Annika Wienert: Das Lager vorstellen. Die Architektur der nationalsozialistischen Vernichtungslager, Berlin: Neofelis Verlag 2015, 301 S., 70 Abb., ISBN 978-3-95808-013-3, EUR 32,00
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Mit der "Aktion Reinhardt" begann im Frühjahr 1942 die Ermordung von etwa zwei Millionen polnischen Juden. Die drei dafür im Osten des heutigen Polens errichteten Lager sollten in ihrer Abgeschiedenheit die möglichst unbeobachtete Vernichtung gewährleisten. Die Ermordung von mindestens 450.000 Menschen in Bełżec, ca. 150.000 bis 250.000 Menschen in Sobibór sowie 780.863 Menschen in Treblinka spiegelt schon in den Zahlen die Dimension dieses kaum fassbaren Verbrechens, zu dem immer noch große Wissenslücken klaffen. Trotz erheblicher Bemühungen gelang es den Tätern zwar nicht, das Geschehen gänzlich geheim zu halten. Obwohl weniger als 140 Überlebende entkamen, blieb den Zeitgenossen das Geschehen nicht verborgen, auch wenn sie dessen ganze Dimension nicht überblickten. Gleichwohl erschwerten die Mörder mit dem Rückbau der Tatorte und der gezielten Verwischung ihrer Spuren die historische Rekonstruktion und machten sie in Teilen sogar unmöglich. Nicht zuletzt deshalb sind manche Segmente dieses zentralen Kapitels des Holocaust nach wie vor umstritten; manches wird sich wohl nie klären lassen. Nicht zuletzt ist die Mehrzahl der Opfer immer noch namenlos, und selbst die bauliche Gestalt der Lager ist nicht vollständig geklärt.
Diesem letzten Aspekt widmet sich die Kunst- und Architekturhistorikerin Annika Wienert in ihrer Dissertation. Sie entwickelt eine bauliche Typologie der Lager der "Aktion Reinhardt", wofür sie die vorhandenen Quellen grundsätzlich komplementär nutzt. Dabei erschließt sie zwar keine neuen Materialien, blickt auf diese aber aus einer anderen Perspektive. Auch mittels archäologischer Befunde werden, in Rückgriff auf Claude Lanzmann, Details sichtbar gemacht, damit "der Holocaust" nicht bloß eine Abstraktion bleibt. Zu diesem Zweck beschreibt Wienert nicht nur Baugeschichte und Gestalt der Vernichtungsstätten, sondern wägt Forschungshypothesen gegen Fotos und Beschreibungen durch Überlebende ab - was stellenweise einer "dichten Beschreibung" gleicht - und hinterfragt symbolische Repräsentationen und Imaginationen der Lager durch Täter und Opfer.
Den Berichten jüdischer Augenzeugen misst sie dabei den höchsten Stellenwert zu, wenn es um das Aussehen der Orte geht, denn historische Pläne oder Grundrisse von Bełżec, Sobibór und Treblinka sind nicht überliefert. Die Unterschiede zwischen Täterfotos, Skizzen von Überlebenden sowie Ausgrabungsergebnissen sind teilweise groß, was auch die beigegebenen insgesamt 70 Abbildungen verdeutlichen. Insbesondere bei Fotos überzeugt die präzise Identifikation des und der Abgebildeten - es handelt sich hierbei ausschließlich um Bilder der Täter, weil die Opfer schlicht nichts überliefern konnten. Diese friedvollen, teils idyllischen Fotografien, etwa vom "Lagerzoo" in Treblinka oder dem Hund der deutschen SS-Mannschaften, bilden einen irritierenden Kontrast zum zeitgleich stattfindenden Massenmord. Die verschiedenen Lagerskizzen sind allesamt nach dem Krieg entstanden; Wienert beschränkt sich auf diejenigen der Überlebenden und analysiert sie als visuelle Quellen, die primär etwas über räumliche Wahrnehmung aussagen. Deshalb geht es weniger um ihre Faktizität, als vielmehr um Perzeptionen, selbst wenn fast alle Schaubilder entstanden, um die eigene Glaubwürdigkeit - meist vor Gericht - zu stärken und die Aussage plastisch zu verdeutlichen.
All dies wird sehr souverän in den Forschungsstand eingebettet. Wienert bietet zuverlässige Orientierung und durchdringt die vorhandene Literatur, die sie zudem kritisch abwägt. Sie kann unterschiedliche Interpretationen ebenso wie existierende Lücken aufzeigen, ohne sich zu sehr in Detailfragen zu verlieren. Wegweisend ist diese Studie aber vor allem wegen ihrer Untersuchung der Lagerarchitektur. Beschrieben und analysiert wird die finale Gestalt; Zwischenstadien nur insofern, als mit dem Umbau auch funktionale oder symbolische Änderungen verbunden waren. Deutlich wird dabei der improvisierte Charakter der Vernichtungslager, der nicht auf den "idealen" Plan vorhandener Konzentrationslager zurückgriff, weil die Intention der "Aktion Reinhardt" eine ganz andere war: Es ging um Massenmord, nicht um Inhaftierung. Aus diesem Grund unterschied sich beispielsweise die Abgrenzung zwischen den Arealen für die SS und ihre "fremdvölkischen Hilfskräfte", den wenigen zur Zwangsarbeit herangezogenen Juden sowie den Mordopfern von den andernorts üblichen Mustern.
Auch in der Dimension ist ein Lernprozess zu beobachten: Bełżec umfasste lediglich sechs Hektar, Sobibór wuchs auf die vierfache Größe an, während Treblinka die in den Augen der SS optimale Größe von 19 Hektar erreichte. Der wichtigste Faktor dabei war - mit Jan Robert van Pelt gesprochen - weniger die Tötungskapazität, sondern eher die Entsorgung der Leichen. Obwohl Krematorien in der heutigen Wahrnehmung ein zentrales Element nationalsozialistischer Konzentrationslager sind, kamen die Stätten der "Aktion Reinhardt" ohne sie aus: Die Leichen wurden zunächst in Gruben verscharrt und erst in einer späteren Phase - halb verwest - ausgegraben und unter freiem Himmel verbrannt.
Dies ist einer von vielen Aspekten, bei denen Wienert eine Verzerrung von Wirklichkeit und Perzeption aufzeigen kann. Sie tut dies auch für den Stacheldraht, der heute als eines der universellen Symbole für die deutschen Haftstätten steht. In Bełżec, Sobibór und Treblinka diente er jedoch nicht der Einsperrung, sondern der Sicherung gegen die Umgebung und war mit Tannenzweigen als Sichtschutz durchwirkt. Die Bilder und Modelle der Überlebenden codieren bestimmte Erwartungs- und Deutungsmuster, die überzeugend herauspräpariert werden. Das Ergebnis ist eindeutig: Die symbolische Aufladung von Architektur, wie insbesondere der Rampe am Bahnhof, geschah erst in der Nachkriegszeit, oft durch die Gedenkstätten selbst. In diesem Sinne diente die bauliche Gestalt der Vernichtungslager nicht der Täuschung von Opfern und Außenwelt - dazu war der Massenmord dann doch zu offensichtlich und bekannt -, sondern vielmehr der Funktionalität sowie der Normalisierung des Täter-Alltags, der "gewöhnliche" Arbeitsbedingungen vorspiegeln sollte.
Wienert befriedigt mit ihrer Studie ein echtes Desiderat. Sie lenkt die Aufmerksamkeit auch darauf, dass inmitten der Bibliotheken füllenden Holocaustliteratur der Kern des Genozids, die "Aktion Reinhardt", immer noch kaum Aufmerksamkeit erfährt. Das verdeutlichen die gravierenden Forschungslücken ebenso wie die Besucherzahlen in den ostpolnischen Gedenkstätten. In Sobibór existiert eine solche bis heute nicht einmal, und die Bundesregierung lehnte noch 2012 eine finanzielle Beteiligung an ihrer Einrichtung ab. Das schlanke Buch zeigt die Fruchtbarkeit interdisziplinärer Perspektiven und ist dank seiner ebenso fundierten wie souveränen Analyse sowohl für die Real- wie die Nachgeschichte der Shoah von hoher Relevanz. Es ist zu hoffen, dass dieser letzte Teil des Genozids an den polnischen Juden künftig mehr Beachtung erfährt.
Stephan Lehnstaedt