Jean-François Juneau: Egon Bahr, l'Ostpolitik de la République fédérale d'Allemagne et la transformation de l'ordre européen, 1945-1975 (= Perspectives Européennes), Bordeaux: Presses universitaires de Bordeaux 2014, 279 S., ISBN 978-2-86781-867-7, EUR 15,00
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Mit dem aus seiner Dissertation entstandenen Buch möchte der kanadische Historiker Jean-François Juneau einem französischsprachigen Publikum die politischen Vorstellungen näher bringen, die der vor kurzem verstorbene Egon Bahr im Zusammenhang mit der Ostpolitik entwickelte. Juneau, mittlerweile Mitarbeiter des kanadischen Verteidigungsministeriums, will zeigen, dass Bahrs ganzes Streben darauf abzielte, Deutschland wieder in seine "natürliche" Rolle als dominierender Akteur in Europa zu bringen. Im Unterschied zu Willy Brandt und anderen habe Bahr einen Antagonismus zwischen Wiedervereinigung und europäischer Integration gesehen. Bahr habe für einen demokratischen und patriotischen deutschen Nationalismus gestanden. Daraus habe er kein Geheimnis gemacht. Juneau zitiert aus einem Spiegel-Gespräch mit Bahr aus dem Jahr 1978: "Ich bin erst Deutscher, dann Europäer." (259). Es sei Bahr sowohl um die Entspannung als auch um die Verteidigung der nationalen Interessen gegangen. Zu letzteren gehörte insbesondere die Wahrung der Chance zur Wiedervereinigung. Insofern war Bahrs Konzept für die Ostpolitik, das Juneau wiederholt als "grand dessein" bezeichnet, nicht einfach nur ein Akt des Realismus, sondern enthielt auch eine idealistische Komponente.
Auch für deutsche Leser ist das Buch anregend. Keiner der Autoren, die bisher Egon Bahrs ostpolitisches Denken dargestellt und analysiert haben, hat sich so intensiv mit der Frage beschäftigt, in welchem Maße Bahr auf eine Transformation der europäischen Nachkriegsordnung abzielte. In welchem Verhältnis standen bei Bahr Anerkennung des Status quo und künftiger Wandel der Ordnung Europas zueinander? Darüber bestehe, so Juneau, unter Historikern Uneinigkeit.
Juneau geht chronologisch vor. Besonders intensiv widmet er sich den etwas mehr als zweieinhalb Jahren der Großen Koalition, als Bahr an der Spitze des Planungsstabes des Auswärtigen Amts (AA) die grundlegenden Papiere für die Ostpolitik entwarf, wie sie ab Ende 1969 von Bundeskanzler Willy Brandt und ihm dann umgesetzt wurde. Für Juneau erfolgte in diesen Jahren ein grundlegender Wandel in Bahrs Konzeption. Nach dem sowjetischen Einmarsch in der Tschechoslowakei am 21. August 1968 war von einer Veränderung der inneren Ordnung der kommunistischen Staaten kaum noch die Rede. Nun vertrat Bahr eine "westfälische Vorstellung" (148), in der die äußere Unabhängigkeit der Nationalstaaten von Bedeutung war, nicht aber deren innere Verfassung: "la stabilité a priorité sur toute dimension éthique." (ebd.) In dieser Zuspitzung ist die These neu. Revisionistisch blieb Bahrs Konzept aber in dem Sinne, dass der Anerkennung des Status quo langfristig die Ablösung der Militärblöcke durch eine europäische Sicherheitsordnung folgen sollte, in deren Rahmen die deutsche Wiedervereinigung möglich sein sollte.
An der Spitze der Bundesregierung sei es Brandt und Bahr gelungen, die im AA erarbeiteten Konzepte weitgehend umzusetzen. In den Verhandlungen mit Moskau und Warschau habe Bonn nichts preisgeben müssen. Besonders hebt Juneau die Formulierung hervor, die Grenzen seien unverletzlich, nicht unveränderlich. Aus Bahrs Sicht habe die Bundesrepublik mit dem Moskauer Vertrag die Gleichberechtigung auf der internationalen Bühne erreicht. Als er 1970 im Bundestag erklärte, er wolle zwar nicht sagen, dass die Welt am deutschen Wesen genesen solle, aber doch dass die deutsche Außenpolitik mit an der Spitze der weltpolitischen Entwicklung stehe, dann ist das für Juneau eine enthüllende Stellungnahme, die die Reichweite von Bahrs diplomatischen Ambitionen erhellt. Dass Bahr das Viermächte-Abkommen über Berlin direkt mit den beiden Supermächten aushandeln konnte, habe gezeigt, dass in Europa niemand mehr um Bonn herumkam. Dem Grundlagenvertrag hingegen misst Juneau wenig Bedeutung zu. Er habe kaum etwas enthalten, was direkt auf die Perspektive einer Wiedervereinigung verwies, eigentlich nur die verbesserten innerdeutschen Reisemöglichkeiten. Bahr habe sich von den Verträgen mehr erhofft. Eine Ursache für das partielle Scheitern sieht Juneau darin, dass Bahr die Möglichkeiten der Bundesrepublik, eine Politik entlang ihren nationalen Interessen zu betreiben, überschätzt habe. Helmut Schmidt habe besser als Bahr die Beschränkungen erkannt, die die bipolare globale Ordnung mit sich brachte.
Mit den Verträgen war, so der Autor, die Ostpolitik, die die europäische Diplomatie revolutioniert hatte, an ihr Ende gelangt. Ohne die Abrüstung, die sich Bahr von den MBFR-Verhandlungen erhofft hatte, blieb seine Ostpolitik unvollendet. Seit 1975 sei es für Bahr und andere Ostpolitiker nur noch darum gegangen, die Errungenschaften ihrer Politik um jeden Preis zu retten und Voraussetzungen zu schaffen, um in eine zweite Phase der Ostpolitik einzutreten: die Überwindung des Kalten Krieges durch eine europäische Friedensordnung. Statt die Grenzen seines Projekts zu erkennen, habe er davon geredet, dass es eben immer ein Auf und Ab gebe.
Für Juneau war Bahr ein Meister der Realpolitik, der in Metternichschen Kategorien dachte. Die angestrebte europäische Friedensordnung habe aber keine ethische Dimension besessen. Stabilität, Frieden und Sicherheit seien für Bahr die wichtigsten Interessen der Bundesrepublik gewesen. Dahinter mussten die ideologischen Konflikte, die Menschenrechte und sogar das Recht der Deutschen auf Selbstbestimmung zurücktreten. Auch mit Blick auf Osteuropa konstatiert Juneau, dass Bahrs Konzeption die Freiheit der Stabilität geopfert habe. Am Ende habe dies Bahr dazu gebracht, in den Wochen nach dem Fall der Mauer die Stabilisierung der DDR durch die BRD und die Unterstützung der SED durch die SPD zu fordern.
Juneaus Buch ist klar strukturiert, seine Argumente sind stets gut belegt. Zahlreiche deutsche und internationale Archive, darunter natürlich Egon Bahrs Depositum in Bonn, hat er konsultiert. Die einschlägige Literatur ist berücksichtigt worden. Auch mit seinem Protagonisten hat er ein Gespräch geführt. Ob dieser vom Ergebnis erbaut gewesen wäre, dürfte eher zu bezweifeln sein. Bei aller Anerkennung des diplomatischen Geschicks - u. a. zitiert Juneau einen französischen Historiker, Bahr sei der bedeutendste deutsche Diplomat der Nachkriegszeit - dominiert doch am Ende das harte Urteil von der fehlenden ethischen Dimension in Bahrs Ostpolitik, vom absoluten Vorrang des Friedens vor der Freiheit. Die Debatte ist nicht neu. Ob der Frieden oder die Freiheit in der Außenpolitik Vorrang genießen sollte, war bereits in den 1980er Jahren heftig umstritten, insbesondere zwischen der SPD und den französischen Sozialisten. Juneau bezieht hier bei aller analytischen Distanz klar Position.
Wo der Rezensent ihm nicht folgen kann, ist bei der Frage, ob es in Bahrs ostpolitischer Konzeption am Ende der 1960er-Jahre eine grundlegende Veränderung gegeben hat, als das Ziel der innergesellschaftlichen Veränderung in Osteuropa aufgegeben wurde. Juneau bringt selbst genügend Argumente, dass Bahr - anders als z. B. Willy Brandt - solche Positionen auch vor dem 21. August 1968 nicht vertreten hatte. Schon für die Tutzinger Rede konstatiert Juneau eine Spannung zwischen Stabilisierung und Revisionismus, die Bahr schon damals immer stärker zugunsten Ersterer auflöste.
Eine gewisse Unklarheit bleibt auch dort, wo der Autor Bahr einerseits als Realpolitiker bezeichnet, nur um kurze Zeit später zu konstatieren, dass die Ostpolitik zu großen Teilen auf Idealismus beruht habe. Vielleicht wäre es hilfreicher gewesen, statt von Idealismus besser von Voluntarismus zu reden, was stärker den Gestaltungswillen betont, den Juneau bei Bahr immer wieder konstatiert.
Aber dies sind nur nachrangige Hinweise gemessen an der analytischen Schärfe der Untersuchung, die Juneau vorgelegt hat. Eine Übersetzung zu erwarten, wäre wohl unrealistisch und dem internationalen Anspruch der deutschen Geschichtswissenschaft nicht angemessen. Für Historiker, die nicht des Französischen mächtig sind, sollte das Buch Anreiz sein, diese Lücke zu schließen.
Bernd Rother