Robert Luft: Parlamentarische Führungsgruppen und politische Strukturen in der tschechischen Gesellschaft. Tschechische Abgeordnete und Parteien des österreichischen Reichsrats 1907-1914 (= Veröffentlichungen des Collegium Carolinum; Bd. 102), München: Oldenbourg 2012, 2 Bde., 1288 S., ISBN 978-3-944396-45-3, EUR 128,00
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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Robert Luft lobt im ersten Satz des Vorworts zwar die Vorteile "schlanker Bücher", hat aber mit dieser Arbeit in zwei Bänden, die aus einer Dissertation in Mainz von 2001 hervorgegangen ist, diese Einsicht selbst nicht befolgt. Das Ergebnis beeindruckt aber nicht nur wegen der vielen Seiten, sondern auch wegen des Forschungsansatzes, der Durchführung der Untersuchung und deren überzeugender Darstellung. Im ersten Band erörtert der Verfasser zunächst ausführlich die Methode der "kollektiven Biographie", die er zu einer "dichten Beschreibung" (338) des Gremiums der 163 tschechischen Abgeordneten des Reichsrats in Wien aus den beiden Wahlen von 1907 und 1911 verwendet; im zweiten Band folgen dann ausführliche Biografien der Abgeordneten mit allen verfügbaren Daten sowie die Quellenangaben, eine Literaturliste von 89 Seiten und schließlich zwei Register zu den Personen- und Ortsnamen.
Luft stellt zu Beginn zwei gängige Vorstellungen zur Geschichte Böhmens in Frage: zum einen jene vom unvermeidbaren Ende der Monarchie, die infolge einer Auflösung im Innern in den Ersten Weltkrieg getaumelt sei, und zum anderen jene, dass die Tschechoslowakische Republik von 1918 einen vollständigen Neuanfang tschechischer Politik bedeutet habe. Hier setzt seine Untersuchung der ersten "Volkswahl" nach Einführung des allgemeinen Stimmrechts für Männer von 1907 an und verfolgt die Entwicklung des Parteiensystems und die Einübung parlamentarischer Verhaltensweisen bis zum Vorabend des Weltkriegs. Der Verfasser stellt fest, dass in dem Untersuchungszeitraum von nur sieben Jahren der Reichsrat eine "Scharnierfunktion" (11) einnahm und die beiden Legislaturperioden als eine "Phase eines grundlegenden Wandels der politischen Kultur" des tschechischen Bevölkerungsteils verstanden werden kann (656). Der Verfasser sieht für die Habsburgermonarchie alten Stils das Ende des "langen 19. Jahrhunderts" in der Wahl von 1907. Der Weg zu diesem Ergebnis ist lang und für den Leser nicht leicht zu bewältigen.
Zunächst erläutert Luft die Methode einer kollektiv-biografischen Analyse mit umfassenden Verweisen auf eine breite Literatur. Darauf folgt eine knappe Geschichte der tschechischen Parteien, deren Mitglieder von Honoratioren zu Interessenvertretern ihrer Klientel wurden und darin die wirtschaftliche Entwicklung der tschechischen Teilgesellschaft widerspiegelten. Er stellt die Existenz von fünf gesellschaftlichen Lagern fest, die durch insgesamt 20 politische Parteien vertreten wurden, die untereinander durch Bündnisse verflochten waren und insgesamt ein stabiles politisches System garantierten. Eine Vielzahl von Vereinen und ökonomisch orientierten Verbänden im Vorfeld der Parteien lassen die tschechische Gesellschaft als ein "Volk der Vereine" (167) erscheinen, was mit dem Begriff der "Versäulung" am besten charakterisiert ist.
Im Anschluss an diese Ausführungen schildert der Verfasser das komplizierte Wahlsystem, die Probleme der Wahlkreisgeometrie und der Mehrheitswahl mit zwei Wahlgängen. Bemerkenswert ist, dass die Wahlbeteiligung im ersten Wahlgang mit 80 Prozent (230) sehr hoch und das Ergebnis aussagekräftig war, der zweite Wahlgang durch die Bündnisse der Parteien um Personen und Interessen dann kein repräsentatives Ergebnis mehr ergab, da man die Sozialdemokraten systematisch benachteiligte. Insgesamt wurden auf diese Weise in beiden Wahlen 163 Abgeordnete der tschechischen Gesellschaft durch die Wähler ermittelt.
Durch die Auswertung der Personaldaten erstellt der Verfasser dann eine Kollektivbiografie der Abgeordneten und deren Typologie. Auf Grundlage der statistischen Angaben über Alter, Herkunft, Bildung, Konfession (98 Prozent der Abgeordneten waren katholisch, 388) und Karrieren entsteht das Bild einer "relativ geschlossenen Führungsschicht" (471), die auch durch Neuzugänge bei der Wahl von 1911 nicht grundsätzlich verändert wurde und damit eine parlamentarische Elite des tschechischen Bevölkerungsteils darstellte (475).
Der Verfasser schließt eine Darstellung der Organisationen - Fraktionen, Klubs und Vereine - an, die die Abgeordneten nach ihrer Wahl gebildet haben, denn das Gesetz sah Parteien als eigenständige Organisationen nicht vor. Zusammenarbeit und Streit bilden hier ein manchmal verwirrendes Bild (500 ff.), denn die parlamentarische Tätigkeit fand in Ausschüssen und im Plenum statt, wo durch Reden, Debatten und Interpellationen, aber auch mittels Obstruktion "Politik" gemacht wurde. Auch wenn die Abgeordneten an keiner Regierung beteiligt waren und es auch keine Zusammenarbeit über die Sprachgrenzen hinweg gab, so entwickelte sich in diesem Raum doch eine langsame Professionalisierung ihrer Tätigkeit, die auch zu kleinen Erfolgen im Umgang mit der Verwaltung führte, aber ohne Beteiligung an der politischen Verantwortung blieb. Dieses leitet zu einer allgemeinen Charakteristik der "politischen Kultur" des alten Österreich über (585 f.), die - von außen betrachtet - oft zu Spott und Satire einlud. Luft findet den tieferen Sinn dieses komplexen politischen Systems in einem Machtkampf um ökonomische und weltanschauliche Probleme, der ohne äußere Regeln stattfand, in dem den Beteiligten die Konsensfähigkeit fehlte, Proporz und Junktim als Mittel der Durchsetzung politischer Ziele dienten, Antichambrieren und Korruption üblich waren und schließlich die Obstruktion als Kampfmittel gegen intransparente Entscheidungen genutzt wurde. Immerhin verwendete man im Parlament aber keine Waffen, wie der Verfasser ironisch feststellt (620).
In diesem politischen Umfeld ermittelte eine staatsferne tschechische Gesellschaft ihre Repräsentanten, die durch Wahlen an Selbstbewusstsein gewannen, sich in der "Politik" schulten, aber keine Ämter in Wien anstrebten. Ohne Beteiligung des Adels entstand in dieser grundlegenden Formierungsphase eine neue Elite, die über den Weltkrieg hinaus die Geschicke der Tschechen leiten sollte.
Hierin liegt aber auch der Grund für eine kritische Bemerkung, denn der Verfasser betrachtet ausdrücklich nur einen Teil der Gesellschaft in den böhmischen Ländern; da der deutschsprachige Teil nur wenige Male erwähnt wird, entsteht der Eindruck einer tschechischen Insel im Lande. Die nationale Problematik in Böhmen in ihren verschiedenen Aspekten (Sprachenrecht, Schulwesen, Beamtenschaft) wird nicht behandelt; auch gesamtstaatliche Organisationen (Militär, Bürokratie, Kirchen, Großindustrie und Verkehrswesen) werden nicht berücksichtigt; die Juden fehlen als eigenes Thema. Dies entspräche aber auch nicht der Absicht des Verfassers. Bezogen auf die Herausbildung einer tschechischen Elite, die dann in der ersten Tschechoslowakischen Republik die politische Führung übernahm, hat er eine imponierende Leistung erbracht. Fleiß und kompetente Durchdringung der Gesamtproblematik seien hervorgehoben. Dieses Werk wird für das Verständnis der tschechischen Gesellschaft unerlässlich sein, stellt aber auch den Leser vor keine leichte Aufgabe, denn es wiegt 2,3 Kilogramm.
Manfred Alexander