Oscar Gelderblom: Cities of Commerce. The Institutional Foundations of International Trade in the Low Countries, 1250 - 1650 (= The Princeton Economic History of the Western World), Princeton / Oxford: Princeton University Press 2013, XIV + 293 S., 13 Abb., 10 Tabellen, ISBN 978-0-691-14288-3, GBP 24,95
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Steven A. Epstein: An Economic and Social History of Later Medieval Europe, 1000-1500, Cambridge: Cambridge University Press 2009
Die Frage nach den Gründen für Europas wirtschaftlichen Aufstieg in der Neuzeit beschäftigt seit Jahrzehnten nicht nur Wirtschaftshistoriker. Inklusive Institutionen, so der aktuelle Konsens, befördern langfristiges Wirtschaftswachstum, und solche inklusiven Institutionen entstanden in Europa im Spätmittelalter. "Institutionen" bezeichnen in der zum Großteil auf Englisch geführten Debatte alle Regeln, Normen und verinnerlichten Handlungsabläufe, die gesellschaftliches Verhalten ordnen. Inklusive Institutionen stehen im Gegensatz zu exklusiven Institutionen allen Menschen offen: In Kaufleutenationen beispielsweise zirkulierten Informationen nur unter den Mitgliedern, wohingegen Preislisten allen Kaufleuten zugänglich waren. Durch inklusive Institutionen sanken die Transaktionskosten für die Kaufleute, das Handelsvolumen nahm zu, die Wirtschaftsleistung stieg.
Gelderbloms Studie liefert einen Beitrag zu der Frage, wie im Verlauf des Spätmittelalters solche inklusiven Institutionen entstehen konnten. Dabei wendet er sich gegen die beiden bisher einflussreichsten Begründungsmodelle: Douglass C. North sieht in einem starken Staat den Ursprung und Garanten für allgemeine Institutionen. Avner Greif hingegen geht davon aus, dass die Kaufleute selbst durch ihre Organisation in Netzwerken und Gilden die Grundlage dafür legten, dass inklusive Institutionen entstanden. Gelderblom beantwortet die Frage mit städtischer Konkurrenz. Städte standen miteinander im Wettbewerb um Kaufleute, die nicht nur Waren und Geld mitbrachten, sondern auch Zölle und Abgaben zahlten. Weil die Städte den Handel in ihre Stadt leiten wollten, bemühten sie sich, ihre rechtlichen, finanziellen und wirtschaftlichen Institutionen den Bedürfnissen der Kaufleute anzupassen. Da viele Städte versuchten, gute Bedingungen für den Handel bereitzustellen, konvergierten ihre Institutionen, sodass sich im Verlauf von Spätmittelalter und Frühneuzeit die "institutional best practice" (209) durchsetzte.
Auf diese Weise wendete der städtische Wettbewerb den Nachteil der Zersplitterung Europas in einen wirtschaftlichen Vorteil: Um Händler anzulocken, gewährten die Städte ihnen zunächst Sonderrechte, gingen aber im Laufe des Spätmittelalters dazu über, allen Kaufleuten Rechte einzuräumen und ihren Handel zu unterstützen. Damit entstanden genau die inklusiven Institutionen, die Wirtschaftswachstum ermöglichen. Gelderblom repliziert nicht einfach Norths These von dem entscheidenden Einfluss der Zentralstaaten auf einer anderen Ebene, sondern er bricht die Teleologie der Erzählung von der Staatsbildung auf und zeigt, dass nicht im Zentralismus, sondern im Wettbewerb der entscheidende Faktor für Wirtschaftswachstum liegt.
Diese These entfaltet Gelderblom anhand des Beispiels der drei niederländischen Metropolen Brügge, Antwerpen und Amsterdam, die einander im Zeitraum von 1250 bis 1650 als Welthandelszentren ablösten. Nach der Einleitung, die die These vorstellt, beschreibt Gelderblom im zweiten Kapitel zunächst die Wirtschaftsgeschichte der drei Städte. In den folgenden Kapiteln stellt er jeweils zunächst ein Problem dar, das sich für Kaufleute stellte, die in der Ferne Handel treiben wollten. Anschließend zeigt er auf, wie dieses Problem in Brügge, Antwerpen und Amsterdam gelöst wurde und wie sich die Problemlösungen mit der Zeit veränderten.
Kapitel 5 illustriert Gelderbloms These vom Erfolg durch Anpassung am deutlichsten. Kaufleute, die in fremden Städten mit anderen Kaufleuten Handel trieben, standen vor dem Problem, dass überall unterschiedliche Rechte galten. Da sich die Charakteristika des europäischen Handels mit der Zeit wandelten, änderten sich auch die Anforderungen daran, wie dieses Problem zu lösen sei. Brügge, Antwerpen und Amsterdam passten ihr Rechtssystem entsprechend an: Solange sich die Kaufleute nur für kurze Zeiträume jeweils zu Messezeiten in der Stadt aufhielten, urteilten die städtischen Gerichte über Messesachen besonders schnell. Als die Kaufleute sesshaft wurden, wurde die Konsulatsgerichtsbarkeit etabliert, das heißt, jeder Händler konnte in seiner Nation nach dem Recht gerichtet werden, das in seiner Heimatstadt galt. Je länger mehrere Kaufleutegruppen an einem Ort residierten, desto häufiger kamen Streitfälle zwischen Händlern verschiedener Herkunft auf. Deshalb bildete sich mit der Zeit ein gemeinsames Recht für lokale und fremde Kaufleute heraus, indem der Magistrat vor dem Erlass neuer Gesetze stets auch die fremden Kaufleute konsultierte und Richter das heimische Recht der Prozessparteien berücksichtigten. Amsterdamer Recht setzte sich deshalb zusammen aus lokalen wie fremden Gebräuchen, aus Versatzstücken des römischen Rechts, des italienischen und spanischen Handelsrechts sowie den Anordnungen der Habsburger Herrscher. Die Kaufleutenationes mit ihrer Konsulatsgerichtsbarkeit wurden entsprechend nicht mehr gebraucht; in Amsterdam sucht man sie vergeblich. Anpassung an die jeweiligen Bedürfnisse führte also zu inklusiven Institutionen, hier einem für alle Kaufleute offenen Rechtssystem, und damit zu Wirtschaftswachstum.
Das Problem, Handelspartner zu finden, lösten die Kaufleute über Makler, deren Rolle die Stadt regulierte. Die städtischen Magistrate unterstützten außerdem private Lösungen der Kaufleute: Abrechnungsbücher der Kaufleute wurden zunehmend als Beweismittel akzeptiert, sodass den Händlern mehr Möglichkeiten offenstanden, gegen betrügerisches Verhalten ihrer Geschäftspartner vorzugehen. Die Städte sicherten die Maßnahmen, die die Kaufleute zur Risikoreduktion trafen, etwa die Verteilung der Waren auf mehrere Schiffe oder den Abschluss von Seeversicherungen. Dem Problem von Raub, Kapereien und Kriegen begegneten die Städte, indem sie für ihren Einflussbereich Schutzbriefe ausstellten und sich beim jeweiligen Herrscher für einen weitergehenden Schutz der Händler einsetzten.
Allerdings keimt beim Leser die Frage auf, warum die Händler Brügge beziehungsweise Antwerpen überhaupt verließen, um in Antwerpen respektive Amsterdam Handel zu treiben, wenn doch alles stets so gut funktionierte. Als Gründe für die Ablösung Brügges durch Antwerpen respektive Antwerpens durch Amsterdam führt Gelderblom nicht an, dass in der neuen Stadt bessere Rahmenbedingungen für den Handel geherrscht hätten, sondern er verweist auf die Flämische beziehungsweise Holländische Revolte. Nachdem die Kaufleute aus politischen Gründen umgezogen seien, hätten sich die Institutionen ihrer neuen Residenzstadt ihren Bedürfnissen angepasst. Die Städte standen also gar nicht in konkretem Wettbewerb miteinander. Wollte ein Kaufmann an einem europäischen Handelszentrum wirken, so ließ er sich im 15. Jahrhundert in Brügge, im 16. in Antwerpen und im 17. in Amsterdam nieder. Explizite Belege für eine konkrete Konkurrenzsituation sucht man vergeblich.
Die Argumentation wird so klar geführt wird, dass sie nicht nur einen höchst interessanten Beitrag zur Debatte um Europas Wirtschaftsaufschwung leistet, sondern zugleich dazu einlädt, die Diskussionen weiterzuführen. Wer sich für den Aufstieg Europas in der Neuzeit interessiert, wird an diesem Buch nicht vorbeikommen und es mit großem Gewinn lesen.
Ulla Kypta