Walter Rauscher: Die fragile Großmacht. Die Donaumonarchie und die europäische Staatenwelt 1866-1914, Teil 1 und 2, Bruxelles [u.a.]: Peter Lang 2014, 2Bd., 1012 S., ISBN 978-3-631-65338-8, EUR 129,00
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Mit dem vorliegenden Werk tritt Walter Rauscher, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften im Institut für Neuzeit- und Zeitgeschichtsforschung, in gewisser Weise in die Fußstapfen von Francis Roy Bridge, emeritierter Professor für Diplomatiegeschichte an der Universität Leeds. Bridge, einer der führenden internationalen Experten auf dem Gebiet der Außenpolitik der Habsburgermonarchie, hat seit den 1970er Jahren viele ausgezeichnete einschlägige Veröffentlichungen vorgelegt. [1] Rauscher ist ebenfalls ausgewiesener Diplomatiehistoriker: 1993 erschien von ihm eine wichtige Monographie zur Außenpolitik Österreich-Ungarns in der Ära Kálnoky. [2] Nachdem er seit den 1990er Jahren vor allem mit Editionsprojekten zur Außenpolitik der ersten österreichischen Republik beschäftigt war, stellen die beiden hier zu rezensierenden Bände gewissermaßen eine Rückkehr zu seinen wissenschaftlichen Wurzeln dar. Der Titel spielt an auf ein Grundproblem österreichisch(-ungarisch)er Außenpolitik, dass nämlich die Habsburgermonarchie in besonderer Weise angewiesen war auf ein funktionierendes internationales System. Als multinationales Imperium war sie in einer Welt, in der immer mehr das Ideal des ethnisch homogenen Nationalstaats an Bedeutung gewann, in besonderer Weise elementaren Gefährdungen ausgesetzt. Gelang es in der Ära Metternich vor 1848 noch leidlich, im sogenannten "Bündnis der drei schwarzen Adler" (Österreich, Preußen, Russland) die außenpolitischen Interessen der Habsburgermonarchie zu wahren, so schufen die Folgen der Revolution von 1848/49 und insbesondere die tiefe Entfremdung zwischen Sankt Petersburg und Wien als Konsequenz von dessen ungeschicktem Taktieren im Krimkrieg (1853-56) eine Situation, in der die Habsburgermonarchie potentiell isoliert dastand. Der Verlust der Vormachtstellung in Italien und Deutschland als Folge des Kriegs gegen Sardinien-Piemont und Frankreich 1859 und des Deutschen Kriegs gegen Preußen und seine Verbündeten 1866, in denen Russland neutral blieb und damit implizit Österreichs Gegner unterstützte, war das Resultat dieser Entwicklung. Seither sah sich Wien beschränkt insbesondere auf seine Stellung auf dem Balkan. Dort jedoch kollidierten seine machtpolitischen Interessen zunehmend mit denen Russlands, das die Unabhängigkeitsbestrebungen der orthodoxen Balkanvölker vom Osmanischen Reich im Sinne eigener Expansionsabsichten dort förderte. Dies musste den territorialen Bestand der Habsburgermonarchie gefährden, weshalb eine Wiederanknüpfung an die vormals freundschaftlichen Beziehungen zusätzlich erschwert wurde.
Die Darstellung Rauschers fußt neben umfassender Kenntnis der einschlägigen Literatur und der gedruckten Quellen auf intensiver Forschung in zahlreichen Archiven, darunter v.a.: Haus-, Hof- und Staatsarchiv, Politisches Archiv und Österreichisches Staatsarchiv Kriegsarchiv (beides Wien), Bayerisches Hauptstaatsarchiv München, Public Record Office London, Magyar Országos Levéltár Budapest, Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes Berlin, Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin, Bundesarchiv Koblenz, Bundesarchiv-Militärarchiv Freiburg, Archives du Ministère des Affaires Étrangères Paris, Archivio Storico del Ministero degli Affari Esteri Roma, Schweizerisches Bundesarchiv Bern.
Für Walter Rauscher markiert der Zeitraum 1866 bis 1914, anders als das halbe Jahrhundert zuvor, eine fast fünfzigjährige Friedensperiode. Tatsächlich führte Österreich-Ungarn in dieser Zeit nur eine militärische Operation durch, die in gewisser Weise ein expansiver Akt war, nämlich die Besetzung Bosnien-Hercegovinas 1878 als Folge der Ergebnisse des Berliner Kongresses; 1908 wurde Bosnien-Hercegovina schließlich förmlich annektiert, was die sogenannte Annexionskrise auslöste. Dies war die einzige Erweiterung des Territoriums der Monarchie in der an Gebietsabtretungen reichen Regierungszeit Kaiser Franz Josephs. Trotz der Tatsache, dass Frieden herrschte, waren diese Jahre gleichwohl gekennzeichnet durch einige große außenpolitische Krisen und damit verbundener unmittelbarer Kriegsgefahr, hinzu kamen insbesondere innenpolitische Schwierigkeiten als Konsequenz des Ausgleichs mit Ungarn 1867 und der Strukturmechanismen der Dezemberverfassung der westlichen Reichshälfte Österreich-Ungarns ("Cisleithanien"). Innerhalb des europäischen Mächtesystems sieht Rauscher Österreich-Ungarn als eine Großmacht zweiter Ordnung vergleichbar Frankreich oder Italien.
Insgesamt fünf zentrale Zäsuren benennt Walter Rauscher für die von ihm analysierten fünfzig Jahre: Erstens der Umbau des Kaisertums Österreich in eine aus zwei autonomen Staaten bestehende Doppelmonarchie, die auf der faktischen Privilegierung zweier Völker - Deutsche und Magyaren - beruhte, die grundsätzlichen Strukturprobleme des Vielvölkerstaats allerdings dauerhaft nicht lösen konnte. Zweitens die Gründung des Deutschen Reiches 1870/71 im Gefolge des preußisch-französischen Kriegs, in dem Österreich-Ungarn aus guten Gründen neutral blieb, dessen Ergebnisse aber letztendlich, auch als Folge der Übernahme des Amtes des Außenministers durch Gyula Graf Andrássy, zu einer Wiederannäherung zwischen der Habsburgermonarchie und Preußen-Deutschland führten. Die Fixierung Wiens auf den 1879 abgeschlossenen Zweibund mit dem Deutschen Reich sieht Rauscher als Ausdruck einer Verzweiflungs- und Prestigepolitik der Monarchie. Gleichwohl war dieses Bündnis, das bis 1918 Bestand haben sollte, auch und vor allem Ausdruck der mit dem Ausgleich geschaffenen innenpolitischen Lage. Sowohl für die deutschösterreichischen als auch für die nationalmagyarischen Eliten garantierte der Zweibund den Bestand der Doppelmonarchie und damit der Errungenschaften des Jahres 1867 und den Schutz vor der befürchteten "slawischen Flut". Drittens die bereits erwähnte Annexionskrise 1908/09, die das ohnehin belastete Verhältnis zu Russland noch einmal nachhaltig und dauerhaft zerrüttete. Viertens die beiden Balkankriege 1912/13, durch die das Osmanische Reich endgültige den größten Teil seiner europäischen Besitzungen verlor, deren Aufteilung unter den expansionsorientierten jungen Nationalstaaten auf dem Balkan wegen der Gemengelage der Ethnien und Religionen aber neue Konfliktherde schuf, die geeignet waren, den Bestand der Habsburgermonarchie zu gefährden. Fünftens das erfolgreiche Attentat auf den Erzherzog-Thronfolger Franz Ferdinand von Österreich-Este am 28. Juni 1914, auf das Österreich-Ungarn zur Wahrung seines Großmachtstatus mit einem lokalen Krieg gegen Serbien antworten zu müssen glaubte.
Rauscher geht davon aus, dass Wien einen Weltkrieg nicht entfesseln wollte. Mitverantwortung für die Eskalation hätten sowohl Großbritannien und Frankreich getragen als auch die "Sekundanten der Kontrahenten, Deutschland und Russland", die es in der Hand gehabt hätten, dem Konflikt die Energie zu entziehen. Rauschers Werk ist eine im besten Sinne des Wortes konventionelle Diplomatiegeschichte, die ein breites Panorama entfaltet und deren Schwerpunkt auf der Analyse der internationalen Beziehungen der Jahre 1866 bis 1914 liegt. Aspekte der Wirtschaftsgeschichte, der Innenpolitik, der Mentalitäts- und Mediengeschichte werden mit einbezogen, sie haben jedoch eine in erster Linie dienende Funktion. Größere theoretische Reflexionen sind ebenfalls nicht Rauschers Erkenntnisinteresse. Im Hinblick auf die sieben Außenminister zwischen 1866 und 1914 verweist er darauf, dass deren Persönlichkeit und politisches Denken ebenfalls in die Analyse außenpolitischen Handelns einbezogen werden müsse. Eine derartige Herangehensweise mag Vertretern moderner kulturgeschichtlicher oder transnationaler Ansätze, vielleicht auch der sich in den letzten Jahren erfreulich fruchtbar entwickelnden Internationalen Geschichte möglicherweise etwas altbacken oder konservativ vorkommen.
Man sollte sich allerdings einen wichtigen Vorzug der Studie bewusst machen, gerade weil dies gegenwärtig offenbar nicht mehr selbstverständlich ist: Rauschers "fragile Großmacht" ist das Ergebnis jahrzehntelanger Beschäftigung mit diplomatiegeschichtlichen Themen und der daraus resultierenden intensiven Kenntnis von Quellen und Literatur, insbesondere auch des ungedruckten Archivmaterials. Mögliche Kritiker sollten in der Lage sein, sich auf diesem Felde mit ihm zu messen.
Anmerkungen:
[1] Vgl. v.a. Francis Roy Bridge: From Sadova to Sarajewo. The Foreign Policy of Austria-Hungary, 1866-1914, London / Boston 1972; Ders.: Österreich-(Ungarn) unter den Großmächten. In: Adam Wandruszka / Peter Urbanitsch (Hgg.): Die Habsburgermonarchie 1848-1918. Bd. 6.1.: Die Habsburgermonarchie im System der internationalen Beziehungen. Wien 1989, 196-373; Ders.: The Habsburg Monarchy among the Great Powers. 1815-1918, Oxford 1990.
[2] Walter Rauscher: Zwischen Berlin und Sankt Petersburg. Die österreichisch-ungarische Außenpolitik unter Gustav Graf Kálnoky 1881-1895, Wien / Köln / Weimar 1993.
Matthias Stickler