Andreas Hansert: Geburtsaristokratie in Frankfurt am Main. Geschichte des reichsstädtischen Patriziats, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2014, 684 S., 17 Farbabb., ISBN 978-3-205-79486-8, EUR 49,00
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"Eine Geschichte der Frankfurter Patrizier würde sehr lehrreich sein", urteilte bereits 1856 der Archivar Karl Heinrich Roth von Schreckenstein (1823-1894) in seinem groß angelegten Überblick zur Entwicklung des Patriziats in den deutschen Reichsstädten. [1] Gleichwohl blieb das Interesse von Historikern an den Frankfurter "Stadtadligen" geringer als an entsprechenden Gruppen in manch anderen Städten. Mit der umfangreichen Monografie von Andreas Hansert liegt nun eine Gesamtdarstellung des Patriziats vor, die von den Zeiten der Stadtwerdung Frankfurts bis in die ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts reicht.
Der Zugang des Autors ist insgesamt ein traditioneller, indem eine genealogisch-prosopografische Datenbank (mit mehr als 12.000 Personen!) die Grundlage der Arbeit bietet und "Patriziat" als sozialhistorischer Ordnungsbegriff Verwendung findet, der mit klassischen Zuordnungskriterien verbunden bleibt. Entscheidend ist für Hansert die geburtsständische Verdichtung - ein Kriterium, das vor allem durch die Studien Friedrich von Klockes (1891-1960) seit den 1920er-Jahren Eingang in die Patriziatsforschung fand. [2] Auf der sozialhistorisch-genealogischen Basis aufbauend werden von Hansert allerdings auch Impulse der jüngeren kulturhistorischen Stadtgeschichtsforschung aufgenommen, etwa, wenn es um Stiftungen, Rangkonflikte oder Standessymbole geht.
Als Frankfurter Spezifikum wertet der Autor die Unterteilung der Ratselite in drei gut voneinander abgrenzbare Gruppen, die er als "erstes", "zweites" und "drittes Patriziat" bezeichnet (29-34). Zum "ersten Patriziat" rechnet er die Mitglieder der Geschlechtergesellschaft Alten-Limpurg, die sich seit der Mitte des 14. Jahrhunderts nachweisen lässt und die in den folgenden Jahrhunderten hinsichtlich des Renommees die soziale Spitze der Stadt markierte. Die Mitglieder der Gesellschaft Frauenstein, durch etwas geringere geburtsständische Geschlossenheit und höhere Fluktuation der Familien im Vergleich zu den Alten-Limpurgern gekennzeichnet, fasst Hansert als "zweites Patriziat". Zur dritten Gruppe gehören für ihn die bürgerlichen Ratsfamilien außerhalb der Geschlechtergesellschaften, darunter etwa Goethes Vorfahren mütterlicherseits aus der Familie Textor.
Die neun Hauptkapitel des Buches sind chronologisch geordnet. Zunächst werden die Stadtwerdung und die Entstehung der Stadtverfassung rekapituliert sowie die Gründungsgeschichte des Patriziats von der frühen Stauferzeit bis zur zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts nachgezeichnet. Die Organisation der Eliten in Trinkstubengesellschaften erscheint als Antwort auf die Ausdifferenzierung der Zünfte. Eine zunehmende Institutionalisierung der Führungsschicht lässt sich für das 15. Jahrhundert belegen, indem die Aufnahme in die Gesellschaften formalisiert und weitere Verhaltensnormen präzisiert wurden. Hinsichtlich der Einführung der Reformation und der Integration graduierter Juristen in den Geschlechterkreis zeichnet Hansert ein differenziertes Bild.
Das "goldene Zeitalter" des Patriziats im 16. und 17. Jahrhundert wird in den Kapiteln 4-6 behandelt. Kennzeichnend ist eine Aristokratisierung der Lebensführung, die sich bei den Alten-Limpurgern und (mit zeitlicher Verzögerung) den Frauensteinern nachweisen lässt und die von neuen Formen der Erinnerungskultur sowie von kaiserlichen Standeserhebungen flankiert wurde. Im Gefolge des "Fettmilchaufstands" von 1612-1616 gelang es dem "zweiten Patriziat", seine Positionierung im verfassungspolitischen Gefüge zu verbessern. Dem partiellen Machtverlust begegneten die Alten-Limpurger mit einer noch stärkeren sozialen Abschottung und elaborierten Formen einer adlig-ritterschaftlichen Standesrepräsentation.
Im 18. Jahrhundert fanden mehrere Verfassungskonflikte statt, in denen Gelehrte, Handwerker und Kaufleute das Leistungsprinzip gegen die geburtsständischen Privilegien ins Feld führten. Im Zuge von Ratsreformen wuchs die Bedeutung des "dritten Patriziats"; die Mitglieder der Geschlechtergesellschaften suchten zunehmend Tätigkeitsbereiche jenseits der städtischen Gremien. Ein Ausblick in das 19. Jahrhundert offenbart eine Fortsetzung dieser Tendenz, auch wenn einige Angehörige der alten Familien sich gleichwohl weiterhin in den Rat wählen ließen und die Patriziergesellschaften bis zur Gegenwart (wenn auch unter gewandelten Organisationsformen) fortbestehen.
Ein Fazit der Arbeit fehlt. In einem umfangreichen Anhang werden von Hansert zahlreiche Verwandtschaftstafeln, Gesamtlisten der in den Gesellschaften vertretenen Familien, statistische Auswertungen sowie Übersichten zu den Frankfurter Ratswahlen abgedruckt. Ein Personenregister hilft bei der Erschließung der großen Informationsdichte des Buches.
Zwei Kritikpunkte an der Arbeit seien formuliert: Diskussionswürdig ist zum einen das der Studie zugrunde liegende Bekenntnis zur Genealogie als einer Forschungsmethode, die auf die "korrekte" Rekonstruktion von Verwandtschaftsbeziehungen als einer objektiv ermittelbaren gesellschaftlichen Struktur zielt. Dass ein konstruktivistisches Verständnis von Verwandtschaft und Genealogie ein anderes Schlaglicht auf die Praktiken der (vormodernen) Akteure werfen kann, ist in der geschichtswissenschaftlichen Forschung zuletzt häufiger gezeigt worden. Zum anderen ließe sich kritisieren, dass Hanserts Blick fast vollständig auf Frankfurt beschränkt bleibt und dass die Ergebnisse seiner Untersuchung nur unzureichend in einen größeren Forschungskontext eingeordnet werden. Ein Abgleich seiner Beobachtungen mit den Befunden anderer Studien, die in den vergangenen Jahren zu patrizischen Gruppen in Nürnberg, Regensburg, Lüneburg, Ulm und anderen Städten erschienen sind [3], hätte es ermöglicht, überregionale Entwicklungen und Frankfurter Spezifika präziser herauszuarbeiten.
Trotz dieser Monita handelt es sich um eine verdienstvolle Arbeit, die zum einen in großer Ausführlichkeit die lange vermisste Gesamtdarstellung des Frankfurter Patriziats in Mittelalter und Früher Neuzeit liefert, die zum anderen aber auch der vergleichenden Stadtgeschichtsforschung zahlreiche Anregungen bietet.
Anmerkungen:
[1] Karl Heinrich Freiherr Roth von Schreckenstein: Das Patriziat in den deutschen Städten, besonders Reichsstädten, als Beitrag zur Geschichte der deutschen Städte und des deutschen Adels, Tübingen 1856, 614.
[2] Prägnant zusammengefasst vor allem in Klockes posthum veröffentlichter Habilitationsschrift (die jedoch, wie die anderen Arbeiten Klockes, von Hansert nicht genannt werden): Friedrich von Klocke: Das Patriziatsproblem und die Werler Erbsälzer, Münster 1965.
[3] Erwähnt seien hier exemplarisch Peter Fleischmann: Rat und Patriziat in Nürnberg. Die Herrschaft der Ratsgeschlechter vom 13. bis zum 18. Jahrhundert, Nürnberg 2008; Olivier Richard: Mémoires bourgeoises. "Memoria" et identité urbaine à Ratisbonne à la fin du Moyen Âge, Rennes 2009; Michael Hecht: Patriziatsbildung als kommunikativer Prozess. Die Salzstädte Lüneburg, Halle und Werl in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, Köln 2010; Stefan Lang: Die Patrizier der Reichsstadt Ulm. Stadtherren, Gutsbesitzer und Mäzene, Ulm 2011. Parallel zu Hanserts Buch erschienen u.a. Heidrun Ochs: Gutenberg und sine frunde. Studien zu patrizischen Familien im spätmittelalterlichen Mainz, Stuttgart 2014; Rita Binz-Wohlhauser: Zwischen Glanz und Elend. Städtische Elite in Freiburg im Üchtland (18. Jahrhundert), Zürich 2014.
Michael Hecht