Ulrike Gleixner (Hg.): Religiöse Emotionspraktiken in Selbstzeugnissen. Autobiographisches Schreiben vom 16. bis zum 20. Jahrhundert (= Wolfenbütteler Forschungen; 178), Wolfenbüttel: Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel 2024, 263 S., 8 s/w-Abb., ISBN 978-3-447-12115-6, EUR 62,00
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Im Oktober 2021 fand unter der Leitung von Peter Burschel und Ulrike Gleixner an der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel ein Workshop über religiöse Emotionen und Selbstzeugnisse statt, den der hier zu besprechende Titel nun in einem Sammelband zusammenführt. Den Kern des Bandes bildet ein methodisches Statement, das Ulrike Gleixner in ihrer Einleitung so zusammenfasst: Die BeiträgerInnen gingen davon aus, "dass schriftliche wie mündliche Ausdrucksformen Affekte nicht nur benennen und kommunizieren, sondern gleichzeitig mobilisieren, produzieren und verändern können." (11) Es geht, in anderen Worten, also vor allem um den "Handlungscharakter autobiographischer Schreibpraxis" (7). Die Anlage des Bandes beweist damit auf methodisch-theoretischer Ebene großes Geschick: Während die Performanz und die Praxeologie von Emotionen mittlerweile zum etablierten Konsens der Emotionsgeschichte gehören, verbindet der Band diesen Befund mit dem, auf anderem Gebiet, ebenfalls etablierten Verständnis autobiographischen Schreibens als "produktive[r] Handlung" (11). Die Synergien dieser Zusammenführung liegen auf der Hand und sind in den Beiträgen gut sichtbar. Anzumerken ist jedoch auch, dass dieser offensichtliche Schnittpunkt zwischen Emotions- und religiöser Selbstzeugnisforschung bislang keineswegs unentdeckt geblieben ist. Aus der Einleitung erfährt man darum zunächst in der Tat wenig Neues. Vielmehr lässt Ulrike Gleixner hier weitgehend etablierte Positionen der Emotions-, der Selbstzeugnis- und der Religionsgeschichte kurz Revue passieren, um dann die einzelnen nachfolgenden Kapitel kurz vorzustellen. Ein darüber hinausgehender programmatischer Anspruch des Bandes oder eine klare Positionierung in den genannten Forschungsfeldern fehlt hingegen.
Die nachfolgenden Beiträge sind in drei große Bereiche gruppiert, die sich - der Reihe nach - um "Gefühlsarbeit im täglichen Schreiben", die "Positionierung im religiösen Netzwerk" und um die "Affektive Selbstverortung mit Publikumsadressierung" drehen. Diese Einteilung ist allerdings vielleicht stärker ästhetischen Gesichtspunkten geschuldet, denn die Unterscheidung verschwimmt regelmäßig beim Blick auf die darin untergebrachten Kapitel. Kaum einer der Beiträge ließe sich nicht auch ebenso leicht in einer anderen Sektion verorten.
Inhaltlich sind die Kapitel auf den ersten Blick disparat. Nicht nur geht die epochale Spanne vom 16. bis ins 20. Jahrhundert (mit einer deutlichen Schieflage in Richtung Früher Neuzeit), auch die konkreten empirischen und religiösen Kontexte sind häufig kaum verwandt. Neben katholischen und lutherischen geht es auch um calvinistische, pietistische und jüdische Schreib- und Erfahrungswelten. Zusammengehalten werden die Beiträge jedoch von einer überzeugenden inhaltlichen Klammer, die sich - bei aller epochalen und kulturellen Variation - als eine Paarung von "textförmige[r] religiöse[r] Selbstreflexion und emotionale[r] Gottesanrufung" (15) bezeichnen lässt.
Einzelne Kapitel herauszugreifen ist im vorliegenden Fall besonders schwierig, weil ein jedes die Hervorhebung verdiente: Die Beiträge sind allesamt empirisch dicht, argumentativ klar und handwerklich hervorragend. Auffallend ist weiterhin, dass sich alle Beitragenden mit großer Disziplin auf das zentrale Anliegen des Bandes und, so darf man annehmen, des Workshops eingelassen haben. In der Zusammenschau spannend sind aber die Beiträge von Andreas Herz und Stefan Roepke, die die Erfahrungswelt von Konfessionellem Zeitalter und Dreißigjährigem Krieg in unterschiedlicher, aber durchaus komplementärer Perspektive eindrücklich vor Augen stellen. Auch in geschlechterhistorischer Hinsicht lesen sich einige Beiträge nahezu als Ergänzung zueinander, so etwa jene von Selina Betsch und Kerstin Roth, die die enge Verwandtschaft praxeologischer und lexikalischer Interpretation im Bereich der Emotionsgeschichte vor Augen führen. Weiter belegen mehrere Beiträge die wichtige Rolle emotionaler Praktiken bei der sozialen Gruppenbildung jenseits epochaler Differenzen: Was Sarah Wobick-Segev für das deutsch-jüdische Bürgertum des 19. Jahrhunderts nachweist, findet seinen Widerhall in Sylvia Wehrens Analyse von Jugendtagebüchern des 19. Jahrhunderts ebenso wie in Katarzyna Woniaks Untersuchung von Briefen aus dem von Nazi-Deutschland besetzten Polen. Und schließlich bestätigen einige Beiträge des Bandes auch den zentralen Stellenwert emotionalen Vokabulars für die Berichterstattung und die Erfahrungsreflektion im kolonialen Raum (Jessica Cronshagen, Simon Siemianowski, Christoph Streb). Unter dem Strich - und ganz subjektiv - hervorgehoben seien dann aber doch die Beiträge von Julia Lieth (wegen ihrer analytischen Klarheit) und Kevin Hecken (in dem der methodische Mehrwert der Emotionsgeschichte besonders deutlich hervortritt).
Eine Möglichkeit, die der Band dezidiert auslässt, ist der systematische oder wenigstens tentative Vergleich religiöser Emotionspraktiken in Selbstzeugnissen unterschiedlicher Religion und Konfession. Mit dem versammelten Material wäre die Anlegung einer solchen Frage nicht nur spannend, sondern im Hinblick auf den Forschungsstand auch sehr gewinnbringend gewesen. Auch fehlt eine nachgehende Reflektion darüber, dass nicht alle BeiträgerInnen mit dem eingangs formulierten methodischen Zuschnitt konform gehen: Wenn Ulrike Kollodzeiski beispielsweise Zweifel anmeldet, ob die von ihr untersuchten Emotionsausdrücke wirklich mit dem Konzept der Emotionspraktiken angemessen beschrieben sind, und deshalb fragt, ob es sich hier nicht vielmehr um den Ausdruck eines humanistischen Tugenddiskurses handelt, dann wirft dies wichtige und weiterführende Fragen zur Interpretation von emotionalem Vokabular in religiösen Selbstzeugnissen auf. Solcher Kleinigkeiten ungeachtet bietet der Band einen reichhaltigen Ein- und Überblick über die Forschungen zu religiösen Emotionspraktiken in Selbstzeugnissen im (überwiegend) deutschsprachigen Raum und mithin einen Beleg für die Lebhaftigkeit dieses Forschungsgebietes.
Hannes Ziegler