Marco Mattheis: Der Kampf ums Ritual. Diskurs und Praxis traditioneller Rituale in der Spätantike (= Reihe Geschichte; Bd. 4), Düsseldorf: Wellem Verlag 2014, XI + 288 S., 1 CD-Rom, ISBN 978-3-941820-15-9, EUR 49,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Alexander Demandt: Diokletian. Kaiser zweier Zeiten. Eine Biographie, München: C.H.Beck 2022
Luca Asmonti: Conon the Athenian. Warfare and Politics in the Aegean, 414-386 B.C., Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2015
Adrastos Omissi: Emperors and Usurpers in the Later Roman Empire. Civil War, Panegyric, and the Construction of Legitimacy, Oxford: Oxford University Press 2018
Mit seiner bereits im Jahr 2012 verteidigten Heidelberger Dissertation, die nunmehr in überarbeiteter und gekürzter Form vorliegt, bereichert Marco Mattheis die Riege der in jüngerer Zeit im Heidelberger Umfeld publizierter Arbeiten, die sich verschiedenen Aspekten spätantiker Kulturgeschichte widmen. Konkret ist die vorliegende Studie im Rahmen des SFB 619 "Ritualdynamik" entstanden und übernimmt dementsprechend auch die thematisch-methodische Vorgabe des Sonderforschungsbereichs, indem sie die dynamischen Veränderungsprozesse 'traditioneller', also im Regelfall heidnischer Rituale in der christlicher werdenden Spätantike nachzeichnen will. [1] Er geht dabei analytisch zweigleisig vor, indem er sich zuerst der diskursiven Aushandlung dieser Rituale, später dann der performativen Ausübung zuwendet, wobei er sich in der Hauptsache (aber nicht ausschließlich) auf den Ritualdiskurs und die Ritualpraxis der spätantiken Provinzstädte konzentriert (16f.). Eine kurze Einleitung führt zwar in die Begrifflichkeit der Ritualforschung und der Ritualen einwohnenden Dynamik ein (1-18), versäumt es aber leider, sich den durchaus vorhandenen theoretischen Schwierigkeiten umfassend zu stellen. [2] Für seine Arbeit fasst Mattheis Rituale als Ort von politischen Aushandlungsprozessen, in denen sie "in sehr unterschiedlichen Kontexten als strategisches Instrument einsetzbar" seien (6f.). Dabei sieht er sie aber nicht (nur) in der Tradition monarchischer top-down Repräsentation als "Mittel der Konsensstiftung", sondern "vor allem als Austragungsort des Konfliktes" (7), damit als in beide Richtungen agierende und von beiden Seiten potenziell manipulierbare Handlung. Gerade für die Spätantike sei dabei der ritualdynamische Ansatz berechtigt, der von einer stetigen Adaption von Ritualen ausgeht und ihnen einen rekursiven, "jenseits ihres ursprünglichen Kontexts" einsetzbaren Charakter attestiert, da die damals stattfindenden religiösen Transformationsprozesse "Auswirkungen auf die seit jeher in den Städten der Antike überaus bedeutenden Rituale hatten" (8f.).
Um zu zeigen, dass Rituale "jenseits ihrer vordergründigen Semantik als Macht- oder Konsensrituale Aushandlungen auslösten, die mit der abstrakten Bedeutung des Rituals nur wenig zu tun hatten" und dass die "Handlungsmacht über ein Ritual [...] in jeder Performanz neu ausgehandelt werden" musste (17), gliedert Mattheis seine Arbeit in zwei Hauptteile, die nacheinander den Diskurs über und die Performanz von ausgewählten Ritualarten in der sich verändernden Spätantike behandeln. Dabei konzentriert er sich in der Hauptsache auf drei ausgewählte Ritualarten: Kaiserbildverehrung, Akklamationen und Adventus.
Im ersten Teil (19-150) wird die diskursive Praxis wiederum in drei thematische Blöcke gegliedert. Zunächst wird die "Aushandlung des Religiösen" betrachtet: Die dynamischen Transformationsprozesse, denen die 'traditionellen' Rituale in der Spätantike ausgesetzt waren, werden anhand des über sie geführten Diskurses nachgezeichnet. Ein besonderes Augenmerk richtet Mattheis auf den Kaiserkult in seinen unterschiedlichen Formen und betont lange Entwicklungslinien. Der kritische Diskurs um den heidnischen Kaiserkult sei dabei von christlicher Seite auf die Frage der blutigen Opfer reduziert, die Kaiserverehrung christlich umgedeutet worden, als Teil einer "legitimatorische[n] Strategie, um bestimmte Praktiken auch in einem christlichen Kaiserreich weiterführen zu können". Dennoch solle man keinesfalls von einer "Säkularisierung" der Kaiserverehrung sprechen, denn "der Wegfall blutiger Opfer darf nicht über die deutlichen Kontinuitäten zwischen Hoher und Später Kaiserzeit hinwegtäuschen." (71) Im Gegenteil: "Nicht der Kaiserkult wurde [...] säkularisiert, sondern die Definition [...] wurde christianisiert." (72) In seiner Besprechung der spätantiken (reichsweiten und provinziellen) urbanen Festkultur gelangt Mattheis nach exemplarischer Betrachtung des antiochenischen Festkalenders zu ähnlichen Schlussfolgerungen und konstatiert einen "sukzessiven Austauschprozess" und nicht etwa eine abrupte Christianisierung (131). Gerade die christlichen Autoren, die die traditionellen Feiern gerne durch christliche Feste ersetzt gesehen hätten, mussten nach dem Verbot blutiger Opfer argumentativ ausweichen und kritisierten nun einen vermeintlichen hedonistischen Festcharakter (124f.); diese angebliche 'Säkularisierung' der Feste sei dann unkritisch von der Forschung übernommen worden (127). Gerade städtische Feiern sind für Mattheis somit Orte des Konfliktaustrags, an dem aber "gleichzeitig der Zusammenhalt der Gemeinschaft fühlbar wurde" (130). Als letzten Baustein dieses ersten Hauptteils nimmt sich Matheis anschließend die sich verändernde Haltung der Christen zur Kaiserbildverehrung vor, die sich von vollständiger Ablehnung hin zu einem stillschweigenden Dulden, ja geradezu zu einer routinierten Akzeptanz wandelte (144f.); auch hier führte eine "diskursive Umdeutung" zur Legitimation einer "erhebliche[n] morphologische[n] Kontinuität" (149).
Der zweite Hauptteil geht anschließend der Frage nach, "wie Rituale als strategisches Mittel zur Aushandlung von Konflikten genutzt wurden" (151). Das Beispiel der Kaiserbildverehrung wieder aufgreifend, zeigt Mattheis, dass es ein 'Ritualmonopol' der Kaiser nicht gegeben hat, dass gerade die Verehrung des Kaiserbildes ein "enorm flexibles Ritual war, das von unterschiedlichen Akteuren dazu benutzt wurde, Druck auf andere Akteure auszuüben" (160). Somit waren Rituale gerade in ihrer Provozierung von Zustimmung oder Ablehnung (denn vor allem denjenigen Ritualen, welche den Kaiser involvierten, konnte man nicht neutral gegenüber stehen) ein politisches Instrument, welches auch bottom-up zur Aushandlung von Konflikten mit der Obrigkeit genutzt wurde. Dieser Gedanke bestimmt auch die weiteren Unterkapitel, welche sich mit Akklamations- und Adventusritualen beschäftigen. Gerade bei Akklamation ergänzt Mattheis die vorherrschende Ansicht um eine wichtige Funktion dieses Rituals, welches in den Provinzstädten zur Anwendung kam: Auch unter Zuhilfenahme epigraphischer und papyrologischer Evidenz kann er zeigen, dass Akklamationen in vielfältigen städtischen Kontexten mit ganz unterschiedlicher Zielsetzung (167-201; 203) eingesetzt wurden. Von höchster Relevanz ist dabei auch ein konstantinisches Gesetz (CTh 1.16.6), welches die Vermittlung von Akklamation aus einem provinzstädtischen Kontext über den zuständigen Prätorianerpräfekten an den Kaiserhof regelte (184ff.) und damit die Voraussetzung dafür lieferte, dass Akklamationen "als politisches Medium innerhalb der Provinzstädte von praktisch allen städtischen Gruppen eingesetzt werden konnten" (203). Auch für den Adventus, der häufig verkürzt als rein herrschaftliches Ritual gesehen wird, gelingt es Mattheis, eine weitere Perspektive aufzuzeigen: So betont er dessen Bedeutung in einem christlichen Kontext der späteren adventus von Bischöfen, da christliche Einmütigkeit sich durch dieses Ritual besonders gut inszenieren ließe (232). Wie in anderen beschriebenen Ritualkontexten, lag die Deutungshoheit auch hier nicht unbedingt und in jedem Fall bei obrigkeitlichen Akteuren, denn kein einzelner Akteur - weder der Kaiser, noch die Kirche - vermochte, "dauerhaft die Handlungsmacht über das Ritual zu erlangen." (232)
Eine kurze Zusammenfassung (233-242) fasst die wichtigsten Ergebnisse konzise zusammen, betont noch einmal die grundlegende Flexibilität von Ritualen und hebt darüber hinaus hervor: "Politische Rituale waren somit eine Plattform, die potenziell allen Akteuren offenstand. [...] Die in der Regel stark kaiserzentrierte Perspektive der bisherigen Forschung bietet daher einen sehr einseitigen und damit auch verzerrten Blickwinkel" (242). Ein Abbildungs- sowie ein Literaturverzeichnis (245-282) und ein kurzes, aber differenziertes Register (283-288) beschließen diesen hochinteressanten und sehr anregenden Band, der der Printausgabe übrigens auch in elektronischer Form auf CD-ROM beiliegt, und der gerade durch die explizit nicht-hauptstädtische Fokussierung zu neuen Ergebnissen kommt und unser Verständnis spätantiker Ritualkultur deutlich erweitert.
Anmerkungen:
[1] Einen gleichen Ansatz verfolgte bereits eine früher veröffentlichte exemplarische Studie, die bewusste transformative Eingriffe in die Ritualpraxis zum Thema hatte: s. M. Mattheis / C. Witschel: Die Transformation städtischer Rituale in der Spätantike. Ein Fall von Ritualdesign?, in: J. Karolweski / N. Miczek / C. Zotter (Hgg.): Ritualdesign. Zur kultur- und ritualwissenschaftlichen Analyse "neuer" Rituale, Bielefeld 2012, 67-96.
[2] Die Diskussion um die Bedeutsamkeit des Ritualbegriffs findet bislang noch vornehmlich in den historischen Nachbardisziplinen statt; vgl. P. Buc: The Dangers of Ritual: Between Early Medieval Texts and Social Scientific Theory, Princeton 2002 und dazu die lesenswerte, als Rezension getarnte Polemik Geoffrey Koziols: The dangers of polemic: Is ritual still an interesting topic of historical study?, in: Early Medieval Europe 2002 (11), 367-388. Mit Gewinn zu konsultieren ist auch die kürzlich erschienene Einführung von Barbara Stollberg-Rilinger: Rituale (Historische Einführungen; 16), Frankfurt am Main 2013.
Christian Rollinger