Caspar Haberkorn: Annalen der Stadt Kamenz (Haberkornsche Chronik). Bearb. und hg. von Lars-Arne Dannenberg (= Veröffentlichungen aus dem Stadtarchiv Kamenz; Bd. 2), Görlitz: Verlag Gunter Oettel 2012, XXXV + 252 S., 8 Farbabb., ISBN 978-3-938583-93-7, EUR 20,00
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Das vorliegende Werk gliedert sich in Vorworte (VII-X), Einleitung (XI-XXXV), Edition (1-230), die eigentlich nur eine Transkription ist, Orts- und Personenregister (231-244) sowie Abbildungen (245-252). Ein Sachregister fehlt.
Die Einleitung bietet biographische Notizen zum Verfasser Haberkorn (1550?-1608), der einer Kamenzer Ratsherrenfamilie entstammte. Er wurde "deutscher Schul- und Rechenmeister" in Kamenz (XIII) und der Bearbeiter meint, es "darf von einer Universitätsausbildung [Haberkorns] ausgegangen werden" (XIII), allerdings wird dafür kein Beleg angeführt. Haberkorn wurde 1587 in den Rat gewählt, der ihn mit der Abfassung der Annalen beauftrage (XIV, XVIII). 1594 wurde er Stadtrichter (1593 bricht die Chronik ab) und 1607 Bürgermeister. Kurz darauf starb er.
Zur eigentlichen Chronik soll hier nicht viel gesagt werden, da sie in Inhalt und Aufbau mit andernorts geschriebenen Geschichtswerken jener Zeit vergleichbar ist. Der Schreiber beginnt mit den vermeintlichen Gründungsjahren der Stadt um 1200 und endet 1593. Die Jahre bis zum eigenen Erinnerungshorizont werden kursorisch abgehandelt, ab den 1570er Jahren werden lokale gesellschaftliche und politische Ereignisse, aber auch "weltpolitische" ausführlicher behandelt. Die Schilderungen von Bränden, Seuchen oder Wetter- und Naturphänomenen gehören ebenso dazu.
Aus dem Abschnitt zur Handschriftenbeschreibung, die störenderweise ständig von "der" (XV ff.) statt von dem Autograph spricht, ist zu erfahren, dass die Chronik auch Nachträge enthält, die ohne Begründung nicht mit abgedruckt wurden. Im Abschnitt "Intention" wird spekuliert, dass die Chronik unter anderem als "Beweismittel" bzw. zur "Rechtssicherung" (XX) angelegt worden sei, allerdings finden sich im Text dann nicht die zu erwartenden Urkunden- bzw. Privilegienabschriften, die diese These stützen würden.
Die Diskussion der "Vorlagen und Vorbilder" (XXIII-XXVII) ist sehr knapp gehalten. Die Frage nach den Quellen Haberkorns und das Problem, welche Quellen seitdem verloren gegangen sind (z.B. die Ratsprotokolle), wird kaum bzw. gar nicht behandelt und damit ein Aspekt zur Beurteilung des Quellenwertes der Chronik völlig ausgeblendet. Auf den Seiten XXIII ff. finden sich Verweise auf von Haberkorn benutzte Stadtbücher, jedoch werden weder hier noch später im Text vollständige Quellen- bzw. Blattangaben zu den Fundstellen gemacht, ebenso wenig hat sich Dannenberg die Mühe gemacht, die in der Chronik genannten Urkunden im Oberlausitzischen Urkundenverzeichnis [1] oder anderen Editionen nachzuweisen. Die Spekulationen zu einem verlorenen fünften Kamenzer Stadtbuch (XXIV) und die diesbezügliche Vermutung, dass eine "Suche nach dem verschollenen [fünften] Stadtbuch in Prager Archiven oder den anderen Sechsstädten [...] erfolgreich" sein könnte, zeigen, wie wenig der Bearbeiter mit den Erschließungsständen der Archive der genannten Städte vertraut ist.
Eine Analyse der Chronik unter der Frage "Was fehlt?", fällt ebenfalls mager aus. Lediglich ein paar Sätze zu nicht geschilderten Konfliktsituationen sind zu lesen (XXII f.), und hier finden sich dann nicht einmal Fußnoten. Insgesamt wäre eine Kontextualisierung des Inhaltes mit dem, was man aus anderen Quellen zur Geschichte der Stadt Kamenz weiß, sicher hilfreich gewesen, um eine weitere Auseinandersetzung mit der Chronik zu befördern. So liegt nun ein unerschlossener Text vor, der lediglich den Blick in das Original erspart.
Natürlich soll die Einleitung zu einer Edition nicht versuchen, alle potenziellen Fragen zu antizipieren und zu beantworten, aber das Gegenteil ist ebenso kontraproduktiv. Überregionalen vergleichenden Studien wird durch das völlige Unterbleiben einer eingehenden Auseinandersetzung mit dem Text wenig an Vergleichsmaterial geboten. Auch an Sekundärliteratur wird dem Interessierten kaum etwas an weiterführenden Hinweisen offeriert. Dannenberg unterlässt es ebenfalls, seinen eigenen Vermutungen nachzugehen oder Behauptungen mit Belegen aus Archiven oder der Literatur zu stützen. So nimmt er an, dass Haberkorn Bautzener Quellen benutzt habe, aber als Belegstelle führt er ausgerechnet eine Begebenheit an (XXIV), die sich höchstwahrscheinlich nicht in Bautzen zugetragen hat: 1413 stürzte angeblich in Bautzen (tatsächlich geschah dies wohl in diesem konkreten Fall in Löbau) beim sogenannten Dorotheenspiel eine Mauer ein, wobei 20 Menschen gestorben sein sollen. Mag man diese Fehlinformation in der Einleitung noch für einen Flüchtigkeitsfehler halten, so wird man beim Blick in den "edierten" Text der Haberkornschen Chronik ein weiteres Mal enttäuscht. Dort macht nämlich bereits Haberkorn denselben Fehler und lässt die Ereignisse in "Budissin" (Bautzen) stattfinden. Allerdings hätte dem Bearbeiter auffallen können, dass hier etwas nicht stimmt. Denn die Mauer stand, wie es im Original heißt, am "Löbawischen Kauffhause" und dieses kann sui generis nur in Löbau gestanden haben, niemals in Bautzen (sonst wäre es ja das Bautzener Kaufhaus). Dies mag hier nach Haarspalterei aussehen, jedoch ist diese Begebenheit in der einschlägigen Literatur [2] zum geistlichen Spiel und nicht zuletzt in der Löbauer Chronik [3] ohne großen Aufwand zu finden. Dann wäre Dannenberg vielleicht auch aufgefallen, dass es in den Quellen und der Literatur zwei parallele Erzählstränge gibt - einmal für Bautzen und einmal für Löbau - die zu entwirren sich bis heute niemand die Mühe gemacht hat.[4] Bereits 2012 hatte Dannenberg in einem anderen Aufsatz über diese "Bautzener Episode" geschrieben und behauptet, dass dieses Ereignis "übrigens auch eingefleischten Kennern der Bautzener Stadtgeschichte heute kaum mehr geläufig" sei, und dass "man schon in alten Chroniken blättern" müsse, "um mehr darüber zu erfahren".[5] Bis zum Veröffentlichen der Haberkornschen Chronik wäre also genug Zeit gewesen, in anderen "Chroniken" "zu blättern", um der Sache auf den Grund zu gehen.
Einen historischen Text in einer als "Edition" titulierten Ausgabe nicht ausreichend zu kommentieren, ist sicher schade, aber offensichtliche und leicht zu erkennende Überlieferungsprobleme nicht zu bemerken, wirft kein gutes Licht auf den Bearbeiter und lässt das ungute Gefühl entstehen, dass der Text weitere derartige Problemstellen enthält, die niemand erkennen wird, da sich kein Kenner der Lokalgeschichte die Mühe gemacht hat, den Text eingehend zu analysieren. Letzteres wird wohl leider auch in Zukunft unterbleiben, da "Editionen" ja a priori und meist zu Recht als Ergebnisse langwieriger und tiefgründiger Textuntersuchungen mit einem gewissen Endgültigkeitsstatus gelten.
Mit Verwunderung muss man auch feststellen, dass, wenn der Bearbeiter Fußnoten setzt, dort nicht die zum Thema einschlägige Literatur zu finden ist, sondern meist nur Aufsätze oder Sammelbände des Bearbeiters selbst. So verweist Dannenberg zur Thematik Bartholomäus Scultetus (gestorben 1614, Historiograph) und seinen Kalenderdrucken auf seine eigene "Studie" (XXVI, Anm. 36). Folgt man diesem Hinweis findet man nur einen kleinen Aufsatz, der wiederum fast ausschließlich aus Versatzstücken der hier besprochenen Einleitung besteht und dann nicht einmal dort die einschlägige Literatur zum Thema zitiert. Die "Studie" zum Verhältnis von Scultetus und Haberkorn besteht dann darin, bereits andernorts gedruckte Passagen der beiden Chronisten unkommentiert nebeneinander zu stellen. Die oben genannte Passage zum Dorotheenspiel in Löbau (und anderes aus der Einleitung zu Haberkorn) findet sich übrigens in jenem Aufsatz schon wörtlich zitiert.
Eher amüsiert ist man, wenn man in der Handschriftenbeschreibung unter den Abschriften auch die "Abschrift" Dannenbergs aufgezählt bekommt, würde man doch hier Abschriften im klassischen Sinne erwarten und keine Textdateien. Des Weiteren erfährt man hier, dass bereits eine fast vollständige Transkription des Haberkorn von Matthias Knobloch als Textdatei im Kamenzer Stadtarchiv vorlag. Angesichts der oben beschriebenen Mängel muss man sich dann fragen, worin eigentlich der Anteil Dannenbergs an der Neuausgabe der Chronik bestand.
In Bezug auf die Editionsgrundsätze (XXXIII) und die Textgestaltung ist unter anderem zu kritisieren, dass Abweichungen von den eigenen Editionsgrundsätzen (z.B. Groß-/Kleinschreibung, Zeichensetzung) nicht kenntlich gemacht wurden, was selbige und damit Dannenbergs Editionsverständnis konterkariert.[6]
Hat man durch das Gesagte die Erwartungen an die "Edition" bereits gesenkt, gelingt es dem Bearbeiter, weiterhin für Verwunderung zu sorgen. Es finden sich fast keine Sachanmerkungen im Text. Und der eigentliche Skandal ist, dass die Existenz einer Teiledition zwar nicht völlig verschwiegen, aber so unter der Überschrift "Abschriften" platziert wurde (XXVIII), dass man sie auf den ersten Blick in ihrem Gehalt nicht zu würdigen weiß. Gerhard Stephan hatte 1932 bis 1934 die Chronik bis Blatt 14r bearbeitet und ausführlich kommentiert.[7] Doch statt wenigstens diesen Kommentar zu übernehmen, wird an keiner Stelle der "Neuedition" darauf eingegangen oder begründet, warum hinter das vorgelegte Niveau von Stephan einen Schritt zurückgegangen wurde. Einzig in den Editionsgrundsätzen ist zu lesen (XXXIV), dass eine Kommentierung des Textes das Erscheinen der Neuausgabe "erheblich hinausgezögert" hätte, und es sei "grundsätzlich nicht Aufgabe des Editors, den Text tiefenanalytisch auszuwerten und die Aussagen des Chronisten auf ihre Glaubwürdigkeit hin zu überprüfen. Die Quellen dürfen nicht mit dem Zeitgeist und dem subjektiven Empfinden und Kenntnisstand des Editors überfrachtet werden. Stattdessen hat die Edition die Quelle möglichst unverfälscht und unvoreingenommen zu präsentieren, denn die Quelle ist bekanntlich der Schlüssel zur Vergangenheit."
Diesen Ausführungen kann der Rezensent nicht ansatzweise folgen, jedoch ist zu konstatieren, dass Dannenberg seinen eigenen Grundsätzen wenigstens zum Teil gefolgt ist, indem er den Text weder analysiert, noch kontextualisiert oder (bis auf ganz wenige Ausnahmen) kommentiert hat. Doch kann auch er nicht, wie er es für sich in Anspruch nimmt, die "möglichst unverfälschte Quelle" bieten, denn Abweichungen von den eigenen Editionsgrundsätzen werden nicht kenntlich gemacht, sodass letztlich nach dem Sinn einer derartigen "Edition" gefragt werden muss. Dannenbergs Argumentation, oder vielmehr Ausrede, ist Wasser auf die Mühlen derer, die wissenschaftliche und damit langwierige und teure Editionen im Zeitalter der Digitalisierung für überflüssig halten.
Ein Beispiel mag zeigen, dass eine Kommentierung weder die Quelle überfrachtet noch verfälscht, sondern zu ihrem Verständnis beiträgt. Seite 23 heißt es in der Version Dannenbergs: "Diß Jahr ist der Lauben gar ausgebrandt [...]." Eine Erklärung fehlt. Hier weiß wahrscheinlich nur ein Kenner der Oberlausitz, dass es sich nicht um ein Gebäude(teil), sondern um die Stadt Lauban (polnisch Lubań) handelt. In der Ausgabe von Stephan ist hingegen eine Fußnote zu finden, die sowohl auf Literatur verweist als auch eine Vermutung zur Quelle Haberkorns (nämlich Scultetus) äußert.[8] In die Rubrik Unterlassungen zählen auch Beispiele wie diese: auf Seite 3 werden Werke Ciceros und Plutarchs nicht identifiziert; auf Seite 7, Anm. 4 fehlen bei einem Querverweis die Seitenzahlen; auf Seite 11 passim werden Abkürzungen wie "NB" (nota bene) nicht aufgelöst; auf Seite 29 wird die Datumsangabe "Rorate" nicht aufgelöst und selbst an Stellen (12, 16f. passim), wo Haberkorn konkrete Stadtbücher und Blattzahlen zu seinen Quellen angibt, bleiben diese unkommentiert und wohl auch ungeprüft. Und historische Ereignisse, die in der Forschung hinlänglich bekannt sind oder sogar schon ediert wurden, werden nicht mit einer Anmerkung versehen.[9] Usw.
So bleibt zu resümieren, dass für den Anfang der Haberkornschen Chronik nach wie vor die Ausgabe von Stephan zu benutzen ist. Zum Abgleich der Schilderungen Haberkorns sollten dann die Kamenzer Stadtbücher und als Leitfaden das Kamenzer Urkundenbuch [10] benutzt werden. Den weiteren Text sollte man nur im Bewusstsein der oben genannten Kritikpunkte lesen.
Erst im Nachhinein wird dann auch klar, was die Reihenherausgeber, zu denen der Bearbeiter selbst gehört, mit den Worten meinten, dass die in den Chroniken "gebannten geschichtlichen Begebenheiten" "ihren eigenen unveränderlichen Wahrheitsgehalt" (VIII) besäßen. Leopold von Ranke hätte es nicht besser formulieren können - aber sind Geschichts- respektive Editionswissenschaft nicht schon ein Stück weiter?
Anmerkungen:
[1] Verzeichnis Oberlausitzischer Urkunden, Heft 1-8 (965-1490), Görlitz 1799-1805.
[2] Siehe z.B. in letzter Zeit Enno Bünz: Denn tuchmachern stehet zu vorsorgenn. Bemerkungen zur Ordnung der Löbauer Spielprozession von 1521, in: Volkskunde in Sachsen 22 (2010), 9-50, hier 25f., der sich wiederum auf Gustav Schuberth: Chronik der Stadt Großenhain vom Jahre 1088 bis auf die Gegenwart, Großenhain 1887-1892, 22f., Anm. 4 bezieht. Schubert wiederum nennt als Quelle eine "chronikalische Notiz", ohne dies zu präzisieren. Vielleicht handelt es sich um die unten in Anm. 3 genannte Chronik oder die in Anm. 4 genannten Annalen.
[3] Simone Flammiger / Jürgen Hönicke: Chronik der Stadt Löbau. 1221-1700. Herausgegeben aus Anlass des 780. Jubiläums der Stadt Löbau und des 655. Jubiläums des Sechsstädtebundes im Jahre 2001, Löbau 2001.
[4] Vgl. zu Bautzen Richard Needon: Die domstiftlichen Jahrbücher von 1388 bis 1530, die älteste bekannte erzählende Geschichtsquelle Bautzens, in: Bautzener Geschichtsblätter (1909), 1. Heft, 9-11, hier 10.
[5] Lars-Arne Dannenberg: Kamenz und der Sechsstädtebund aus der Sicht des Stadtchronisten Haberkorn, in: Thomas Binder (Hg.): 666 Jahre Sechsstädtebund (Veröffentlichungen aus dem Stadtarchiv Kamenz, 1), Görlitz / Zittau 2012, 85-100, hier 93.
[6] Vgl. zu weiteren Kritikpunkten der Textgestaltung die Rezension von Friedrich Pollack in Neues Lausitzisches Magazin 136 (2014), 162f.
[7] Gerhard Stephan (Hg.): Die Haberkornsche Stadtchronik (Jahrbuch des Geschichts- und Altertumsvereins Kamenz und Umgebung 1931-1933 [3 Hefte]), Kamenz 1934.
[8] Vgl. Stephan (1934), wie Anm. 7, 3. Heft, 48.
[9] Siehe z.B. zur Hinrichtung des Bautzener Stadtschreibers Peter Preischwitz: Verrat an den Feind? Die Bekenntnisse des Peter Preischwitz (1430/31), in: Gerd Schwerhoff / Marion Völker (Hgg.): Eide, Statuten und Prozesse. Ein Quellen- und Lesebuch zur Stadtgeschichte von Bautzen (14.-19. Jahrhundert), Bautzen 2002, 138-149; oder zur Prozession, die 1520 Regen bringen sollte, Hermann Knothe (Hg.): Urkundenbuch der Städte Kamenz und Löbau (Codex Diplomaticus Saxoniae Regiae 2.7), Leipzig 1883, 186f., Nr. 239: "Feierliche und erfolgreiche Prozession nach den Kirchen der Stadt, um die Heiligen, deren Patrone, um Regen anzuflehn."
[10] Knothe (1883), wie Anm. 9.
Christian Speer