Edwin Carawan: The Athenian Amnesty and Reconstructing the Law, Oxford: Oxford University Press 2013, IX + 310 S., ISBN 978-0-19-967276-9, GBP 65,00
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Argumentum ex silentio! Das ist der regelmäßige methodische Missgriff, den man dem Autor und seiner verschlungenen, sprachlich wie inhaltlich komplexen Monographie vorwerfen möchte. Denn seine Thesen zum (rechtlichen) Umgang mit der Vergangenheit nach dem turbulenten letzten Jahrzehnt im Athen des 5. Jahrhunderts v.Chr. - oligarchisches Regime 411/0 v.Chr., endgültige Niederlage im Peloponnesischen Krieg 404 v.Chr., sog. Tyrannis der Dreißig 404/3 v.Chr. sowie letztlich die Wiederherstellung der demokratischen Ordnung nach Sturz der letzteren - basieren oftmals auf Mutmaßungen, die aus den vorhandenen Quellenzeugnissen nicht direkt herausgelesen werden können.
Dabei mutet Carawans Fragestellung zunächst ansprechend an: Denn dass Regimewechsel regelmäßig die Frage nach dem Fortbestand rechtlicher Gegebenheiten evozieren und davon nicht nur das Öffentliche Recht, sondern gerade auch der private Rechtsverkehr betroffen ist, ist ein zeiten- wie raumübergreifendes Phänomen. Und da der Begriff der amnēstia nicht im Sprachgebrauch des 5. und 4. vorchristlichen Jahrhunderts etabliert gewesen ist, stellt sich in der Tat die Frage, welche Konzeption hinter der seinerzeit verwendeten Formel μή μνησικακεϊν (mē mnēsikakein) / "jemanden wegen etwas nicht grollen" / "alte (Rechts-)Verletzungen nicht wieder in Erinnerung rufen" steht, da darauf aufbauend die Geschicke und Geschichte der athenischen Demokratie im 4. Jahrhundert v.Chr. beruhen.
Laut Carawan, der dazu in den letzten Jahren eine Reihe von Aufsätzen vorgelegt hat, die ihrerseits Widerspruch hervorriefen [1], bezieht sich die Formel rein als Bekräftigung auf die Vereinbarungen zwischen den verschiedenen Parteiungen nach dem vorläufigen Ende der Kämpfe im Jahre 403 v.Chr., sprich: nicht wieder hinter diese Vereinbarungen zurückzufallen. Dagegen steht die opinio communis der Forschung, dass diese Formel Teil der Vereinbarung selbst gewesen ist, ergo in Zukunft keine Gerichtsprozesse wegen vergangener Taten vor Gericht gebracht werden sollten, was einer Amnestie nahe bzw. gleichkommt. [2]
So ein Forschungsstreit mag für den einen oder anderen nach Erbsenzählerei klingen, es macht allerdings einen gewichtigen Unterschied, da sich die ad hoc-Vereinbarungen des Jahres 403 v.Chr. (v.a. überliefert in [Arist.] Ath. pol. 39) insbesondere auf die staats- wie vermögensrechtliche Behandlung der Anhänger der Oligarchen nach deren erlaubter Umsiedlung nach Eleusis sowie auf die Ausnahme der Dreißig und anderer hoher Amtsträger in Athen und Piräus von der Formel mē mnēsikakein bezogen. Damit blieb genug freier Rechtsraum für spätere Klagen übrig - und je nachdem, wie man die Ausstrahlungskraft der Formel mē mnēsikakein beurteilt, konnte die Rechtssache ganz schön kompliziert und verfahren sein.
All dies gibt Carawan Recht, den Gegenstand sowie die diesbezüglichen Quellen einer genauen Untersuchung zu unterziehen. Nachdem er so in der Einleitung seine grundlegende These der Relativierung der Formel allein als Bestätigung der Vereinbarungen von 403 v.Chr. dargelegt (1-19) und einen breiten Überblick über die Forschungsgeschichte (vor und nach der Entdeckung der Athēnaiōn Politeia; 21-42) gegeben hat, widmet er sich zunächst in den Kapiteln drei und vier möglichen Vergleichsmöglichkeiten mit der Vereinbarung von 403 v.Chr. (43-65) sowie dieser selbst (67-90). Bei den 'Comparanda' möchte er anhand verschiedener Inschriften die darin verwendete Formel mē mnēsikakein als ähnlich verwendete Bekräftigung der vorigen Vereinbarung erweisen, ein Unterfangen, das mit guten Gründen und überzeugend zurückgewiesen worden ist. [3] Für die Vereinbarung zwischen den athenischen Bürgerkriegsparteien versucht er zwei verschiedene Stufen (403 v.Chr., eine zweite 401 v.Chr.) zu erweisen, wobei er den Text der Athēnaiōn Politeia mit Aussagen späterer Autoren (Andokides, Demosthenes) auffüllt (bezüglich der Weitergeltung bereits in der vor der Tyrannis der Dreißig erfolgter Rechtsentscheide oder Schiedssprüche) und dann eine nicht belegte (!) generelle Fortbestandsklausel für Privatobligationen postuliert (87f.).
Die folgenden sechs Kapitel sind sodann den vornehmlich bei attischen Rednern (insbesondere Lysias, Isokrates, Andokides) überlieferten Prozessen aus dieser Zeit gewidmet. Zur Sprache kommen hier u.a. die Anklageschrift des Isokrates "Gegen Kallimachos" (Isokr. 18; Kap. 5, 91-113), die Verteidigungsrede des Andokides "Über die Mysterien" (Andok. 1; plus die überlieferte Anklage in [Lys.] 6; Kap. 8, 171-202), aber auch der Prozess gegen Sokrates, der von uns nur aus den vorhandenen Apologien (Plato, Xenophon) und anderen Quellen rekonstruiert werden kann (Kap. 9, 203-231).
Auch in diesen Fällen baut Carawan seine Argumentation mehr als einmal auf wackeligen Hypothesen und Vermutungen auf [4]: So hinkt etwa bei der Behandlung der Isokrates-Rede sein Vergleich der Übereinkunft der Bürgerkriegsparteien mit dem griechischen Rechtsterminus homologia (insbes. 96-103), da dieser nicht allein die mündliche Anerkennung bereits erfolgter Rechtsgeschäfte beschreibt, sondern vor einem Rechtsgeschäft ausgesprochen wird. [5]
Bei der Andokides-Rede "Über die Mysterien" wird in einer komplizierten Beweisführung versucht, speziell für atimoi zugeschnittene Regelungen als maßgebend für die Übereinkunft von 403 und die darauffolgende Neu- bzw. Rekodifizierung von Gesetzen durch Nomotheten zu deklarieren - die einfache und auch von den Quellen ableitbare Lösung, dass dies mit einer Generalamnestie zusammenhängt, scheint für den Autor aus dem Blickfeld zu geraten. Zu sehr gerät er hier und andernorts in die Fänge der vermeintlichen Argumentationsnetze der Gegenpartei im Prozess, die natürlich mit allen Mitteln das Gegenteil, also letztlich die Substanz ihrer Anklage, beweisen wollte. Auch die Annahme einer spätantiken Redaktion anhand der Originalvorlage der in der Andokides-Rede überlieferten, allerdings in ihrer Authentizität stark umstrittenen Dekrete und Rechtsvorschriften muss letztlich Spekulation bleiben (200-202). Dies gilt ebenso für Carawans Versuch, die Argumente der Prozessgegner von Sokrates zu eruieren (210-211) oder den tatsächlichen Eid der Richter aus Andokides (1,91) zu rekonstruieren bzw. Platons Version (Plat. Apol. 35C) dahingehend zu interpretieren (229-231). Indem er seine These von der Beschränkung der Formel mē mnēsikakein auf bestimmte Rechtsvorschriften als unumstößlich voraussetzt, kann er gar nicht anders, als diese und viele andere Passagen umständlich wegzudiskutieren oder umzudeuten.
Letztlich und zusammenfassend gesehen macht es sich der Autor damit unnötig schwer.
Wenn die Quellenzeugnisse, der historische Verlauf und die Plausibilität auf eine generelle Amnestie nach den Ereignissen der Jahre 404/3 v.Chr. hindeuten, dann darf man auch als kritischer Historiker einmal das damals verordnete Vergessen als vollumfänglich im Rechtssinne annehmen und den Fall ruhen lassen, zumal schon einige wenige damalige Zeitgenossen daran mit wenig Erfolg zu rütteln versuchten.
Anmerkungen:
[1] Vgl. nur E. Carawan: The Athenian Amnesty and the Scrutiny of the Laws, JHS 122 (2002), 1-23; ders.: Amnesty and Accountings for the Thirty, CQ 56 (2006), 57-76; ders.: The Meaning of Mȇ Mnȇsikakein, CQ 62 (2012), 567-581; dazu die Repliken von Chr. J. Joyce: The Athenian Amnesty and Scrutiny of 403, CQ 58 (2008), 507-518; ders.: Μήμνησικακειν and "all the laws" (Andocides, On the Mysteries 81-2): A Reply to E. Carawan, Antichthon 48 (2014), 37-54. Vgl. auch die vernichtende Rezension zum Buch von E.M. Harris, Rez. zu Carawan, The Athenian Amnesty and Reconstructing the Law, CR 65,2 (2015), 504-506.
[2] Das Standardwerk hierzu stammt von Th. C. Loening: The Reconciliation Agreement of 403/402 B.C. in Athens, Stuttgart 1987 (Hermes-Einzelschriften; 53).
[3] Vgl. Joyce, CF 58 (2008), bes. wie Anm. 1.
[4] Vgl. detailliert die Entgegnungen von Joyce und die Rezension von Harris, vgl. Anmerkung 1.
[5] Vgl. statt aller die Beweisführung bei E.E. Cohen: The Elasticity of Money Supply at Athens, in: W. V. Harris: The Monetary Systems of the Greeks and Romans, 66-83, hier: 72-73.
Sven Günther