Rolf Steininger: Deutschland und die USA. Vom Zweiten Weltkrieg bis zur Gegenwart, Reinbek: Lau-Verlag 2014, 912 S., 102 Farb-Abb., ISBN 978-3-95768-002-0, EUR 89,00
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Es scheint die Zeit der historischen Besinnung auf den "Westen" zu sein, jenes durchaus ideologie- oder, politisch korrekt, "werte"-geladene soziokulturelle und geopolitische Konstrukt, dessen anstehendes Ende seit Beginn dieses Jahrhunderts auch in akademischen Publikationen immer öfter erörtert wird. Und auch in der öffentlichen Diskussion um aktuelle politische Großthemen wie die Ukrainekrise oder das Projekt einer transatlantischen Handels- und Investitionspartnerschaft (TTIP) spielt "der Westen" - sein denkbares Scheitern oder seine mögliche Wiederbelebung als tragfähiges politisches Konzept - eine entscheidende Rolle.
Rolf Steininger bereichert diese Debatte durch sein umfassendes Werk über eine konstituierende Kernbeziehung, die dieses Konstrukt "Westen" in den letzten 70 Jahren geprägt hat. Die Einbeziehung der Bundesrepublik Deutschland in die westliche Wertegemeinschaft nach dem Zweiten Weltkrieg, über die Westdeutschland zu einem der wichtigsten Pfeiler im Gebäude des politischen "Westens" wurde, ist das Leitmotiv in seiner großangelegten Darstellung. Ausgeführt wird es an der bilateralen Außenpolitik im engeren Sinne, in der Kapitelgliederung explizit angelehnt an die Aktenedition "Foreign Relations of the United States" und deren Bezugsrahmen, die Amtsperioden der einzelnen Präsidenten. Ergänzt wird das Buch durch Zeittafeln und 80 Seiten dokumentarisches Bildmaterial. Neben den amerikanischen und deutschen offiziellen Akteneditionen stützt sich der Autor in hohem Maße auf die Memoirenliteratur, eigene Gespräche mit noch lebenden außenpolitischen Akteuren und vor allem auch auf eine gründliche Auswertung des in den "Presidential Libraries" der amerikanischen Präsidenten seit Harry Truman verfügbaren Materials. Entsprechend stark liegt der Fokus auf den handelnden Personen beiderseits des Atlantiks, ihren gegenseitigen Einschätzungen, ihrem persönlichen Umgang miteinander, ihrer "Chemie".
Dem Buch gibt das eine ganz eigene Note: Durch die ausgeprägte Personalisierung ist es über manche Strecken geradezu spannend zu lesen. Andererseits kommt die Substanz der Außenpolitik, kommen die fundamentalen staatlichen Interessenlagen, die den persönlichen Präferenzen der Akteure letztlich zugrunde liegen, darüber insgesamt zu kurz. Die zentralen außenpolitischen und außenwirtschaftspolitischen Konfliktfelder, die sich in den deutsch-amerikanischen Beziehungen mit wachsender zeitlicher Distanz zum Kriegsende immer heftiger bemerkbar machten, kommen vor allem als Gegenstand der Interaktion der führenden Politiker beider Seiten vor; auf ihre analytische Einordnung als Ausdruck wachsender wirtschaftlicher Stärke der Bundesrepublik und damit einher gehender außenpolitischer Selbständigkeit und Emanzipationsbestrebungen gegenüber den USA wird weitgehend verzichtet. Selbst eine quellenkritische Distanz des Autors zu seinem Material ist meist nicht zu erkennen.
Steininger zeigt im Detail auf, wie wenig konfliktfrei die Beziehungen zwischen beiden Regierungen über lange Strecken waren, von Konrad Adenauers schwierigem Verhältnis zu John F. Kennedy über Richard Nixons (und Henry Kissingers) kritische Haltung zur sozialliberalen Koalition unter Willy Brandt und Walter Scheel bis zur Präsidentschaft von Jimmy Carter bzw. Kanzlerschaft Helmut Schmidts. Doch bleibt der Autor überwiegend bei den außen- und sicherheitspolitischen Themen und Konflikten im engeren Sinn. Der "Hähnchenkrieg" von 1963 wird eher oberflächlich angesprochen, obwohl er paradigmatisch für die aus der EWG-/EG-Mitgliedschaft Deutschlands erwachsenden bilateralen Konflikte stehen kann. Der Streit über die schon ab Anfang der 1960er Jahre geplanten, 1970 zustande gekommenen und 1981 ausgeweiteten Erdgas-Röhren-Geschäfte Deutschlands mit der Sowjetunion fehlt völlig, obwohl die USA deren sicherheitspolitische Problematik betonten, gegen die die Bundesregierung das deutsche wirtschaftliche Emanzipationsinteresse und die Logik ihrer Ostpolitik setzte. Etwas eingehender werden die Differenzen um das deutsch-brasilianische Abkommen über die Lieferung deutscher Atomtechnik an Brasilien behandelt. Hier immerhin erwähnt Steininger, wenn auch nur am Rande, dass die deutsche Seite klar ihr wirtschaftliches Konkurrenzinteresse gegen die USA in Stellung brachte. Sehr viel ausführlicher stellt er die Auseinandersetzungen um die Produktion einer Neutronenbombe durch die USA und ihre Dislozierung in Europa sowie um den NATO-Doppelbeschluss dar.
Immer wieder wurde zudem, wie der Autor zeigt, der Umgang mit der Sowjetunion ein Konfliktthema, sei es bei Adenauers Kritik an amerikanischer Uneindeutigkeit, bei der amerikanischen Kritik an Brandts und Bahrs Ostpolitik oder bei der Weigerung der Bundesregierung, anlässlich des sowjetischen Einmarsches in Afghanistan 1979 während der Carter-Präsidentschaft blind dem amerikanischen Bestrafungsimpuls zu folgen - ein Muster, das ja bis zum heutigen Tag zu erkennen ist.
Vor diesem Hintergrund ist für Steininger die folgende Phase der Kanzlerschaft Helmut Kohls und der Präsidentschaft Ronald Reagans (und der seines Nachfolgers George H.W. Bush) zu recht eine nachgerade goldene Phase der deutsch-amerikanischen Beziehungen, vor allem unter dem Eindruck der deutschen Wiedervereinigung. Gerade in der Schilderung der Ereignisse vom Fall der Mauer bis zur Wiedervereinigung aus Sicht der Quellen zeigt sich die Stärke von Steiningers Darstellungsweise, kam es doch in dieser nicht vorhergesehenen Situation ganz besonders auf die Reaktionen der einzelnen Führungspersönlichkeiten an. Das uneingeschränkte gegenseitige Vertrauen von Kohl und Bush bewährte sich damals.
Folgerichtig wird das Verhältnis zwischen Gerhard Schröder und George W. Bush nach der Frontstellung des Bundeskanzlers gegen den Irakkrieg als "Tiefpunkt in der Geschichte der deutsch-amerikanischen Beziehungen" bezeichnet. Dass es von diesem Tiefpunkt unter der Kanzlerschaft von Angela Merkel wieder aufwärts ging, grundlegende Differenzen hinsichtlich der militärischen Interventionspolitik und der Bewältigung der Finanzkrise aber blieben, wird nur noch ganz knapp angerissen.
Steiningers Buch ist ein verdienstvoller Beitrag zur deutschen Geschichte seit 1945. Als umfassende Dokumentation der Beziehungen zwischen Deutschland und den USA erschließt es dem Leser einen gewaltigen Fundus an Quellen und Memoiren. Dies wird allerdings weitgehend über die ausführliche Darstellung der Positionen und Interaktionen der handelnden Personen in den einzelnen Phasen der Geschichte der deutsch-amerikanischen Beziehungen geleistet. Das führt zu Wiederholungen, Redundanzen und einer gewissen Weitschweifigkeit, während man eine klare analytische Aufbereitung vermisst, aus der die großen Züge dieser Beziehungsgeschichte deutlich würden.
So ist das Buch letztlich mehr eine Diplomatiegeschichte als eine umfassende Geschichte der deutsch-amerikanischen Beziehungen. Steiningers Fokussierung auf die reine Handlungsebene der Außen- und Sicherheitspolitik sowie die Erinnerungen der Akteure in diesem Bereich kann das ambivalente deutsch-amerikanische Verhältnis nicht vollständig einfangen. Warum den USA in der sich herausbildenden Staatsräson der jungen Bundesrepublik ebenso wie in den Jahren ihrer wachsenden Emanzipation vom großen Partner bis zur Gegenwart eine so zentrale Rolle zukam, das wird über der Fülle des ausgebreiteten Materials nicht deutlich. Eine präzise Antwort darauf, was denn nun das "Fundament" der deutsch-amerikanischen Beziehungen sei, "das durch eine Krise [...] nicht so leicht zu erschüttern ist", wie Steininger zum Schluss seiner Einleitung schreibt, wie dieses Fundament in den beiderseitigen Grundstrukturen nationalen Interesses verankert ist, findet sich auch nach über 700 Seiten nicht.
Jens van Scherpenberg