Anja Amend-Traut / Josef Bongartz / Alexander Denzler u.a. (Hgg.): Unter der Linde und vor dem Kaiser. Neue Perspektiven auf Gerichtsvielfalt und Gerichtslandschaften im Heiligen Römischen Reich (= Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich; Bd. 73), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2020, 320 S., 4 Farb-, 2 s/w-Abb., ISBN 978-3-412-51720-5, EUR 65,00
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Anja Amend-Traut / Anette Baumann / Stephan Wendehorst u.a. (Hgg.): Die höchsten Reichsgerichte als mediales Ereignis, München: Oldenbourg 2012
Zu den hervorstechendsten Merkmalen des Gerichtswesens im frühneuzeitlichen Alten Reich gehört ohne Zweifel seine enorme Komplexität. Das gilt ganz besonders für die territoriale und lokale Ebene. Hier standen sich nicht nur weltliche und geistliche Gerichtsbarkeit gegenüber, sondern es existierten oftmals auch mehrere historisch gewachsene Gerichtsinstanzen nebeneinander. Hinzukamen vor allem in herrschaftlich durchmischten Gebieten die Konkurrenz zwischen den Gerichten verschiedener Herrschaftsträger und die Koexistenz unterschiedlicher Verfahren, etwa der traditionelle Rückgriff auf hergebrachte Spruchkörper wie die Schöppenstühle, die lange inter- und transterritorial tätig waren, oder landesherrliche Instanzenzüge als Zeichen eigener territorialer Staatlichkeit. Schließlich gab es eine Vielzahl von gesonderten Gerichtsbarkeiten für bestimmte Personengruppen, etwa Juden, Handwerker, Kaufleute, Angehörige des Klerus, des Adels, des Militärs oder der Zünfte. Das führt nicht selten dazu, dass selbst Spezialisten ob der überbordenden Heterogenität der in einem einzelnen Landstrich vorhandenen Gerichte den Überblick verlieren - weshalb das Feld der historischen Gerichtsforschung als ein Paradebeispiel der auch in anderen Bereichen der Geschichte der Frühen Neuzeit im deutschsprachigen Raum dringend notwendigen Kooperation zwischen Lokal-, Landes- und Reichsgeschichte gelten darf.
Dieser Aufgabe widmet sich seit geraumer Zeit das Netzwerk Reichsgerichtsbarkeit, ein Zusammenschluss jüngerer (Rechts-)Historikerinnen und Historiker, in Zusammenarbeit mit der Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung, die seit Jahrzehnten die Erforschung der Höchstgerichtsbarkeit des Alten Reichs betreibt. Die ursprüngliche Konzentration auf Reichshofrat und Reichskammergericht haben beide dabei zugunsten einer Perspektive aufgegeben, die versucht, das Reich als einen imperialen Rechtsraum (10) zu erfassen, der von den Institutionen des Reichs zusammengehalten wurde, der Vielfalt der verschiedenen territorialen und lokalen Gerichtsbarkeiten aber nicht übergestülpt war, sondern eine Einheit mit ihr bildete. Analytisch gefasst werden soll dies mit dem Begriff der "Gerichtslandschaft", der bereits in früheren Publikationen eingeführt wurde. Ursprünglich vorgeschlagen, um das Zusammenspiel verschiedener lokaler und territorialer Gerichte in einer Region zu beschreiben, soll er nun dazu dienen, die Gerichtsbarkeit im gesamten Reich "in all ihrer Mannigfaltigkeit" zu untersuchen (14). In der Einleitung der Herausgeberinnen und Herausgeber, die dieses Forschungsprogramm noch einmal skizziert, wird bereits darauf hingewiesen, dass ein solches Vorhaben nicht beanspruchen kann, das Thema umfassend und abschließend zu betrachten. Vielmehr sollen unterschiedliche Zugänge erprobt und verschiedene Perspektiven auf die Gerichtsvielfalt des Alten Reiches geworfen werden, was auch einschließt, älteren Meistererzählungen von der Ablösung einer ineffizienten und chaotischen vormodernen Gerichtsbarkeit durch moderne, rationale Gerichtsstrukturen im 19. Jahrhundert entgegenzuwirken. Wie in anderen Ansätzen der aktuellen Reichsforschung geht es also auch hier darum, die lange Zeit negativ etikettierte Vielfalt von Normen, Institutionen und Strukturen im Reich positiv zu wenden und nach ihren Kohäsionskräften sowie nach den von ihr ermöglichten Handlungsspielräumen für die Akteure zu fragen.
Die insgesamt dreizehn Beiträge des Bandes setzen sich allerdings in unterschiedlicher Intensität mit dem Konzept der "Gerichtslandschaft" auseinander, das überhaupt nur in fünf Texten (plus der Einleitung) explizit auftaucht. Mehrheitlich bemühen sich die Autorinnen und Autoren vielmehr, aus unterschiedlichen Blickwinkeln heraus das Phänomen der Gerichtsvielfalt zu fassen, zum Beispiel im Hinblick auf einzelne Personengruppen wie bei der jüdischen Gerichtsbarkeit (S. Rohrbacher), der akademischen Gerichtsbarkeit (M. Füssel) oder der Gerichtsbarkeit in Handwerk und Gewerbe (V. Demont). Eine weitere Gruppe von Artikeln setzt sich mit einzelnen Institutionen, Orten oder Regionen auseinander: S. A. Stodolkowitz mit der Institutionalisierung der landesherrlichen Justiz in Braunschweig-Lüneburg, J. Bongartz mit dem Würzburger Kanzleigericht als zentrales Gericht der Würzburger Fürstbischöfe und seiner Konkurrenz zu anderen Gerichtsbarkeiten, und M. Grund mit dem Wertheimer Zentgericht und damit einer wichtigen Gerichtsbarkeit im ländlichen Raum Schwabens oder Frankens, die quer zur territorialen Struktur lag. Mit den verschiedenen Gerichtstypen im norddeutschen Raum befasst sich P. Oestmann, der gleichzeitig auf den heuristischen Gewinn des Vergleichs hinweist und das Weiterleben traditioneller Gerichtsstrukturen wie der genossenschaftlichen Dinggerichtsbarkeit hervorhebt, die sich im Laufe der Frühen Neuzeit durchaus professionalisierten und modernen Prozessmaximen anpassten. Stärker mit den Umständen der frühmodernen Gerichtsvielfalt setzt sich D. Willoweit in seinem Beitrag zur Bedeutung subjektiver Rechte auseinander; ebenso M. Ströhmer, der die Potentiale einer jurisdiktionsökomischen Betrachtung resümiert, bei der vor allem die starke Abhängigkeit der Gerichtsstrukturen von ständischen Finanzierungen, aber auch die Vorteile der "Anbieterkonkurrenz" für die Justiznutzer deutlich werden. Eine dritte Gruppe von Beiträgen beschäftigt sich schließlich mit dem Verhältnis von Gerichtsvielfalt und Raum: A. Krey kritisiert so noch einmal den traditionellen Begriff der "Rechtskreise", der die vermeintlich von den mittelalterlichen Oberhöfen ausgehende Rechtsvereinheitlichung überschätzt und Unterschiede und lokale Dynamiken vernachlässigt. Die Frage, was überhaupt ein Gerichtssprengel ist, stellt am Beispiel der spätmittelalterlichen Landgerichte H. Baumbach, der darauf hinweist, dass sich die Reichweite eines Gerichts aus seiner Nutzung ergab, nicht umgekehrt. Das Gewicht persönlicher Abhängigkeiten bei außergerichtlichen Streitschlichtungen durch Tagfahrten im Hanseraum beschreibt F. Dirks. Und A. Denzler nimmt anhand von süddeutschen Reichskammergerichtsakten eine quantitative Analyse der Gerichtsvielfalt in Altbayern, Franken und Schwaben vor, wo sich immerhin 2.200 Einzelgerichte nachweisen lassen, die 150 verschiedenen Typen entsprachen.
Insgesamt gelingt es dem Band so vor allem, ein eindrucksvolles Bild der frühmodernen Gerichtsvielfalt im Alten Reich zu zeichnen, was erste analytische Zugriffe zu ihrer Erklärung nicht ausschließt. Immer wieder weisen einzelne Beiträge (etwa Ströhmer, Demont und Oestmann) so darauf hin, dass diese Vielfalt nicht zu verwechseln ist mit den Resten einer überkommenen Gesellschaftsordnung, die den Anschluss an eine andernorts bereits galoppierende Modernisierung verpasst hatte. Vielmehr war sie eng mit der pluralen Herrschaftsstruktur im Reich verbunden, ergab sich aber auch und gerade aus Modernisierungsschüben wie zum Beispiel der Tätigkeit der Reichsgerichte. Ob hingegen der Begriff der "Gerichtslandschaft" geeignet ist, solche Dynamiken adäquat abzubilden, bleibt fraglich. Denn seine Offenheit und Wertneutralität ist zugleich Vor- und Nachteil. Einerseits tut er niemandem weh. Andererseits fehlt es ihm aber an analytischer Schärfe, um die Verzahnung von lokalen, territorialen und Reichsgerichten jenseits ihrer bloßen Beschreibung auf den Punkt zu bringen. Die in der Einleitung von den Herausgeberinnen und Herausgebern in dieser Hinsicht selbst geäußerte vorsichtige Skepsis kann man insofern nur teilen.
Falk Bretschneider