Bill Niven: Representations of Flight and Expulsion in East German Prose Works (= Studies in German Literature, Linguistics, and Culture), Woodbridge: Camden House 2014, VIII + 219 S., ISBN 978-1-57113-535-3, GBP 55,00
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Eric Langenbacher / Bill Niven / Ruth Wittlinger (eds.): Dynamics of Memory and Identity in Contemporary Europe, New York / Oxford: Berghahn Books 2012
"Verschwiegene vier Millionen" [1], "Erinnern unerwünscht" [2] - so lauten öffentlichkeitswirksame Thesen über den Umgang in der DDR mit Flucht und Vertreibung Deutscher aus dem östlichen Europa infolge des Zweiten Weltkrieges. Dabei nahmen Historiker/innen durchaus differenziertere Urteile vor. Wir wissen, dass es kein durchgängiges "Tabu" über Flucht und Vertreibung in der DDR gab. Vor allem im Bereich der Kultur gab es eine kontinuierliche Auseinandersetzung. Systematisch erforscht war dies bislang jedoch nicht. Entsprechend findet sich auch in den Medien immer wieder die irrige Behauptung, Flucht und Vertreibung seien in der DDR nicht Gegenstand eines aktiven Diskurses, sondern des "Schweigens" gewesen. [3] Mit der vorliegenden Studie ist dieser Stand ein für alle Mal überholt.
Niven untersucht DDR-Prosa. Aber in ihrer Bedeutung für die Erforschung der Nachgeschichte von Flucht und Vertreibung geht seine Studie weit darüber hinaus. Sie ist ein äußerst wichtiger Beitrag für eine Neubewertung des gesamten DDR-Diskurses über Flucht und Vertreibung. Weil das Buch nicht nur wissenschaftlich präzise, sondern gleichfalls gut lesbar und auf überschaubaren rund 200 Seiten verfasst ist, hat es sogar das Potential, zur Erneuerung des medienvermittelten öffentlichen Gesprächs über die Geschichte der DDR und Flucht und Vertreibung beizutragen.
Die geradezu stereotype Beteuerung eines angeblichen Tabus über Flucht und Vertreibung in der DDR motivierte Niven zu seiner Arbeit. Niven macht deutlich, dass, obgleich die SED ein organisiertes öffentliches Gedenken an Flucht und Vertreibung in der DDR sehr wohl unterbunden habe, dies nicht zwangsläufig für Literatur gegolten habe: "While GDR authors were expected to conform, they did have a degree of freedom in choosing their themes" (5).
Einer der wenigen DDR-Prosatexte, der in der Forschung durchaus im Kontext einer Erinnerung an Flucht und Vertreibung anerkannt war, ist "Kindheitsmuster" von Christa Wolf. Doch laut Niven sei Wolf vielfach missverstanden worden: "Over the decades, it seems, some West German critics [...] never quite understood that Christa Wolf, [...] could be a socialist - and constantly expected her to deliver a coruscating condemnation of the GDR. [...] Rather than measuring Kindheitsmuster against a lofty moral ideal of artistic, ethical, and political commitment, we need to understand it in the context of its time." (107) Der Fall "Kindheitsmuster" ist damit nicht nur ein Paradigma der Missverständnisse über DDR-Literatur generell, sondern ebenso über DDR-Literatur zu Flucht und Vertreibung.
Nur weil Romane oder auch Filme über Flucht und Vertreibung in der DDR die Ikone des Flüchtlingstrecks nicht ebenso explizit tradierten wie beispielsweise die Texte Arno Surminskis oder der Kino-'Blockbuster' "Nacht fiel über Gotenhafen" in der Bundesrepublik, heißt dies nicht, dass in der DDR nicht ebenso autarke Erinnerungsprodukte zu Flucht und Vertreibung entstanden. Die Konzepte, die sich in der DDR für den diskursiven Umgang mit Flucht und Vertreibung herausbildeten, entsprachen einer anderen, freilich engeren Geschichtsdeutung als Prämisse für die Nachkriegsgegenwart. Letztlich zeigten die gesellschaftlichen Umbrüche von 1989/90, dass sie nicht überdauerten. Nichtsdestoweniger waren sie zurzeit der DDR mehrheitlich tragfähig und diskursiv anschlussfähig. So darf auch im erinnerungshistorischen Forschungsfeld "Flucht und Vertreibung" die DDR nicht nur von ihrem Ende her gedacht werden. Eben dies führt Bill Niven in seinem Buch meisterlich und auf äußerst breiter Quellenbasis vor.
Niven weist nach, warum DDR-Literatur "in its own terms" gelesen werden müsse, im Kontext ihres zeitgenössischen Diskurses, der sie hervorbrachte und den sie mit gestaltete: "This discourse cannot simply be seen as a kind of poor relation to West German prose, nor can it be dismissed as a vestigial discourse: a discourse [...] that has been stripped of what is perceived to be the quintessential element of crimes against Germans." (192f.) Vielmehr entwickelte sich vom Anfang bis Ende der DDR ein eigenständiger literarischer Diskurs über Flucht und Vertreibung, in dessen Rahmen dezidiert Stellung zur deutschen Verantwortung für Nationalsozialismus und Holocaust bezogen, zugleich jedoch viel Empathie für die Opfererfahrung der deutschen Flüchtlinge und Vertriebenen bekundet wurde. Dies stellt Niven als eine Konstante der ansonsten sehr unterschiedlichen Entwicklungsstufen des Diskurses heraus.
Drei wesentliche Phasen des literarischen Diskurses über Flucht und Vertreibung in der DDR werden identifiziert: die "reconstruction literature" (1950er bis frühe 1960er Jahre), die "literature of revisiting" (späte 1960er bis 1970er Jahre) und die Phase der "skeptischen" Literatur (späte 1970er und 1980er Jahre). Weiter untersucht Niven Werke von DDR-Autoren nach 1990. Er fragt, ob Mauerfall und Deutsche Einheit bereits bestehende diskursive Entwicklungen verstärkt oder gänzlich neue literarische Ausdrucksformen für Flucht und Vertreibung hervorbrachten, etwa im Werk von Christoph Hein oder Reinhard Jirgl. Hier kommt Niven zu dem Schluss eines "change within continuity" (11).
Für die Phase der "Aufbauliteratur" über Flucht und Vertreibung bespricht er beispielsweise Werke von Hans-Jürgen Steinmann, Hildegard Maria Rauchfuß, Karl Mundstock, Benno Voelkner, Franz Fühmann oder Eduard Claudius, außerdem von Horst Bastian, Annemarie Reinhard, Ann-Marie Settgast, Gustel Langenstein und Erwin Strittmatter, letztere Vertreter/innen von Jugendliteratur. "Reconstruction literature" über Flucht und Vertreibung sei "essentially true to socialist political ideals", so Niven (79). Der Heimatverlust der deutschen Flüchtlinge und Vertriebenen, bzw. 'Umsiedler', wie es im SED-Sprachgebrauch hieß, werde von dieser Literatur durchweg ernst genommen, wenngleich als "echte" Heimat nur die SBZ/DDR präsentiert werde (80). Integration sei "the ultimate goal" der "Aufbauliteratur" (71).
Demgegenüber sei die "literature of revisiting [...] semi-autobiographical, more introspective, more interested in exploring issues of individual biographical trajectory than in painting a broad social canvas" (98). Repräsentationen von Flucht in dieser Literaturform fungierten oft als "chance for reorientation" (96), motiviert aus privaten Krisen heraus. Visafreie Reisen in die Herkunftsländer der 'Umsiedler' prägten die neue Literatur über Flucht und Vertreibung in der DDR, so Niven. Als Belege diskutiert er unter anderem Texte von Hildegard Maria Rauchfuß, Helga Schütz, Gertrud Bradatsch, Elisabeth Schulz-Semrau, Armin Müller, Rolf Schneider und nicht zuletzt Christa Wolf.
In der "skeptischen" DDR-Prosa über Flucht und Vertreibung schließlich sei eine "erfolgreiche" Integration der 'Umsiedler' nicht mehr "self-evident" (126), sondern werde deutlich in Frage gestellt. Entsprechend zeige Margarete Neumann mit ihren Texten "Magda Adomeit" und "Da Abend und Morgen einander berühren" laut Niven das Scheitern der agrarischen Revolution und Flüchtlinge "who [...] cannot adapt" (132). Werner Heiduczeks "Tod am Meer" sei eine "parody" der "reconstruction novels" (134). Und Werke von Armin Müller und Paul Kanut Schäfer führten 'Umsiedler' dezidiert als "outsider" vor (138).
Das Buch beschreibt die Phasen der "Repräsentationen von Flucht und Vertreibung in DDR-Prosa" in vier Kapiteln mit Zwischenresümees. Vorangestellt ist ein Kapitel zur Anlage der Interpretation und zwecks inhaltlichem Überblick. Erfrischend ehrlich erklärt Niven hier: "This is not a very theoretical book" (12). Tatsächlich mögen Diskurstheoretiker begriffliche Schärfungen des Diskursbegriffs vermissen. Nivens Buch setzt vieles voraus und priorisiert die Empirie. Auch die ereignishistorischen Hintergründe der Vertriebenen-, bzw. der 'Umsiedlerintegration', sind nur äußerst knapp skizziert. Und gerade weil Niven systematisch anhand wichtiger archivalischer Belege argumentiert, die Einblicke in die Korrespondenz von Autoren/innen mit ihren Verlagen geben, wünschte man sich manchmal mehr Erläuterungen zu den institutionengeschichtlichen Strukturen des DDR-Verlagswesens. Doch schmälern diese Einwände nicht die Bedeutung des Buchs insgesamt, auch weil der Autor klar definiert, was sein Text zu leisten vermag und was nicht: "While the influence of politics on culture will be a topic in this book, this is not an archival study about the workings of censorship. What interests me, [...], is not what GDR authors were not able to publish but what they did publish; not what remained unsaid but what was said [...]" (11).
Nivens Studie ist eine literarische Diskursgeschichte über das komplexe Phänomen Flucht und Vertreibung in der DDR. Sie ist eingängig und meinungsfreudig geschrieben, aber ohne zu simplifizieren, was nicht simpel ist: die Ambivalenzen im künstlerischen Diskurs einer Parteidiktatur. Niven macht klar: "Memory follows its own impulses and has its own logic, and does not easily surrender to the prospective call of socialism" (62), ebenso wie: "Literature is surely not to be equated with a political pamphlet [...]" (106). Doch beweist die Fülle literarischer Repräsentationen von Flucht und Vertreibung, die Niven aufspürt, endlich auf breiter empirischer Basis, dass "the SED could not easily stop individual expellees from remembering their flight or expulsion, and their lost Heimat" (3). Vielmehr gab es einen "genuine and evolving literary discourse" über Flucht und Vertreibung in der DDR, der sich über die Jahre sogar verschärfte (11).
Das ist neues Wissen über die DDR und das ist neues Wissen über die "Chiffre 'Flucht und Vertreibung'" [4]. Nivens Buch muss das künftige medienvermittelte öffentliche Gespräch über Flucht und Vertreibung Deutscher aus dem östlichen Europa daher erneuern. Hinter Nivens Buch können wir nicht mehr zurück.
Anmerkungen:
[1] Titel eines Aufsatzes von Gerald Christopeit von 1995, den Andreas Kossert 2008 als Kapitelüberschrift zitierte. Vgl. Gerald Christopeit: Verschwiegene vier Millionen. Heimatvertriebene in der Sowjetischen Besatzungszone und in der DDR. In: Jahrbuch für deutsche und osteuropäische Volkskunde 38 (1995), 222-251; Andreas Kossert: Kalte Heimat. Die Geschichte der Deutschen Vertriebenen nach 1945, München 2008, 193.
[2] So der Titel einer Veranstaltungsreihe des Deutschen Kulturforums östliches Europa im Oktober und November 2011.
[3] Vgl. im ARD-Programmschwerpunkt "70 Jahre Flucht und Vertreibung" die BR-Produktion von 2006 "Vertrieben - Das Schweigen in der DDR", wieder ausgestrahlt am Freitag, 19.6.2015, 17:15-18:00 Uhr auf ARD-alpha.
[4] Mathias Beer: Flucht und Vertreibung der Deutschen. Voraussetzungen, Verlauf, Folgen, München 2011, 13.
Alina Laura Tiews