Philipp Schultheiß: Ausgeklammert statt anerkannt. Ehemalige NVA-Angehörige und die DDR-Aufarbeitung (= Forschungen zur DDR- und ostdeutschen Gesellschaft), Berlin: Ch. Links Verlag 2022, 285 S., eine Kt., eine s/w-Abb., 2 Tbl., ISBN 978-3-96289-166-4, EUR 30,00
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Zeitgeschichte ist oft auch Streitgeschichte. Das gilt umso mehr, wenn die Deutungen von Geschichtspolitik, historischer Forschung und kollektivem Gedächtnis in offensichtlicher Spannung zueinanderstehen, wie es bei der Betrachtung der DDR und "der Ostdeutschen" der Fall ist. Aktuell wird das gerade wieder anhand der Diskussionen um die Bücher von Dirk Oschmann und Katja Hoyer sowie die Döpfner-Leaks deutlich. [1]
Philipp Schultheiß hat sich dieser Diskrepanz nun am Beispiel der Nationalen Volksarmee in seiner Marburger Dissertation zugewandt. Er versucht darin, Konzepte der Memory Studies und Transitional Justice mit der praktizierten Aufarbeitung des SED-Regimes, der historiographischen und medialen Darstellung der NVA-Geschichte sowie deren Wahrnehmung und Bewertung durch vormalige Berufssoldaten der NVA zu verbinden.
Ausgangspunkt seiner Darstellung ist die 1991 von Bundesjustizminister Klaus Kinkel an die deutsche Justiz gerichtete Erwartung: "Es muss gelingen, das SED-System zu delegitimieren." (9). Allerdings habe sich, wie Schultheiß betont, die juristische Aufarbeitung vor allem mit den Aktivitäten des Ministeriums für Staatssicherheit, dem Grenzregime sowie den Fällen von Rechtsbeugung durch die DDR-Justiz befasst. Die Rolle anderer Institutionen sei demgegenüber zu wenig beleuchtet worden. In der Folge sei auch "eine genaue Analyse" (14) der Nationalen Volksarmee ausgeblieben. Mit Blick auf die seit Mitte der 1990er Jahre vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt der Bundeswehr intensiv betriebene Forschung zur Militärgeschichte der DDR muss diese These zumindest fragwürdig erscheinen. Bereits an dieser Stelle zeigen sich sowohl die Mehrdeutigkeit als auch die Tendenz zur inhaltlichen Verengung des Aufarbeitungsbegriffes. Für das Forschungsdesign der in neun Kapitel gegliederten Studie bleibt das nicht ohne Folgen.
Im Anschluss an das Einleitungskapitel wendet sich Schultheiß im zweiten Kapitel zunächst dem für die Aufarbeitung von "Massenverbrechen wie ethnischen Säuberungen, Massakern, Völkermord und Vertreibungen" (32) entwickelten Konzept der Transitional Justice zu, dessen Ursprünge er in den Nürnberger und Tokioter Kriegsverbrecherprozessen verortet und das dann vor allem bei der juristischen Aufarbeitung verschiedener lateinamerikanischer Militärdiktaturen zur Anwendung kam.
Sodann gibt er auf 30 Seiten anhand weniger Überblickswerke einen groben Abriss der NVA-Geschichte, um am Ende zu konstatieren, "dass sich die NVA in keiner Weise ähnlichen Verbrechen schuldig machte, wie sie die Armeen der Militärjunten in Lateinamerika begingen." (69). Dieser Befund ist zwar kaum überraschend, lässt aber bereits erahnen, dass das Transitional-Justice-Konzept für die Aufarbeitung der NVA-Geschichte wohl etwas überdimensioniert sein dürfte.
Das zeigt sich dann auch im anschließenden Kapitel, welches die "Aufarbeitung der DDR- und NVA-Vergangenheit im Spiegel der Transitional Justice" betrachtet. Durchaus klug und reflektiert arbeitet Schultheiß hier die Spezifika des Aufarbeitungsprozesses, das Fehlen einer gesamtdeutschen Erinnerungskultur und die Akzeptanzprobleme eines auf Repression reduzierten DDR-Bildes bei den vormaligen DDR-Bürgern heraus. Die NVA wird allerdings lediglich punktuell erwähnt. Das ist symptomatisch für die gesamte Arbeit. Es fällt Schultheiß erkennbar schwer, sich auf sein eigentliches Thema zu konzentrieren. Stattdessen weicht er thematisch immer wieder in die seitliche Arabeske aus.
Folgerichtig schildert er im fünften Kapitel zunächst ausführlich seinen methodischen Zugang. Als zentrales Ziel seiner Arbeit benennt er hier, "die öffentliche Darstellung ehemaliger NVA-Angehöriger im Diskurs der DDR-Aufarbeitung zu untersuchen und zu fragen, wie die ehemaligen Soldat*innen selbst auf diese Fremdbilder reagieren." (97). Dazu nutzt er die Mittel der Diskurs- bzw. der Frameanalyse. Als Quellen dienen 198 zwischen 1990 und 2015 entstandene Zeitungsartikel, acht Schulbücher und drei Spielfilme mit NVA-Bezug sowie Einzel- und Gruppeninterviews mit insgesamt 70 ehemaligen Berufssoldaten der NVA. Diese wurden mit Hilfe des Analyseprogramms MaxQDA ausgewertet. Erstaunlich ist in diesem Zusammenhang, dass Dokumentarfilme und die historische Forschung zur Geschichte der NVA nicht als Quellen herangezogen wurden.
Nach 120 Seiten - der Hälfte des Textes - ist Schultheiß schließlich beim thematischen Kern seiner Arbeit angekommen. In Kapitel 6 betrachtet er die öffentliche Darstellung der NVA und ihrer Angehörigen anhand solcher Frames wie die NVA als bedrohliche Armee, die NVA als Säule der Diktatur, aber auch die NVA als Garant der friedlichen Revolution. Wenig überraschend lautet der Befund, dass die negativen Deutungen in der medialen Darstellung generell überwiegen, während die positiven lediglich in einzelnen ostdeutschen Zeitungen anzutreffen sind.
Etwas differenzierter stellen sich die daraufhin erörterten Perspektiven der befragten ehemaligen NVA-Berufssoldaten dar. Generell werden der "als politisiert wahrgenommene Aufarbeitungsprozess" und die Verallgemeinerung von Negativaspekten eher kritisch betrachtet sowie eine komplexere Darstellung der DDR-Vergangenheit gefordert (156). Bedenkenswert ist allerdings der Blick auf die Erfahrungen der ehemaligen ostdeutschen Soldaten im vereinten Deutschland. Prägend ist hier die Wahrnehmung von sozialer und rechtlicher Diskriminierung. Das betrifft nicht zuletzt die Erfahrungen mit und in der Bundeswehr. Generell wird dabei deren Selbstbild als "Armee der Einheit" infrage gestellt, wobei die in die Bundeswehr übernommenen NVA-Offiziere insbesondere ihre Schlechterstellung hinsichtlich Arbeitszeit und Gehalt gegenüber ihren westdeutschen Kollegen bemängelten. Unisono positiv wird allein die Rolle des Deutschen Bundeswehrverbandes gewürdigt, der die NVA-Soldaten mit offenen Armen empfangen und sich für deren soziale und rechtliche Belange konsequent eingesetzt habe.
Schließlich betrachtet Schultheiß noch die Probleme der Integration der ehemaligen NVA-Berufssoldaten in die Post Military Society Deutschland, bevor er die in den einzelnen Kapiteln gewonnenen Befunde in einer Schlussbetrachtung noch einmal zusammenfasst. Drei Aspekte seien davon an dieser Stelle genannt: erstens fehlende soziale Anerkennung als signifikantes Integrationshemmnis, zweitens die in der ostdeutschen Bevölkerung verbreitete Tendenz, offiziöse Geschichtsnarrative zu hinterfragen und sich eine eigenständige Meinung zu bilden sowie drittens die Erkenntnis, dass die Elemente des Transitional-Justice-Diskurses für die Befragten praktisch keine Rolle spielten.
Dieser dritte Punkt korrespondiert auch mit dem grundlegenden Problem der vorliegenden Arbeit. Die verschiedenen Themenfelder stehen eher disparat nebeneinander und werden nicht zu einer stringenten Darstellung verbunden. Dies führt zu dem paradoxen Ergebnis, dass trotz einer im Einzelnen nahezu vorbildlich durchdachten Methodik und einer Reihe anregender Überlegungen das Forschungsdesign insgesamt nicht wirklich funktioniert. Der Erkenntnisgewinn zum eigentlichen Thema bleibt dementsprechend überschaubar.
Anmerkung:
[1] Dirk Oschmann: Der Osten: eine westdeutsche Erfindung, Berlin 2023; Katja Hoyer: Diesseits der Mauer. Eine neue Geschichte der DDR 1949-1990, Hamburg 2023.
Christian Th. Müller