Joachim Eibach / Inken Schmidt-Voges (Hgg.): Das Haus in der Geschichte Europas. Ein Handbuch, Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2015, XVI + 783 S., ISBN 978-3-11-035888-9, EUR 79,95
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Das "Haus" ist als Thema der Geschichtswissenschaften in vielfältiger Weise präsent: als Gebäude, als soziale Formation, als Ort von Produktion und Konsum, als rechtlich definierter Raum, als Modell gesellschaftlicher Organisation, als Metapher. Die normative Verankerung des Hauses in den vormodernen Diskursen über Ökonomie, Herrschaft und Geschlechterordnung hat in Verbindung mit den anderen genannten Bedeutungsebenen dazu geführt, dass gerade für Frühneuzeithistoriker das Haus "un sujet sans limite" ist, wie es Daniel Roche einmal ausgedrückt hat. Aus einem im Jahr 2008 gegründeten Arbeitskreis "Haus im Kontext. Kommunikation und Lebenswelt" entstand das zu besprechende Handbuch, das sich als Ziel setzt, zum einen die vielschichtigen Forschungsstränge zum Haus in einer transepochal und interdisziplinär angelegten Zusammenschau zu bündeln und die Relevanz der Hausforschung für aktuelle Fragen der Geschichtswissenschaft zu demonstrieren. Zum anderen sollen klassische Modernisierungsnarrative hinterfragt und Ansätze der vor allem die Vormoderne betreffenden Beschäftigung mit dem Haus in die Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts transferiert werden. Joachim Eibach und Inken Schmidt-Voges (als Hauptherausgeber) haben in Zusammenarbeit mit Simone Derix, Philip Hahn, Elizabeth Harding und Margareth Lanzinger (als Teilherausgeber) hierzu 45 Beiträge versammelt, die in sechs Sektionen präsentiert werden.
Nach einer konzisen Einführung in die epochenspezifischen Zugänge zum Haus (Vormoderne / Moderne) folgt im ersten Teil eine Rekapitulation der Hausforschung in ausgewählten europäischen Nationalhistoriografien. Neben Deutschland, Frankreich, England und den Niederlanden sind mit Italien, Tschechien und Schweden auch Länder vertreten, deren Forschung hierzulande oft weniger intensiv rezipiert wird. In der Zusammenschau der Beiträge lassen sich einerseits viele parallele Entwicklungen erkennen, etwa die allmähliche Ablösung der sozialhistorisch-demografischen Beschäftigung mit Haushalts- und Familienstrukturen durch kulturhistorische Zugänge, andererseits fallen auch gewichtige Unterschiede ins Auge. Diese basieren zum Teil auf differenten Quellen- und Forschungsbegriffen (so fehlt etwa in Italien ein Begriff für Haushalt, sodass die Forschung viel mit "famiglia" operiert, während in Schweden "hushåll" statt "hus" das geschichtswissenschaftliche Interesse dominiert), zum Teil auf länderspezifischen Forschungstraditionen. Während sich beispielsweise die deutsche Geschichtswissenschaft intensiv an Otto Brunners Konzept des "ganzen Hauses" abarbeitete und damit das Spannungsfeld von Ordnungsvorstellungen und Praktiken der Haushaltsführung ausleuchtete, haben sich französische Historiker stärker von der ethnologischen Forschung inspirieren lassen (etwa Claude Lévi-Strauss' Konzept der "sociétés à maisons") und nach dem Zusammenhang von Abstammungslinien und Besitztransfers gefragt. Solche und weitere Unterschiede prägnant deutlich gemacht zu haben, ist kein geringes Verdienst des Bandes.
Im Teil 2 beschäftigen sich sieben Beiträge mit der Materialität des Hauses, wobei - in Anknüpfung an aktuelle Forschungsdiskussionen - nicht nur der Umgang der Menschen mit dem Haus (Bauweisen, Innenausstattung) Beachtung findet, sondern auch die Frage nach der Wirkmächtigkeit der Objekte im Kontext von Vorgängen der "Sinnproduktion" aufgeworfen wird. In den einzelnen Aufsätzen geht es u.a. um ländliche und städtische Wohnkulturen im Wandel der Zeiten, um die Verbindung von häuslicher Innenausstattung und Frömmigkeitspraxis in der Frühen Neuzeit, um die "Technisierung" des Wohnens im 19. und 20. Jahrhundert sowie um Wohnungsbau und Wohnkultur im Sozialismus. Teil 3 knüpft unter der Überschrift "soziale und ökonomische Konstellationen" an die strukturhistorische Haushalts- und Familienforschung der 1960er- und 1970er-Jahre an und verfolgt deren Weiterentwicklung in aktuellen Forschungsfeldern, in denen es vielfach um das Haus "als soziale(n) Raum des Miteinanders und Gegeneinanders" (300) geht. Fragen nach der häuslichen Geschlechter-, Verwandtschafts- und Vermögensordnung sowie nach Konflikten und Gewalt spielen hier eine wichtige Rolle. Die einzelnen Aufsätze behandeln u.a. die (rituelle) Bedeutung des Hauses in der Heiratspraxis, die Besonderheit des Hauses im Judentum, die komplexe Vererbungspraxis als Teil familialer Vermögenstransfers, die Berufstätigkeit im Haus des 19. Jahrhunderts, das Phänomen des "Mitwohnens" in Haushalten der Moderne sowie den Wandel der Haustier-Mensch-Beziehungen.
Teil 4 fokussiert auf die alltägliche Interaktion der Hausbewohner mit der sozialen Umwelt. Dabei werden im Spannungsfeld von Abschließung und Öffnung vor allem die Nachbarschaft als spezifischer "Handlungs- und Kommunikationszusammenhang" (413) sowie die Gastfreundschaft als normatives Konzept und als soziale Praxis stark gemacht. Weitere Beiträge beschäftigen sich u.a. mit frühneuzeitlichen Rügeritualen am Haus sowie mit dem Fenster als Ort der Interaktion. In Teil 5 geht es um das Haus als Ort und Medium des Erwerbs und der Aushandlung von Zugehörigkeiten in der sozialen Welt, wobei unterschiedliche "Zugehörigkeitsmarker" - Konfession, Verwandtschaft, Stand, Geschlecht, Nation - zur Sprache kommen. Die einzelnen Aufsätze behandeln u.a. das Haus als Ort der Andacht, die Bedeutung des Hauses für den Adel in der Moderne und für die Wechselbeziehung von Mobilität und Immobilität, die Adressierung des Hauses mittels Namen und Nummern sowie das literarische Genre der "Häuserromane" im 19. Jahrhundert. Der abschließende Teil 6 stellt unter der Überschrift "Wissensordnung und Ordnungswissen" die Frage nach dem Ort des Hauses in den "sozialen Wissensvorräten" (643) verschiedener Epochen und verschiedener Wissensbereiche. Die Aufsätze spüren dem Haus in der antiken Literatur, in der politischen und juristischen Theorie der Frühen Neuzeit, in der protestantischen Theologie, in neuzeitlichen Architekturtraktaten sowie in der literarischen Anthropologie der Biedermeierzeit nach.
Auch wenn eine detaillierte Würdigung der einzelnen Beiträge im Rahmen einer Besprechung naturgemäß nicht geleistet werden kann, lässt sich doch abschließend resümieren: Das Handbuch wird dem selbstgesteckten Ziel, die vielschichtigen Zugänge zum Thema Haus zusammenzuführen und in aktuellen Forschungsdiskussionen zu verorten, ausgesprochen gut gerecht. Dass der individuelle Leser die eine oder andere Schwerpunktsetzung anders vornehmen würde oder hier und da noch eine Leerstelle entdeckt - mir fehlte etwa an manchen Stellen der Fokus auf das Mittelalter -, ist wohl das Schicksal fast jedes Handbuchprojekts und wäre müßig zu kritisieren. Ausdrücklich hervorzuheben sind hingegen die klare Gliederung des Bandes, die pointierte Argumentation der meisten Beiträge sowie die Einbettung der Einzelthemen in übergreifende Zusammenhänge und allgemeine Forschungsfragen. Insofern kann nicht nur derjenige, der sich im engeren Sinne der "Hausforschung" widmet, hier Interessantes und Weiterführendes entdecken.
Michael Hecht