Hans-Erich Volkmann: Die Polenpolitik des Kaiserreichs. Prolog zum Zeitalter der Weltkriege, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2016, 517 S., zahlr. s/w-Abb., ISBN 978-3-506-78433-9, EUR 58,00
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Hans-Erich Volkmann beschreibt eingehend alle Windungen und Wendungen der Polenpolitik des Kaiserreiches von 1871 bis zum Ende des Ersten Weltkrieges. Er berücksichtigt dabei so gut wie alle Kräfte in Politik und Gesellschaft, die sich in welcher Form auch immer am kontroversenreichen Diskurs über Polen beteiligten. So gelingt ihm wohl die bislang nuancierteste Darstellung zu diesem politisch und wissenschaftlich sensiblen Thema. Da sich das Buch zur Hälfte mit den Polenplänen und der Polenpolitik des Deutschen Reiches und Österreich-Ungarns während des Ersten Weltkrieges befasst, kann es auch als ein wichtiger Beitrag zum Ersten Weltkrieg angesehen werden und nicht nur als "Prolog zum Zeitalter der Weltkriege", wie der Untertitel suggeriert.
Volkmann stellt keine eigenen (Archiv-)Forschungen an. Er fasst die Fülle der vielen Einzelveröffentlichungen zu den mannigfaltigen Aspekten des Themas zu einer Gesamtdarstellung zusammen. Darin liegt vor allem der Wert des Buches begründet. Keine neuen Erkenntnisse, die nicht schon - zum Teil entlegen - veröffentlicht worden wären. Weil aber eine immense Fülle von Einzelveröffentlichungen in seine Darstellung Eingang gefunden hat, ergibt sich ein differenziertes und in den Urteilen stets abgewogenes Bild.
Basis des Werkes ist allerdings fast ausschließlich die deutschsprachige Sekundärliteratur. In den Anmerkungen und im Literaturverzeichnis tauchen nur sehr vereinzelt original polnischsprachige Titel auf. Etwas befremdlich wirkt, dass gelegentlich auch Wikipedia-Überblicksartikel (immer ohne Datum des Abrufs) in den Anmerkungen als Belegstellen auftauchen. Das Buch ist somit vor allem eine Darstellung, die im Übrigen auch an den Nicht-Fachmann adressiert ist.
Die erste Hälfte des Buches behandelt die Polenpolitik des Kaiserreiches von 1871 bis 1914. In aller nötigen Schärfe wird die auf Bismarck zurückgehende Germanisierungspolitik behandelt: Die Sprachenpolitik mit dem Verbot polnischsprachiger Schulen und des Gebrauchs des Polnischen in der staatlichen Verwaltung, die Ausweisungspolitik gegenüber Polen, die als dringend benötigte Landarbeiter aus Russisch-Polen kamen, und die deutsche Ansiedlungspolitik, welche die Bevölkerungszusammensetzung verändern wollte. Volkmann beschränkt sich dabei nicht auf die Wiedergabe der bekannten Vorgänge, sondern bettet diese in vielfältige Zusammenhänge ein. Er thematisiert z.B. auch die geistigen Wegbereiter (u.a. Eduard von Hartmann, Heinrich von Treitschke), geht eingehend auf den Alldeutschen Verband und den Ostmarkenverein ein, welche mit am schärfsten für die Germanisierungspolitik eintraten, stellt Unterschiede bei den Bismarck nachfolgenden Kanzlern Caprivi und Hohenlohe-Schillingsfürst fest und gibt die breite innerdeutsche Debatte wieder. Einen Schwerpunkt bilden auch die Gegenreaktionen der polnischsprachigen Bevölkerung. Wegen der sprachlichen Unterdrückungspolitik formierte sich immer stärker der nationale Selbstbehauptungswille, der sich in polnischen Vereinen und in einem polnischen Genossenschaftswesen manifestierte. Ihnen widmet Volkmann ein eigenes Kapitel.
Einige Inhalte des Kapitels "Vom National- zum Rassenstaat: Vorzeichen" dürften einem breiteren Publikum am wenigsten bekannt sein: Dass es nämlich schon im Kaiserreich gar nicht wenige Rasseanthropologen gegeben hat: Z.B. Karl Ludwig Schleemann, Übersetzer von Gobineau, Friedrich Ratzel, Schöpfer des Begriffes "Lebensraum". Sie alle unterfütterten die Polenpolitik mit rassistischen Argumenten, Vorzeichen einer späteren Politik eben.
Die Kontinuitäten der Polenpolitik vom Kaiserreich ins "Dritte Reich" aufzuzeigen sind ein besonderes Anliegen Volkmanns. Dies gilt insbesondere auch für die zweite Hälfte des Buches über den Ersten Weltkrieg. "Erstmals wird den widersprüchlichen polenpolitischen Plänen der Mittelmächte, den abweichenden Vorstellungen der deutschen Militärs und der Reichsleitung gebührend Aufmerksamkeit geschenkt", so der Autor im Klappentext. Dem ist zuzustimmen. Auch hier nichts, was neu wäre, aber was durch die vieles zusammenfassende Darstellung ein eigenes Gewicht erhält. In aller denkbaren Ausführlichkeit werden die inhaltlich und während vier langer Kriegsjahre auch zeitlich mehrfach divergierenden Zielvorstellungen von deutscher Reichsleitung und deutschem Militär einerseits und beide im Spannungsverhältnis zu den austro-polnischen Ambitionen Österreich-Ungarns andererseits behandelt. Da ist z.B. der lavierende Kanzler Bethmann-Hollweg, der sich auf eine bestimmte Polenpolitik nicht festlegen lässt, weil er den Ausgleich mit Russland sucht, um es aus der Koalition der Gegner herauszubrechen. Ein polnischer (Vasallen-)Staat unter deutscher Dominanz (deutsches Mitteleuropakonzept) würde diese Bemühungen konterkarieren ebenso wie eine austro-polnische Lösung eines polnischen Königreichs unter Einschluss Galiziens in einer habsburgischen Trippelmonarchie. Diese Lösung stieß anfänglich bei vielen Polen in Österreich und Russisch-Polen auf Sympathien. Das deutsche Militär, hier vor allem Ludendorff, hielt von all dem nichts und betrieb Lebensraumpolitik und hätte die polnische Bevölkerung - zumindest in den Grenzgebieten - am liebsten ausgesiedelt. Als dann 1916 die Mittelmächte dann doch noch einen polnischen Staat proklamierten, ohne bei den divergierenden Zielvorstellungen zu wissen, wie es mit ihm weitergehen sollte, gab es weitere schwerwiegende, auch völkerrechtliche Probleme. Der polnische Staat von 1916 war kein Kriegsgegner. Russland dagegen schon. Zwangsarbeiterrekrutierungen und materielle Ausplünderung vertrugen sich erst recht nicht mit einem im Entstehen begriffenen polnischen Staat. Und als dann noch im Brotfrieden mit der Ukraine 1917 über die Köpfe von Polen hinweg polnische Interessen preisgegeben wurden - die Nahrungsmittellage der Mittelmächte war so verzweifelt - entfremdete sich Polen vollends von den Mittelmächten.
Damit sind nur einige wenige Linien in dem wirren Geflecht der divergierenden Zielvorstellungen herausgegriffen, die in aller Ausführlichkeit unter Berücksichtigung vieler, auch entfernterer Gesichtspunkte behandelt werden. Hier merkt man deutlich die genuine militärhistorische Kompetenz des Verfassers, der Direktor am Militärgeschichtlichen Forschungsamt war. Insgesamt ist Hans-Erich Volkmanns "Polenpolitik im Kaiserreich" ein gründlich recherchiertes Buch, das jedem Leser, gleich ob interessierter Laie oder Historiker vom Fach, eine profunde Kenntnis verschafft. Das gilt ganz besonders für die Zeit des Ersten Weltkrieges.
Manfred Hanisch