Verena Kasper-Marienberg: "vor Euer Kayserlichen Mayestät Justiz-Thron". Die Frankfurter jüdische Gemeinde am Reichshofrat in josephinischer Zeit (1765-1790) (= Schriften des Centrums für Jüdische Studien; Bd. 19), Innsbruck: StudienVerlag 2012, 501 S., ISBN 978-3-7065-4974-5, EUR 49,90
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Die aus einer Grazer Dissertation hervorgegangene Studie kombiniert die Jüdische Geschichte und die Erforschung der Reichsgerichtsbarkeit, in dem sie die Prozesse der Frankfurter jüdischen Gemeinde in der Zeit Josephs II. als Beispielfall für die Verrechtlichung von Konflikten zwischen Juden (insbesondere jüdischen Kollektiven) und Obrigkeiten untersucht. Weit über die Beispielfälle hinaus liefert die Studie jedoch auch Einblicke in innerjüdische Strategien zum Umgang mit christlichen Obrigkeiten sowie in die Arbeitsweisen und in juristische und politische Handlungsweisen des kaiserlichen Reichshofrats.
Die Verfasserin Verena Kasper-Marienberg benennt in ihrer Einleitung drei Schritte, mit denen sie sich ihrem Thema nähert: Erstens wird eine genaue Analyse des Anteils von Prozessen mit jüdischer Beteiligung am Gesamtaufkommen der Reichshofratsprozesse im 18. Jahrhundert vorgenommen. Zweitens werden auf dieser Grundlage Relevanz und Bedeutung der Prozesse der Jüdischen Gemeinde Frankfurt, also einer jüdischen Institution, herausgearbeitet und deren Besonderheiten dargestellt - etwas, was sich von der Analyse zivilrechtlicher Verfahren jüdischer Einzelpersonen erheblich unterscheidet. Drittens fragt die Studie nach den im Reichshofrat zuständigen Referenten für diese Prozesse und erkennt in ihnen eine Gruppe von Spezialisten für Fragen jüdischer Rechtsverhältnisse. Die wichtigsten Erkenntnisse liefert eine Datensammlung zu 28 Prozessen der Frankfurter Jüdischen Gemeinde im Untersuchungszeitraum. Dass diese Gemeinde besonders hervorgehoben wird, liegt an ihrer überproportionalen Präsenz unter den Verfahren (und damit auch in den Quellen). Das Schwergewicht dieser Frankfurter Prozesse macht jedoch deutlich, dass die Aussagen der Studie nicht auf die große Zahl der Landjudenschaften übertragen werden darf, wie die Verfasserin selbst betont (19).
Die mittlerweile erfreulich fortgeschrittene Verzeichnung des Reichshofratsbestandes erlaubt Kasper-Marienberg die Festlegung der Gesamtzahl von 1385 Verfahren mit jüdischer Beteiligung im 18. Jahrhundert. Verglichen mit den 1250 Verfahren mit jüdischer Beteiligung, die Barbara Staudinger für die Jahre 1559-1669 nachgewiesen hat [1], ergibt sich ein erheblicher Anstieg, der mit der insgesamt steigenden Zahl von Reichshofratsverfahren parallel geht. Unter Extrapolation der noch fehlenden Jahre schätzt die Verfasserin den Gesamtanteil der Verfahren mit jüdischer Beteiligung auf ca. 5 Prozent und damit deutlich höher als am konkurrierenden Reichskammergericht (ca. 1,5 Prozent) und auch erheblich höher, als der Anteil von Juden an der Gesamtbevölkerung des Alten Reiches war (max. 1,4 Prozent).
Unter den Verfahren mit jüdischer Beteiligung waren ca. 150 aus dem 18. Jahrhundert, die eine Jüdische Gemeinde betrafen und unter diesen wiederum 93 Frankfurter Fälle. Alleine 76 resultierten aus Konflikten mit dem Frankfurter Magistrat, wohingegen Prozesse Frankfurter jüdischer Einzelpersonen sonst zumeist gegen Reichsfürsten und Reichsritter angestrengt wurden. Kasper-Marienberg konstatiert aber auch eine Zunahme innerjüdischer Streitigkeiten, die an den Reichshofrat gebracht wurden und auf einen Einflussverlust der rabbinischen Elite verweisen.
Neben diesen fallstatistischen Auswertungen liefert die Studie einen genauen Blick auf das Richterpersonal für den Untersuchungszeitraum 1765-1790. In der Verteilung der jüdischen Klagefälle waren Vater und Sohn Steeb aus einer bischöflich-augsburgischen Beamtenfamilie deutlich stärker als andere als Referenten eingesetzt und sie können daher als Spezialisten für Verfahren gelten, in denen die Kenntnis jüdischer Rechts- und Religionsverhältnisse notwendig war. Dies lag wohl nicht an ihrer spezifischen Vorbildung, sondern eher an persönlichen Kontakten zu Juden und damit der Möglichkeit zur informellen Informationsbeschaffung. Die Frankfurter Gemeinde unterhielt einen eigenen Vertreter in Wien; die eigentlichen Prozessbevollmächtigten sind hingegen nicht bekannt.
Die juristischen Argumentationsstrategien der Frankfurter Jüdischen Gemeinde, des Frankfurter Magistrats und des Reichshofrats unterzieht Kasper-Marienberg anhand der Untersuchung von 28 Beispielfällen einer Analyse. Die Verfahren betrafen überwiegend Streitigkeiten um Gemeindeabgaben, die Gemeindemitgliedschaft und -organisation sowie Konflikte um Handelsangelegenheiten (allerdings überwiegend lokal) und den Bann. Die Frankfurter Judenschaft, die meist der Kläger war, zielte in vielen Fällen auf einen vorläufigen Rechtsschutz durch den Kaiser, ohne auf ein Endurteil gegen den Magistrat zu dringen. Immer wieder taucht in den Argumentationen der jüdischen Seite der Verweis auf die kaiserlich erlassene Ordnung von 1616 auf, die nach dem Fettmilch-Aufstand die Wiederzulassung der Frankfurter Jüdischen Gemeinde geregelt hatte. In den verschiedenen, von der Verfasserin eingehend geschilderten Fällen argumentierte man auch mit der normativ-politischen Ordnung der Reichsstadt, die es gegen einen kaiserliche Grundprinzipien untergrabenden Magistrat zu verteidigen gelte. Eine Autonomie innerjüdischer Gerichtsbarkeit suchte man zu verteidigen, beharrte aber auch auf dem Rechtsstatus als "cives romani" (252).
Bei den Entscheidungen des Reichshofrats lassen sich kaum einheitliche Begründungen finden: zwar unterstützte das Gericht jüdische Positionen, die zugleich kaiserliche Rechte beinhalteten. Ansonsten lässt sich die Rechtsprechung nicht als projüdisch charakterisieren, sondern zielte auf einen Ausgleich der Interessen und Wiederherstellung des Rechtsfriedens. Kommissionen wurden in den untersuchten 28 Fällen nur selten erteilt. Größeres Konfliktpotential erwuchs wohl nur aus einem Verbot des jüdischen Mehlhandels. In diesem und einigen wenigen anderen Fällen entwarfen die jüdischen Argumentationsstrategien ein genossenschaftlich-kommunales Bild der Stadt und bezeichneten die Ratsherrschaft als tyrannisch.
Der Band wird durch einen umfangreichen Anhang mit Aufstellungen und Schaubildern zu den 28 Beispielfällen (bis hin zu Stückverzeichnung der Prozessdokumente) sowie zu der in den Quellen zitierten Rechtsliteratur beschlossen.
Insgesamt liegt mit der Studie von Kasper-Marienberg ein weiteres Forschungsergebnis zur Geschichte der bedeutenden Frankfurter Jüdischen Gemeinde vor, die in jüngster Zeit Gegenstand der Studien von Fritz Backhaus, Andreas Gotzmann, Cilli Kasper-Holtkotte u.a.m. gewesen ist. [2] Sie bietet zugleich einen detaillierten Einblick in die Rolle der Reichsgerichtsbarkeit für die Lage der Juden im Reich. Zentrale Fragen wie die der Existenzsicherung jüdischen Lebens und der Autonomierechte der Gemeinden wurden hier verhandelt. Zugleich liefert die Studie einen Blick auf die Rechtspraxis im Alten Reich, zu der die Reichsgerichtsbarkeit einen erheblichen Beitrag leistete.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Barbara Staudinger: "Gelangt an eur kayserliche Majestät mein allerunderthenigistes Bitten": Handlungsstrategien der jüdischen Elite am Reichshofrat im 16. und 17. Jahrhundert, in: Sabine Hödl (Hg.): Hofjuden und Landjuden: Jüdisches Leben in der Frühen Neuzeit, Berlin / Wien 2004, 143-183.
[2] Vgl. in Auswahl Fritz Backhaus (Hg.): Die Frankfurter Judengasse. Jüdisches Leben in der Frühen Neuzeit, Frankfurt a.M. 2006; Andreas Gotzmann: Jüdische Autonomie in der frühen Neuzeit. Recht und Gemeinschaft im deutschen Judentum, Göttingen 2008; Cilli Kasper-Holtkotte: Die jüdische Gemeinde von Frankfurt/Main in der Frühen Neuzeit: Familien, Netzwerke und Konflikte eines jüdischen Zentrums, Berlin 2010.
Stefan Ehrenpreis