Linda Herrera / Assaf Bayat (eds.): Being Young and Muslim. New Cultural Politics in the Global South and North (= Religion and Global Politics Series), Oxford: Oxford University Press 2010, XV + 428 S., ISBN 978-0-19-536920-5, USD 29,95
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Lale Yildirim: Der Diasporakomplex. Geschichtsbewusstsein und Identität bei Jugendlichen mit türkeibezogenem Migrationshintergrund der dritten Generation, Bielefeld: transcript 2018
Pia Koivunen: Performing Peace and Friendship. The World Youth Festivals and Soviet Cultural Diplomacy, Berlin: De Gruyter 2023
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Sándor Horváth: Children of Communism. Politicizing Youth Revolt in Communist Budapest in the 1960s. Translated by Thomas Cooper, Bloomington, IN: Indiana University Press 2022
Benjamin Möckel: Erfahrungsbruch und Generationsbehauptung. Die "Kriegsjugendgeneration" in den beiden deutschen Nachkriegsgesellschaften, Göttingen: Wallstein 2014
Innerhalb der Reihe Religion and Global Politics Series erschienen, widmet sich dieses insgesamt 22 Aufsätze umfassende Werk muslimischen Jugendkulturen, respektive Jugendbewegungen. Dabei geht es vor allem um Formen von Identifizierungsprozessen muslimischer Jugendlicher sowohl in Gesellschaften mit mehrheitlich muslimischer Bevölkerung, als auch in vier europäischen Ländern sowie den USA, in denen die dominante Bevölkerung christlichen Religionen angehört.
Das Buch wurde auf Grundlage zweier Workshops in Leiden und Den Haag in den Jahren 2005 und 2006 verfasst; so erscheint es logisch, dass der Schwerpunkt auf soziologischen Prozessen und politischen Entwicklungen nach 9/11 liegt, der Arabische Frühling jedoch nicht berücksichtigt werden konnte.
Wird der Begriff "Youth" als analytische Kategorie zwar von einigen Autoren selbst zu Recht in Frage gestellt, vor allem wegen der Interdependenz mit Kategorien wie "Gender" und "Klasse", so gilt er doch als nützlicher Marker. Die Autoren berufen sich auf die Habitustheorie des Soziologen Pierre Bourdieu, und so wird "Youth" dementsprechend kollektive Denk- und Handlungsschemata zugesprochen. Es bleibt dennoch fraglich, ob diese Kategorie als umfassendes Konzept stabil ist, wie sich auch in der vorliegenden Ausgabe an konträren Formen der Ausübung eines claim of youthfulness - variierend von Gesellschaftsform und Vorbildern in der älteren Generation - manifestiert
Im Vordergrund steht die dem Alter entsprechende Selbstfindung und gesellschaftliche Positionierung muslimischer Jugendlicher. Neben ökonomischen Faktoren - wie einer hohen Arbeitslosenrate unter Jugendlichen (vor allem im globalen Süden) - wird auch auf soziale Exklusion (vor allem im globalen Norden), neue mediale Plattformen (youtube, facebook) und internationale Prozesse (9/11) verwiesen, die diese Positionierungen beeinflussen.
In allen Fällen ist die Abgrenzung der Jugendlichen zur Mehrheitsgesellschaft relevant. Dies geschieht mal in extremen Ausmaßen, mal fast unbemerkt. Der globale Kontext ist dabei nicht zu vernachlässigen, wird in fast jedem Artikel auf die Anschläge des 11. September 2001 verwiesen, die zu einer stärkeren Identifizierung mit der Religion führten. Hierbei ist eine Differenzierung zwischen muslimischen und nicht-muslimischen Ländern notwendig, denn in ersteren wurde "Islam" nun verstärkt als "in opposition to the ´West´"(4) positioniert und Feindbilder wie die USA verstärkt wahrgenommen, wie am Beispiel marokkanischer und nigrischer Jugendlicher deutlich gemacht wird. Unzweifelhaft spielt dabei die ökonomische Situation eine große Rolle. Dies führt zu einer ambivalenten Wahrnehmung der Jugend durch politische Eliten als einerseits "builders of the future" (4) und andererseits "disruptive´ agents" (ebd.), die aufgrund dieser wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse anfälliger für Radikalisierung seien.
Im so gennannten "Westen" hingegen sahen sich viele Muslime nun dem Wandel einer Identifizierung von außen ausgesetzt: statt als "ethnic minority" (313) in der Gesellschaft wahrgenommen zu werden, wurden zum Beispiel Marokkaner in den Niederlanden nun in erster Linie als Muslime verstanden und als Terroristen diffamiert. So lässt sich die gesellschaftliche Positionierung als Antwort auf Akzeptanz beziehungsweise Ablehnung durch die Mehrheitsgesellschaft erklären. Dies wird auch an den Beispielen Deutschland und Frankreich deutlich, in denen Frauen stärker in den Fokus gerückt werden. Der Hijab junger Musliminnen wird, im Gegensatz zu dem als kulturelles Element verstandenen Hijab der älteren Generation, als politisches Statement und religiöses Symbol gezeichnet, individuelle Freiheiten ausgeblendet.
Der erste Teil (Politics of Dissent) behandelt Generationskonflikte vorzugsweise in Ländern mit muslimischer Mehrheitsgesellschaft, darunter Iran, Ägypten, Indonesien, Marokko, Saudi-Arabien, Gambia und Palästina. Dieses breite Spektrum zeigt verschiedene Ansätze der jugendlichen Bevölkerung der jeweiligen Länder auf: In Gambia, in dem sich die Jugend als Träger des "wahren Islam" betrachtet und eine pflichtbewusstere Auslegung und Praktizierung der Religion gegen die synkretistische Haltung der Eltern stellt, bleiben politische Eliten unangetastet. Im iranischen Kontext werden ebendiese herausgefordert, wenn religiöse Feste als Anlass gemischt-geschlechtlicher Parties betrachtet werden oder während eines Fußballspieles offen auf der Straße gegen Disziplin und moralische Gesellschaftsvorstellungen rebelliert wird (so genannter stadium discourse).
Im zweiten Teil (Livelihoods and Livestyles) werden Lebensrealitäten muslimischer Jugendlicher in mehrheitlich-muslimischen Gesellschaften (Ägypten) und als Angehörige einer Minoritätengruppe (Brooklyn, USA) dargestellt; die Differenzierung zu der Thematik des dritten Teils (Strivings for Citizenship) bleibt aufgrund der ähnlichen Inhalte unklar. Hier werden Frankreich, Deutschland und der Iran problematisiert, wobei auch ein Vergleich des Identifizierungsprozesses französischer und deutscher Jugendlicher mit Migrationshintergrund gezogen wird. An dieser Stelle wird der Habitus, der Jugendlichen gemein sein soll, durch die "youthful claims" (28) ad absurdum geführt. Beinhaltete dieser claim in den bisherigen Artikeln ein eher freies Ausleben der eigenen Persönlichkeit, von Spaß (Iran) und Sexualität (Ägypten), zeichnet sich die muslimische Diaspora vor allem durch die Hervorhebung von Pietät aus. Besonders junge Frauen wählen, zum Teil auch im Gegensatz zu ihren Müttern, den Hijab als Antwort auf die Vorstellung sexueller Befreiung der Mehrheitsgesellschaft.
Im vierten Teil (Navigating Identities) werden sehr heterogene Herangehensweisen an Religion durch Jugendliche vorgestellt. Im Niger zeigt sich diese durch eine pragmatische Auslegung, in Mali entwickelte sich eine eigene sufische (Jugend-)Bewegung. Die Türkei stellt muslimische Jugendliche im post-islamischen Staat vor neue Herausforderungen in ihrer "Muslimness" (261), während im Iran trotz neuer Verhaltenskodizes die Genderprivilegien unangetastet bleiben.
Der letzte Teil (Musical Politics) beschäftigt sich mit dem Phänomen von Musik in Jugendkulturen, die sich, vornehmlich in nicht-muslimischen Ländern wie Großbritannien und den Niederlanden, in subversiver Form (Rap, Rock, Heavy Metal) als Rebellion gegen die Mehrheitsgesellschaft versteht. Die Musikszene in Indonesien wird im letzten Artikel des Sammelbandes besprochen, mit Fokus auf den Zusammenhang zwischen Popmusik, Gender und gesellschaftlichem Wertekodex. Aufgrund der hohen Anzahl an und Beliebtheit von weiblichen Künstlern in der Popszene wird die von ihnen postulierte Weiblichkeit im gesellschaftlichen Diskurs relevant, steht aber im Widerspruch mit dem allgemeinen Trend zu muslimischer Kleidung innerhalb der jugendlichen community.
Klar kristallisiert sich der rebellierende bis revolutionäre Charakter gegen bestehende Werte der älteren Generationen, beziehungsweise der Mehrheitsgesellschaft heraus.
Manche Thesen, die in dieser Edition aufgestellt werden, scheinen aufgrund aktueller politischer Ereignisse obsolet geworden zu sein. So zum Beispiel der Fall der ägyptischen Jugend, die hier als eine systemtreue Form von Jugendkultur beschrieben wird. Aufgrund der Revolution im Kontext des Arabischen Frühlings, die vor allem von jungen Menschen getragen wurde, sollte dieser wohl aktualisiert werden, verbleibt aber als interessanter Hinweis auf eine mögliche Entwicklung in Richtung dieser Revolution.
Das Zusammenspiel der ausgewählten Artikel harmoniert, trotz erwähnter Unklarheiten innerhalb der Kapitelauswahl, und spiegelt die Heterogenität innerhalb der muslimischen, "jungen" communties wider.
Zwar existieren bereits einige Studien über muslimische Jugendliche in verschiedenen Ländern. Doch bietet sich hier durch die repräsentative Auslese der Artikel, die sowohl unterschiedlichste Bereiche jugendlicher Lifestyles (wie Autorennen, Musik, Sexualität), als auch insgesamt vier Kontinente abdecken, ein guter Überblick. Um diese vielfältigen Lebensrealitäten zu verstehen, erscheint dieser Sammelband enorm hilfreich und als Referenzquelle unverzichtbar.
Lena Reuter