den Debattenstand der frühen 1990er-Jahre abbildet. Die 'Sozial'- und die 'Alltagsgeschichte' sind vorhanden, die 'Historische Anthropologie' dagegen nicht. Sozialhistorische Schlüsseltermini wie 'Modernisierung' werden verzeichnet. Zwischen 'Kommune' und 'Kommuniqué' findet man aber noch keine 'Kommunikation', zwischen den Einträgen 'Diskriminieren' und 'Diskussionsforum' fehlt der 'Diskurs' (vom 'Dispositiv' ganz zu schweigen!). Klassische methodische Konzepte sind dagegen verlässlich vertreten - so die 'Hermeneutik' oder auch die 'Quellenkritik'.
Die genannten Fehlanzeigen sind in der Praxis wohl zu verschmerzen: Wenn es konzeptionell wirklich komplex wird und man in die Tiefen eines Themas vordringt, kommt man ohnedies nicht umhin, einen Blick in einschlägige fremdsprachige Texte zu werfen, um dann gute Übersetzungen oder Umschreibungen hermeneutisch 'einzuzirkeln' (die integrierten Forumsdiskussionen, beispielsweise bei leo.org, helfen dabei übrigens erstaunlich oft weiter).
Bleibt die Frage, ob vor diesem Hintergrund viele bereit sein werden, den stolzen Bandpreis von knapp 100 € zu "berappen". In historischen Bibliotheken wird das Wörterbuch dagegen sicher bald zur Standardausstattung gehören.
Anmerkungen:
[1] Imanuel Geiss (Hg.): Geschichte griffbereit. 6 Bände (Daten, Personen, Schauplätze, Begriffe, Staaten, Epochen), 3. Aufl., Gütersloh 2002.
[2] Damals hieß es leicht polemisch, Grundbegriffe seien wohl in erster Linie Begriffe, die von den Herausgebern des begriffsgeschichtlichen Lexikons dafür gehalten würden. Dazu z.B.: Schultz, Begriffsgeschichte und Argumentationsgeschichte, in: Reinhart Koselleck (Hg.): Historische Semantik und Begriffsgeschichte (= Sprache und Geschichte, Bd.1), Stuttgart 1979 43-74, hier 53f.
Tobias Weidner