Bent Jörgensen: Konfessionelle Selbst- und Fremdbezeichnungen. Zur Terminologie der Religionsparteien im 16. Jahrhundert (= Colloquia Augustana; Bd. 32), Berlin: Akademie Verlag 2014, 512 S., ISBN 978-3-05-006488-8, EUR 99,95
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Die konfessionellen Bezeichnungen der Religionsparteien im 16. Jahrhundert vermitteln oft den Eindruck unerschöpflicher Vielfalt. In der Flut von Diffamierungen ist zudem oft nicht klar, welche Art übler Nachrede hinter welcher Bezeichnung stand. Es ist das große Verdienst der Augsburger Dissertation Bent Jörgensens, die konfessionellen Selbst- und Fremdbezeichnungen der drei großen Religionsparteien des 16. Jahrhunderts im Heiligen Römischen Reich erstmals zusammenhängend in den Blick zu nehmen. Die Grundlage dafür bilden mit theologischer Flugschriftenliteratur und den Reichstagsakten zwei zentrale Quellengruppen zur Geschichte des Reiches. Angesichts dieses Zugriffs überrascht es aber, dass der Autor seine Arbeit forschungsgeschichtlich und methodisch lediglich im Umfeld von Schlagwortforschung und klassischer Begriffsgeschichte verortet. Mit den Reichstagen betrachtet Jörgensen das Zentrum des politischen Geschehens im Reich und jenen Ort, an dem sich zentrale Entwicklungen und Mechanismen politischer Kommunikation besonders gut beobachten lassen. Leider fehlen Bezüge zu Forschungen zur politischen Kommunikation - auf den Reichstagen wie anderswo -, was im Blick auf die Ergebnisse und Thesen der Arbeit eine verpasste Möglichkeit darstellt. Die empirische und analytische Leistung der Arbeit schmälert dies allerdings nicht.
Jörgensen arbeitet mit der These, dass die Bezeichnungen für das Selbstverständnis der Religionsparteien und die Kommunikation untereinander eine wichtige Funktion erfüllten. Erkenntnisleitend sind drei Fragestellungen. Grundlegend ist die Unterscheidung von Fremd- und Selbstbezeichnung. Jörgensen geht davon aus, dass die Verständigung zwischen den Gruppen nur gewährleistet war, wenn die gegenseitigen Bezeichnungen einen Kompromiss zwischen Selbst- und Fremdbild erzielten. Ob dieser Kompromiss gelang, hing von der Bereitschaft der Gesprächspartner ab; daher berücksichtigt er zweitens den kommunikativen Kontext: haben die Bezeichnungen in der auf Abgrenzung zielenden Flugschriftenliteratur vornehmlich polemische Funktion, so unterscheidet er davon eine amtliche Funktion auf den Reichstagen, wo die kommunikative Herausforderung darin bestand, durch respektvolle Umgangsformen die Grundlagen der Verständigung zu schaffen oder zu erhalten. Schließlich möchte er drittens prüfen, wie sich die Bezeichnungen seit der Reformation entwickelten und verleiht der Untersuchung damit eine diachrone Perspektive. Trotz des breiten Untersuchungsrahmens setzt er einige Schwerpunkte: so liegt das Augenmerk stärker auf der amtlichen als auf der publizistischen Ebene und eher auf der ersten als der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts.
Jörgensen entfaltet die Thematik zunächst von der publizistischen Seite. Nach Besprechung der Quellen (Kapitel 2) widmet er sich im dritten Kapitel der Herausbildung von Fremd- und Selbstbezeichnungen der katholischen, lutherischen und reformierten Partei seit 1517; auch irenische Tendenzen (Erasmus, Castellio) werden berücksichtigt. Er betrachtet vor allem Schriften der wesentlichen Protagonisten der Religionsparteien, also Luther und Melanchthon, Eck und Murner, Zwingli und Calvin. Insgesamt liegt der Fokus damit auf der unmittelbaren Reformationszeit. Daran anschließend untersucht er den 'offiziellen' Sprachgebrauch der Kirchen (Kapitel 4) entlang päpstlicher Bullen, der Beschlüsse des Tridentinums und evangelischer Kirchenordnungen. Terminologisch sieht er die kirchenrechtlichen Texte nah an der theologischen Publizistik: In beiden Fällen drückten die Selbstbezeichnungen meist einen Alleinvertretungsanspruch aus, wohingegen die Fremdbezeichnungen in der Regel grob diffamierend ausfielen und sich an einer mittelalterlichen "Ketzerterminologie" (124) orientierten; nur vereinzelt lassen sich bewusst neutrale Bezeichnungen ausmachen.
In den Bereich der "reichsrechtlich-amtlichen Textsorten" (181) wechselt Jörgensen mit dem Fokus auf die Reichstage. Hier orientiert er sich mit Ausschreiben, Propositionen und Reichsabschieden zunächst (Kapitel 6) an den offizielleren Texten. Den Reichstagen widmet er sich chronologisch, ausführlich von 1521 bis 1555, bis 1654 summarisch. Besonders interessant sind die Ausführungen zur Entstehung und Verfestigung der Formel von den "Augsburgischen Konfessionsverwandten" für jene Stände, die sich bis Mitte der 1530er-Jahre der Reformation zugewandt hatten. Die Geschichte dieser Formel spiegelt sich jedoch weniger in den Texten der Reichstage, als vielmehr im Rahmen der Religionsgespräche der 1530er-Jahre und entlang der Sprachregelungen des Schmalkaldischen Bundes in einer formal ohnehin reichstagslosen Zeit. Parallel dazu entwickelte sich auch für die Gegenseite eine weitgehend neutrale Bezeichnung als "alte" oder "catholische" Religion. Mehrfach verweist Jörgensen hier auf den Zusammenhang zwischen gemäßigter Terminologie und der Kommunikationsfähigkeit des Reichstages: "Ein Scheitern spiegelte sich in einem kompromisslosen Sprachgebrauch wider, während jede Ausgleichsbemühung eine zurückhaltende Wortwahl voraussetzte und bedingte." (307) Ein Exkurs widmet sich dem Sprachgebrauch des Reiches gegenüber den Täufern und den Türken. Im achten Kapitel kehrt Jörgensen zum Reichstag zurück und verschiebt den Fokus von den amtlichen Texten zu den Verhandlungen. Abermals chronologisch gibt er hier detaillierten Einblick in die flexiblere und ungleich taktischere Verwendung konfessioneller Selbst- und Fremdbezeichnungen im Rahmen der Beratungen in den einzelnen Kurien oder im Spiegel einzelner Briefwechsel. Eine Zusammenfassung und ein Ausblick runden die Arbeit ab.
Insgesamt zeichnet die Dissertation ein weites Panorama der Entstehung und Entwicklung konfessioneller Selbst- und Fremdbezeichnungen im 16. Jahrhundert. Differenziert und kritisch unterscheidet Jörgensen verschiedene Gebrauchsebenen, Phasen und Terminologien, stets eingebettet in den politischen Hintergrund. Eine große Stärke seines Ansatzes liegt in dem Entschluss, die polemische und die amtliche Sprache immer wieder in Bezug zu setzen und Verbindungslinien aufzuzeigen, besonders eindrucksvoll im Falle Melanchthons. Dabei stellt er klar heraus, welchen Einfluss die Wahl der Sprache auf den Reichstagen für Miss- und Gelingen der Verhandlungen hatte, wie hoch folglich die befriedende Leistung der Sprache einzuschätzen ist, mit der die Parteien an der politischen Koexistenz im Reich arbeiteten. Vielfach hätte sich mit diesem Ergebnis die Möglichkeit geboten, methodisch wie inhaltlich an neuere Forschungen zur politischen Kommunikation anzuknüpfen, jedoch bleibt der gesamte Zusammenhang recht blass. So kann lediglich vermutet werden, dass die Arbeit einen Beitrag zum Forschungszusammenhang kommunikativer Aspekte vormoderner Friedenswahrung und Friedensverhandlung bildet. [1] Stellenweise problematisch ist auch die recht pauschale Behandlung der zweiten Jahrhunderthälfte, eine ergänzende Berücksichtigung konfessioneller Polemik um 1600 wäre denkbar gewesen. Mindestens diskussionswürdig ist zudem die Aussage, die Religion sei nach 1566 auf den Reichstagen "kein Thema" (311) mehr gewesen. Trotz dieser kleineren Kritikpunkte leistet die Arbeit eine informative und überlegte Aufarbeitung des Themas und wird in der Vielfalt konfessioneller Bezeichnungen in Zukunft eine wichtige Orientierungshilfe bieten.
Anmerkung:
[1] Vgl. bspw. Heinz Duchhardt / Martin Espenhorst (Hgg.): Frieden übersetzen in der Vormoderne. Translationsleistungen in Diplomatie, Medien und Wissenschaft (= Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Beiheft 92), Göttingen 2012.
Hannes Ziegler