Winfried Böttcher (Hg.): Klassiker des europäischen Denkens. Friedens- und Europavorstellungen aus 700 Jahren europäischer Kulturgeschichte, Baden-Baden: NOMOS 2014, 781 S., ISBN 978-3-8329-7651-4, EUR 98,00
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Winfried Böttcher, von 1973 bis 2001 Professor für Politische Wissenschaften und Internationale Politik an der RWTH Aachen, hat sich einen lang gehegten Wunsch erfüllt: Das vorliegende Nachschlagewerk will einen raschen Zugriff auf die umfassende Thematik von Europa-Ideengebern und -Planern gewährleisten sowie einen Überblick über die Klassiker europäischen Denkens bieten. Es soll zur "vertiefenden Beschäftigung" anregen mit Persönlichkeiten, "die nicht zuletzt unser heutiges Bild von Europa geprägt haben" (13). Böttcher liefert sogleich Definitionen von "Klassikern" ("Autoren ersten Ranges, verbunden mit einer besonderen Wertschätzung"; eine Persönlichkeit, "die in ihrer Zeit mit innovativen Gedanken diese geprägt, Diskurse angestoßen hat, aber deren Gedanken auch bis in unsere Zeit Wirkung zeigen"; ebd.). Die ausgewählten Beispiele sollen darüber hinaus auch einen kulturgeschichtlichen Beitrag leisten, d.h. "Friedens- und Europavorstellungen" aus sieben Jahrhunderten vorstellen.
Der Aufbau des Werkes kann als klassisch-traditionell bezeichnet werden: Das "griechische Erbe" behandelt Thomas Alexander Szlezák, das "römische Erbe" Klaus Bringmann und das "jüdisch-christliche Erbe" Eckart Otto. "Was Europa dem Islam verdankt und was den Byzantinern" erörtert Gotthard Strohmaier und Max Kerner das Erbe Karls des Großen. Karl V. mit dem letzten historisch bekannten Versuch, eine Universalmonarchie zu schaffen, fehlt allerdings mit einem eigenen Eintrag - nicht einmal im Register taucht er auf, während bei vielen anderen in diesem Werk genannten Persönlichkeiten fraglich ist, ob und wie sehr sie wirklich "Europäer" im Denken und im Geiste waren. Diese Frage hätte eine eingehendere Definition und kriterienorientierte Erläuterung verdient.
Die Aufteilung des Werkes, soweit es um die Personen geht, erscheint etwas willkürlich. Das Buch beginnt mit dem Kapitel "Auf dem Wege in die Frühe Neuzeit" (1306-1648) mit Pierre Dubois, Enea Silvio Piccolomini (Papst Pius II.), Georg von Podiebrad etc. Unter "Die Aufklärung und ihre Folgen" (1649-1815) werden unter anderem Thomas Hobbes, John Locke und William Penn behandelt. In das Kapitel "Umbruch zur Moderne" (1816-1913) wurden Personen aufgenommen wie Jeremy Bentham, Karl Freiherr vom und zum Stein, Henri de Saint-Simon und andere. Im Abschnitt "Die doppelte Katastrophe" (1914-1945) stehen beispielsweise Tomáš Garrigue Masaryk, Georges Sorel und Friedrich Naumann, und unter der Rubrik "Der Phönix aus der Asche" (1946-2011) finden sich Konrad Adenauer, Rudolf Pannwitz, Karl Jaspers, Robert Schuman und viele andere Persönlichkeiten mehr.
Wie die selektive Aufzählung verrät, wurden Päpste, Parlamentarier, Philosophen, Regierungschefs, Schriftsteller und Wissenschaftler bunt zusammengewürfelt. Der chronologische Aufbau hätte diachrone wie synchrone Vergleichsmöglichkeiten nicht ausgeschlossen, schwebte dem Anliegen aber nicht vor. Eine berufsgruppenspezifische Systematisierung ist ebenfalls nicht erfolgt.
Rein zahlenmäßig betrachtet fällt bei einem ersten Zugriff Folgendes auf: Es sind die Europäer aus der Gruppe "Phönix aus der Asche" führend (31 "Klassiker"), gefolgt von jenen, die im "Umbruch zur Moderne" lebten (24). Daran schließen sich die Exponenten der Aufklärung (18) an. Den vorletzten Rang nehmen die Zeitgenossen des Europas der "doppelten Katastrophe" (17) ein. Die rote Laterne tragen die Vertreter der "Vormoderne" ("Auf dem Wege in die Frühe Neuzeit") (10). Europa-Ideen waren demnach kein ausgesprochen spätmittelalterlich-frühneuzeitliches, sondern ein neueres und zeitgeschichtliches Phänomen, was die bisherige Forschung bestätigt. Ohne die in Klammern angeführten Zahlenwerte überstrapazieren zu wollen, dominieren relativ klar jene Denker, die Europa im Zeichen seiner Selbstentmachtung und Selbstzerstörung reflektierten, und jene, die den Weg in die Moderne beschritten haben. Auffallend ist ebenso der Befund, dass Klassiker europäischen Denkens Männer und kaum Frauen waren.
Grundsätzlich stellt sich bei der Zuordnung dieser epochenübergreifend vorgestellten Biografien die Frage der Abgrenzung der Epochen und Teilepochen und inwieweit diese tatsächlich die Biografien und Denkstrukturen berührten, zumal die Lebensgeschichten ihre eigenen Einschnitte und Zäsuren kennen. Es empfiehlt sich daher immer, Herkunft, Vorfahren, Familienkonstellation, Erziehung, Freunde, Lehrer-Schüler-Verhältnisse, Vorbilder, Vereins- und Verbandszugehörigkeiten, Parteimitgliedschaften, Berufszugehörigkeiten und -wechsel, Gegner, Konkurrenten, Kritiker sowie die Nachwirkung, d.h. die Rezeption der Lebensgeschichten, systematisch einzubeziehen, was in den klassischen biografischen Lexika in der Regel geschieht (z.B. dem Österreichischen Biographischen Lexikon, der Neuen Deutschen Biographie oder dem Historischen Lexikon der Schweiz).
Abgesehen von methodischer Kritik, die man anbringen kann, ist die Vielzahl der verfassten Beiträge eine bemerkenswerte wissenschaftliche Leistung. Namhafte Autoren konnten gewonnen werden, auch weniger bekannte steuerten Beiträge bei, die allerdings sehr unterschiedlich in Aufbau und Länge und teils im aufsatzartigen Stil, teils essayistisch gehalten sind, was eben eine zielgerichtete Komparatistik erschwert. Zudem wird deutlich, dass es nur eine erste Auswahl ist und diese auch als klassisch kerneuropäisch bezeichnet werden kann: Die Klassiker stammen primär aus den (späteren) Gründerländern der Europäischen Gemeinschaften. Es dominiert folglich Westeuropa. Ein Schwerpunkt auf deutsche und französische Klassiker ist unverkennbar. Mittel- und Osteuropäer blieben weitgehend im Hintertreffen, aber auch zahlreiche Westeuropäer fehlen. Am Ende hat der Herausgeber auf zwei Seiten "weitere Klassiker des europäischen Denkens" (775f.) aufgelistet. Die Öffnung des Ostens, die "Osterweiterung" der EU bzw. die Rückkehr Mittel- und Osteuropas nach "Europa" hat in diesem Lexikon offensichtlich noch nicht stattgefunden (wie in der Liste der weiteren Klassiker ihre wenigen Repräsentanten, z.B. Oskar Halecki, Lajos Kossuth, Jerzy Lubomirski oder Mihály Táncsics, verdeutlichen). Hatte und hat dieser Teil Europas nicht mehr zu bieten?
Die durch neuere historische Europa-Forschungen zu Tage geförderten westeuropäischen Exponenten des europäischen Denkens und Handelns wie Emil Mayrisch, Pierre Viénot oder Karl Anton Rohan blieben ebenfalls unberücksichtigt. Fragwürdige Europäer bzw. zweifelhafte "Klassiker europäischen Denkens" wie Rosa Luxemburg, Oswald Spengler oder Charles de Gaulle - im ersten Fall stand der kommunistische Internationalismus, im zweiten Fall eine klar deutsche Zukunftsorientierung und im dritten französisches Nationalstaatsdenken klar vor europäischem Denken - hätten nicht unbedingt Aufnahme in dieses Werk finden müssen, obwohl diese Artikel für sich genommen durchaus überzeugen können. Über die Zuordnung mancher Beiträge kann man auch geteilter Meinung sein, so wenn zu starr am chronologischen Prinzip der Geburtsjahre in den jeweiligen Großkapiteln festgehalten worden ist oder wenn Alcide De Gasperi unter "Die doppelte Katastrophe" rangiert. Im Grunde wäre er unter "Phönix aus der Asche" nach Adenauer auch, wenn nicht besser aufgehoben, begann doch seine Wende zu einem europäisch-integrationspolitischen Denken erst ab den 1950er-Jahren. Wieso Carl Schmitt unter "Phönix aus der Asche" firmiert und nicht unter der "doppelten Katastrophe", ist eventuell ein dem Zeitgeist geschuldeter Einwand; das wäre aber wie viele andere Zuordnungen auch diskussionswürdig gewesen.
Am Ende des sehr breit angelegten Werkes geht Böttcher dem Thema "Europa - quo vadis?" nach und stellt dabei die zentrale Frage, wie Europa jenseits der Nationalstaaten regiert werden kann (753ff.). Alles in allem ist das Sammelwerk eine Fundgrube für Europa-Forscher der Geschichts-, Sozial- und Politikwissenschaften sowie der Ideengeschichte und Philosophie und kann trotz verschiedenartiger Zugänge und Verarbeitungen als Nachschlagewerk von bleibendem Wert empfohlen werden.
Michael Gehler