Winfried Böttcher (Hg.): Europas vergessene Visionäre. Rückbesinnung in Zeiten akuter Krisen, Baden-Baden: NOMOS 2019, 521 S., ISBN 978-3-8487-4583-8, EUR 58,00
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Jan Harasimowicz: Schwärmergeist und Freiheitsdenken. Beiträge zur Kunst- und Kulturgeschichte Schlesiens in der Frühen Neuzeit, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2010
Jörg Deventer: Gegenreformation in Schlesien. Die habsburgische Rekatholisierungspolitik in Glogau und Schweidnitz 1526-1707, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2003
Norbert Conrads: Schlesien in der Frühmoderne. Zur politischen und geistigen Kultur eines habsburgischen Landes, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2009
"Das Ideal - es hat das Straßenpflaster erreicht". [1] Mit dieser Metapher läutete der polnische Dichter der Spätromantik, Cyprian Kamil Norwid, den sich - nach dem gescheiterten Attentat auf den russischen Statthalter, Fiodor Berg, während des polnischen Januaraufstands 1863 - in ganz Europa anbahnenden Zerfall der hohen Ideale ein, unter anderem das der Freiheit des Geistes. Norwid sucht in einem der weiteren Teile des Gedichts eine Antwort auf die Frage, warum die "wahre Kunst" so wenig mit der realen Welt vereinbar sei, und kommt zu dem Schluss, dass das Charakteristikum dieser Welt ihre Unvollkommenheit sei. Und nur die Kunst sei etwas Vollkommenes, eine vollkommene Einheit. Deswegen lasse sie sich in der realen Welt nicht realisieren.
Dieser Exkurs in die Dichtung schuldet sich der Vorliebe des Herausgebers des zu besprechenden Bandes, für die Formulierung seiner Gedanken Genres zu mischen. Er selbst ist Politikwissenschaftler, zweifelsohne belesen und mit literarischen und publizistischen Werken großer Autoren vertraut, aus denen er gerne zitiert. Damit bewegt er sich in die Welt des Vollkommenen hinein. Aus dieser Vorstellung der utopischen Vollkommenheit ist jetzt ein weiterer Band entstanden, in dem sich der Herausgeber mit seinem Verständnis von Europa als Ort "einer besseren Gesellschaft" (15) erneut mit dem Gedanken über die europäische Zukunft befasst.
Diesmal geht es um "Visionen" für unseren Kontinent und dessen "Visionäre" (über Visionärinnen habe Europa offensichtlich nicht verfügt). Es geht um die "Antizipation eines künftigen Europas" (16) aus der Vergangenheit in die Gegenwart hinein. So gesehen gehören - der Herausgeber bestätigt diese Annahme (16) - die porträtierten Autoren "zu den Klassikern des europäischen Denkens". Diesen Titel trug der 2014 erschienene "erste" Band zum Thema "Friedens- und Europavorstellungen aus 700 Jahren europäischer Kulturgeschichte" (Untertitel).
In dem vorliegenden Band mit dem Untertitel "Rückbesinnung in Zeiten akuter Krisen" widmet sich Böttcher der Idee, europäische Zukunft mit dem Ansatz, "Visionäre" der Vergangenheit in Erinnerung zu rufen, neu zu er-denken. [2]
Die Aufteilung des Werkes folgt (wie bereits in der ersten Publikation) einer schematischen Strukturierung: auf dem Weg in die Frühe Neuzeit (etwa 14. bis 17. Jahrhundert, 29-87), dann die Aufklärung und ihre Folgen (17. bis Anfang des 19. Jahrhundert, 88-182), der Umbruch zur Moderne gilt folgerichtig dem "langen" 19. Jahrhundert bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs (183-328). Der letzte Teil der die "Visionäre" aufarbeitenden Beiträge endet mit den Weltkatastrophen und der Zeit danach (329-503).
Dem Buch wird ein emphatisches Geleitwort des österreichischen Schriftstellers Robert Menasse vorangestellt. Den Abschluss findet es in einem zusammenfassenden Epilog, in dem der Herausgeber an die Er-denker Europas appelliert, den Kontinent "föderal[er], regional[er], humanistisch[er], rechtsgleich[er], kurz republikanisch[er]" zu machen, sonst "wird [er] gar nicht sein".
Eine sinnvolle Hilfestellung für die Lektüre bieten vorweggestellte Kurzporträts der Akteure aus der Feder des Herausgebers.
Der Band, als Nachschlagewerk konzipiert, teilt alle Stärken und Schwächen der für das interessierte Publikum herausgegebenen enzyklopädisch gedachten Werke. Es ist einerseits interessant zu lesen, wie das geballte Wissen der namhaften Autoren der interessierten bzw. breiten Leserschaft präsentiert wird. Auch hier kommen die VerfasserInnen der Beiträge aus ganz Europa und sind entweder Professoren und Dozenten der Landesuniversitäten oder freischaffende Autoren. Sie besitzen zweifelsohne Kompetenzen, um inhaltlich wertvolle Beiträge zu liefern. Volker Reinhardt aus Fribourg, Anita Ziegerhofer aus Graz, Wolf Gruner aus Rostock und der frühere Mitarbeiter des am Leibniz-Institut für Europäische Geschichte Mainz und der Johannes Gutenberg-Universität Mainz angesiedelten Graduiertenkollegs Die christlichen Kirchen vor der Herausforderung 'Europa' Carl Antonius Lemke Duque (Universität Bilbao) gehören alle zu den gestandenen Forschern auf dem Gebiet der europäischen Kultur- und Ideengeschichte. Ihre Beiträge, komplettiert durch Aufsätze von Juristen, Sozial- und Sprachwissenschaftlern, stellen ein fundiertes Spektrum der Forschung über europabezogene Fragen dar.
Es ist natürlich für einen von der Leidenschaft für das Thema geleiteten Herausgeber nicht leicht, alle im Band vertretenen Forscher so weit zu disziplinieren, dass sie einem klaren (vorgegebenen) Schema in ihren Aufsätzen folgen. Und so leidet der Band darunter, dass die Beiträge nicht einheitlich wirken: teils aufsatzartig, teils essayistisch lassen sie keinen klaren Vergleich zu. Dass sich die porträtierten Autoren alle mit Überlegungen über das Wohlergehen des europäischen Kontinents beschäftigen und darüber aus unterschiedlichen Blickwinkeln "Visionen" für Europa entwickeln, ist zwar ein interessanter Forschungsansatz, es folgt freilich ein Aber... .
Dieses betrifft in erster Linie das methodische Konzept des Bandes. Allein die Veröffentlichung der Biographien der behandelten Autoren oder die Benennung ihrer thematischen Felder bzw. eine Zuordnung zum Genre "Utopie", gegebenenfalls eine Charakterisierung als Friedensentwurf für Europa, ein Appell für Gerechtigkeit oder soziale Gleichheit, machen die vorgestellten Texte weder europabezogen noch unvergesslich. Nur wenige der Beitragsverfasser berufen sich in ihren Ausführungen auf Publikationen oder Nachschlagewerke, die einem ähnlichem Konzept gefolgt sind. [2] Francesco Guiccardini wurde ausführlich von Christiane Coester im zweiten Band der Europa-Historiker behandelt; von Stanisław Staszic findet sich in Option Europa sogar ein Regest einer seiner Europa-Schriften samt einer Übersetzung ins Deutsche. Auch Nikolaus Vogt ist ein sehr gut erforschter Europa-Historiker. Zu den der Forschung nicht Unbekannten gehören Lajos Kossuth, Henri Pirenne und Edouard Herriot. Die osteuropäischen Vertreter unter den europäischen Denkern Oskar Halecki und Jakov Novikov sind auch nicht ganz "unvergessen", ebenso wie die westeuropäischen Publizisten - jeweils in und aus ihrer Zeit erforscht Karl Theodor von Traitteur-Luzberg, Otto Umfried oder Federico Chabod.
Und nicht die Tatsache irritiert, dass die Beitragsverfasser vielleicht nicht immer sauber gearbeitet haben - obwohl im Hinblick auf die editorische Absicht als Nachschlagewerk die Literaturhinweise einheitlich und vollständig sein sollten, was indes unterschiedlich ausfällt -, sondern die Tatsache, dass ihnen keine Standards vorgegeben wurden, die in sonstigen Lexika als Regel gelten: eine Historisierung des Geschriebenen und eine Ideenübersetzung in die Gegenwart hinein. Sonst bleiben die einfachen Fragen der Forschung auf der Strecke: warum, aus welchem (privaten, sozialen, politischen, wirtschaftlichen etc.) Grund der eine oder andere Text geschrieben wurde; warum die eine oder andere "Vision" entstanden ist?
Findet dieser Schritt in der Aufarbeitung nicht statt, verfehlen die Texte ihre Wirkung. Gelöst von ihrem historischen Umfeld können die Texte "modern" nicht gelesen werden. Mit diesem Phänomen haben wir es bei "Europas vergessenen Visionären" zu tun. Allein die Tatsache, dass ein Autor ein Kind der Aufklärung ist und sich in seinen Schriften - seinen "Visionen" - intensiv dem Friedensgedanken widmet, macht seine Texte für die Gegenwart nicht orientierungswürdiger. Allein die Tatsache, dass sich die Autoren des 19. Jahrhunderts verstärkt den sozialen Fragen und der Fürsorge widmeten - was aus dem historischen Kontext verständlich ist -, muss nicht unbedingt eine europäisch gedachte Sinnstiftung für die Gegenwart sein. Diese Einwände könnte man fortschreiben.
Dieses methodische Manko haftete bereits dem ersten Band an [4], den Winfried Böttcher herausgab. Und bei allem Verständnis für seine Leidenschaft für europäische Ideen, seine "Vision" bleibt ideengeschichtlich herkömmlich und erschöpft sich in Nostalgie.
Anmerkungen:
[1] Cyprian Kamil Norwid: Über die Freiheit des Wortes. Gedichte und ein Poem. Aus dem Polnischen von Peter Gehrisch, Leipzig 2012, 235.
[2] Das Wort er-denken ist eine typisch Norwidsche Formulierung, der in seiner Dichtung gerne mit solchen Wortschöpfungen die philosophische Tiefe des Gedachten zum Ausdruck bringen wollte.
[3] Nur als Beispiel: Heinz Duchhardt [u. a.] (Hgg.): Europa-Historiker. Ein biographisches Handbuch, 3 Bde., Göttingen 2006; Włodzimierz Borodziej [u. a.] (Hgg.): Option Europa. Deutsche, polnische und ungarische Europapläne des 19. und 20 Jahrhundert, 3 Bde., Göttingen 2004; Heinz Duchhardt / Małgorzata Morawiec (Hgg.): Vision Europa. Deutsche und polnische Föderationspläne des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, Mainz 2003.
[4] Vgl. Michael Gehler, Rezension von Winfried Böttcher (Hg.): Klassiker des europäischen Denkens. Friedens- und Europavorstellungen aus 700 Jahren europäischer Kulturgeschichte, Baden Baden 2014, in sehepunkte 15 (2015), Nr. 11 [15.11.2015], http://www.sehepunkte.de/2015/11/25527.html.
Małgorzata Morawiec