Alexandra Schweiger: Polens Zukunft liegt im Osten. Polnische Ostkonzepte der späten Teilungszeit (1890-1918) (= Studien zur Ostmitteleuropaforschung; 28), Marburg: Herder-Institut 2014, VII + 245 S., ISBN 978-3-87969-381-8, EUR 38,00
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Die "Kresy (Wschodnie)", die Ostrandgebiete der Ersten und Zweiten Republik, sind in Polen ein wichtiger Erinnerungsort. In den letzten drei Jahrzehnten ist hierzu eine Vielzahl an populären und wissenschaftlichen Veröffentlichungen erschienen. Eine Forschungsarbeit, die zu diesem Themenfeld neue Erkenntnisse vorlegen will, muss auf eine sorgfältige methodische und inhaltliche Abgrenzung gegenüber den vorhandenen Arbeiten bedacht sein. Dies unternimmt Alexandra Schweiger in ihrer Hallenser Dissertation, indem sie sich von der politischen Ideengeschichte, der sie die weit überwiegende Zahl der polnischen historiographischen Arbeiten zu den Ostrandgebieten zuordnet, distanziert: Sie beruhe oft auf einer nur punktuellen Lektüre einzelner Autoren und sei nicht frei von unterschwelligen Sympathien für die vorgestellten Konzepte. Demgegenüber erhebt die Verfasserin den Anspruch, die Diskussionen um das künftige polnische Staatsgebiet im Osten, die sich seit den 1890er Jahren intensiviert hatten, systematischer zu erfassen und mit aktuellen kulturwissenschaftlichen Erkenntnissen zum "spatial turn" zu verknüpfen. Ziel ist es, eine "Dekonstruktion von Raumbildern vom polnischen Osten" (9) vorzunehmen.
Der Hauptteil der Arbeit setzt mit einer Darstellung des politischen und gesellschaftlichen Rahmens für die Diskussion um den polnischen Osten ein. Schweiger stellt fest, dass zeitgenössisch kaum mit dem Begriff "Kresy" gearbeitet wurde, sondern vielmehr historische Gebietsbezeichnungen wie Litauen, Rus', Ukraine oder Podolien dominierten. Die verbreitete Berufung auf "föderale Konzepte" kommentiert sie zu Recht kritisch: "Polen, die sich für die Einbeziehung der Ostgebiete in einen polnischen Staat einsetzten, hielten es eher für wichtig, die polnische Präsenz im Osten zu sichern und zu stärken, als dass sie sich mit der Berücksichtigung vielfältiger nationaler, kultureller und religiöser Bedürfnisse der nicht-polnischen Bevölkerung der Ostgebiete auseinandergesetzt hätten" (40).
Ebenso richtig betont die Verfasserin, dass Ostkonzepte in verschiedenen ideologischen Kontexten entstanden. Die Detailanalyse von vier Ostkonzepten fokussiert mit Jan Ludwik Popławski, Władysław Studnicki, Eugeniusz Romer und Oskar Halecki allerdings auf Autoren, die dem nationaldemokratischen, konservativen und christdemokratischen politischen Spektrum nahestanden. Manche Leser mag überraschen, dass Schweiger den nationaldemokratischen Vordenker Popławski in der Tradition des multiethnischen Großreichs Polen-Litauen verortet. Zwar habe Popławski den Westen Polens als Ursprungsraum der Nation gesehen, den Osten aber als Raum der Fortentwicklung und der Zukunft. Mit der litauischen Nationalbewegung sollte Einvernehmen angestrebt werden. Das Zusammengehen mit den Litauern besaß auch für Studnicki besondere Bedeutung und bildete einige der wenigen Konstanten in seinem ansonsten durch zahlreiche politische Richtungswechsel gekennzeichneten publizistischen Werk. Studnicki glaubte allerdings nicht an die Fähigkeit der Litauer (und der Ukrainer), einen eigenen Staat zu organisieren. Er sprach sich stattdessen für die Umorientierung der polnischen Emigrationsbewegung von Westen nach Osten aus. Für Bevölkerungsfragen habe Romer laut Schweiger dagegen wenig Interesse aufgebracht; er beschäftigte sich als Geograph bevorzugt mit den "natürlichen" Grenzen Polens im Osten. Grundsätzlich definierte Romer Polen als geographische Einheit und nicht als Übergangsland zwischen West und Ost. Ihm zufolge lag Polen im östlichen Teil Westeuropas, das bis an Düna und Dnepr reichte. Romer differenzierte kaum nach historischen Gebietseinheiten wie Litauen, Ruthenien oder Ostgalizien und sah den bis 1772 existierenden Staat als "Polen" und nicht als "Union". Darin unterschied er sich diametral von Halecki, der das Ideal von Polen, Litauern und Ruthenen als Interessengemeinschaft beschwor. Für Halecki war der polnische Osten ein Ort der Kultivierung und Zivilisierung aller beteiligter Ethnien, positiv beeinflusst von der lateinischen Kultur des katholischen Abendlandes und geprägt von einer Versöhnung der Gegensätze von Ost und West. Polonität verstand Halecki der Autorin zufolge "überethnisch und historisch, beinahe ethisch" (142).
Allen vorgestellten Ostkonzepten war gemeinsam, dass sie nicht exakt die Grenzen von 1772 einforderten, dass für sie nicht die Zahl der Polen im Osten entscheidend war, sondern deren kulturelle und wirtschaftliche Position, und dass sie einem tendenziell überethnischen Nationsbegriff folgten. Die Ostkonzepte, so Schweiger, seien Teil des polnischen Wir-Diskurses über Nation, Europäizität und Zivilisation gewesen; dabei wurde genau unterschieden zwischen dem "eigenen Osten" und dem konkurrierenden "anderen Osten" - Russland. Deutlicher noch konturiert werden diese Erkenntnisse in der Zusammenfassung, die Überlegungen zu einem Vergleich mit Deutschland enthält. Die Verfasserin stellt fest, dass dem polnischen Blick auf den Osten keine Angst vor einer demographischen Niederlage innwohnte. Während der deutsche Ostdiskurs die slavische autochthone Bevölkerung als Gegner angesehen habe, sei in den polnischen Ostkonzepten Multiethnizität akzeptiert worden, wobei sich die gleichwohl postulierte Dominanz der Polen hochkulturell statt völkisch entfaltet habe. An einigen Stellen ist der Vergleich sehr knapp und spekulativ gehalten, etwa bei den Landschaftsbildern oder bei der Feststellung, dass einer "Unbestimmtheit und Entgrenzung des deutschen Ostens" stets der Bezug auf Traditionen polnischer Staatlichkeit gegenüber gestanden habe - dies ist für Ostkonzepte, die bis zur Schwarzmeerküste reichten, doch etwas fraglich.
Zu den Vorzügen der Arbeit gehören der klare, zuweilen pointierte sprachliche Ausdruck, der nur dann möglich ist, wenn man ein Forschungsfeld souverän überblickt, und die umfassende, systematische Sichtung und Interpretation der Werke der vier Publizisten, Politiker und Wissenschaftler. Dabei stützt sich Schweiger ausschließlich auf veröffentlichte Quellen und hierbei überwiegend auf schriftliche Texte; über Karten vermittelte Raumvorstellungen kommen nur im Kapitel zu Romer zur Sprache. Archivalische Quellen seien, so die Verfasserin, nicht ergiebig, und dort, wo sie es wären, etwa im Falle Romers, für die Fragestellung nicht relevant. Die Beschränkung der Quellenbasis hat konzeptionelle Konsequenzen. Die Verf. moniert, dass die Diskussion weitgehend innerpolnisch verlaufen sei und es kaum inhaltliche Auseinandersetzungen mit Ukrainern oder Litauern gegeben habe. Freimütig räumt sie aber ein: "Um Licht in das verflechtungsgeschichtliche Dunkel zu bringen, wäre ein aufwendiges zusätzliches Quellenstudium nötig" gewesen (9 f.). Warum der "multiperspektivische, transnationale Ansatz" (10) noch nicht einmal getestet wird, ist nicht recht verständlich, denn mit einem Textteil von rund 170 Seiten ist die vorliegende Dissertation nicht übermäßig lang. Die Perspektive der Arbeit wird auch durch die gewählten Begriffsdefinitionen von Diskurs und Konzept eingeengt. Die Verfasserin hält nachdrücklich fest, dass es keinen eigenen polnischen Ostdiskurs gegeben habe. Diskurse seien Verknappungen von Aussagemöglichkeiten, und ein Ostdiskurs hätte demnach konkurrierende Territorialkonzepte für Polen, die ohne besondere Beachtung des Ostens auskamen, verdrängt. Diese Begriffsverwendung überzeugt nicht ganz, da Schweiger zum einen konstatiert, dass Raumvorstellungen grundsätzlich diskursiv produziert werden und damit auf einen weiter gefassten Diskursbegriff zurück greift, und zum anderen den Vergleich mit Deutschland, für das unhinterfragt die Existenz eines Ostdiskurses angenommen wird, einer nicht nur quantitativen, sondern auch strukturellen Asymmetrie aussetzt. Als polnische Ostkonzepte lässt sie nur jene Konzepte gelten, die sich auf den polnischen Staat bezogen und den Osten als essentiellen Teil Polens sahen. Mit dieser Begründung fallen beispielsweise die Stimmen der Krajowcy oder des Sozialisten Leon Wasilewski für eine detaillierte Untersuchung aus.
Insgesamt handelt es sich innerhalb des abgesteckten thematischen Rahmens um eine gut lesbare und informative Studie, die aber etwas zu sehr einer Vorabkalkulation von Forschungsaufwand und Ertrag zu unterliegen schien, weshalb überraschende, inspirierende und weiterführende Momente weitgehend ausbleiben. Vielleicht ist das aber ein neuer Trend?
Stephanie Zloch