Robert Rollinger / Martin Lang / Heinz Barta (Hgg.): Strafe und Strafrecht in den antiken Welten. Unter Berücksichtigung von Todesstrafe, Hinrichtung und peinlicher Befragung (= Philippika. Marburger altertumskundliche Abhandlungen; 51), Wiesbaden: Harrassowitz 2012, XVI + 266 S., ISBN 978-3-447-06657-0, EUR 56,00
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Nachdem die rechtsgeschichtliche Forschung, zumal diejenige der antiken Kulturen, Ende des 20. Jahrhunderts zum Erliegen zu kommen schien, zeitigt sie zu Beginn des 21. Jahrhunderts neuen, frischen Odem. Die Gründe hierfür sind vielfältig, wesentlich ist jedoch die Aufgabe einer gewissen Isolation, die nicht nur die romanistische Forschung als Fach innerhalb der Rechtswissenschaften, sondern gerade auch die "natürlichen" Andockdisziplinen der Altertumswissenschaften in Abgrenzung zur Mommsen'schen Traditionslinie Mitte des 20. Jahrhunderts vollzogen. Dies ließ mit dem Aufkommen immer neuer Theoriemodelle die antike Rechtsgeschichte, einst Vorreiter und Flaggschiff der juristischen wie historischen Forschung, "altbacken" und "rückwärtsgewandt" erscheinen.
Wesentlich zum Wiederbeleben trugen und tragen interdisziplinäre Ansätze bei, welche die sinnvollen Impulse der zeitweilig als "Theoriewahn" empfundenen "turns", vor allem in den Geistes- und Kulturwissenschaften, mit handfester rechtshistorischer Forschungsmethode verknüpfen und so neue Akzente zu setzen vermögen. Ausfluss dieses Ansatzes ist die Innsbrucker Tagungsreihe "Lebend(ig)e Rechtsgeschichte", die nunmehr bereits den fünften Band der Tagung im Jahre 2009 vorlegt.
Mit dem Rahmenthema "Strafe und Strafrecht in den antiken Welten" greift die Tagung dabei ein tatsächlich lebendiges, auch in der breiteren Öffentlichkeit diskutiertes Feld auf, sind doch scheinbar archaische Strafrituale in vom europäischen Denken entfernten Kulturen genauso Gegenstand von Debatten wie die von Politikern vorgetragenen reflexartigen Strafverschärfungsforderungen bei medienwirksam inszenierten spektakulären (Kapital)vergehen. Insofern ist es außerordentlich zu begrüßen, wenn im vorliegenden Band nicht nur die klassische Antike, sondern auch altorientalisches, biblisches und frühislamisches Recht zur Sprache und in Diskurs kommen.
In seiner Einführung (IX-XVI) erinnert Mitherausgeber Heinz Barta an das von Theodor Mommsen initiierte, ehrgeizige, jedoch durch dessen Tod unvollendet wie unverbunden gebliebene interdisziplinäre Projekt "Fragen zum ältesten Strafrecht der Kulturvölker" und knüpft mit aktualisierten Forschungsfragen, etwa nach der Ausdifferenzierung von Schuldformen, der Trennung von privater und öffentlicher Rechtssphäre etc., als Basis für die Tagung daran an. Insbesondere erinnert er als Verfasser des im Erscheinen begriffenen vierbändigen Werkes "Graeca non leguntur? Zu den Ursprüngen des Rechts im antiken Griechenland" [1] an die außerrömischen Wurzeln des europäischen Rechtes, die bislang zu wenig in den Blick genommen worden seien.
Aus der griechisch-römischen Welt gibt Klaus Schöpsdau (Saarbrücken) zunächst einen Einblick in die geistige Durchdringung von "Strafen und Strafrecht bei griechischen Denkern des 5. und 4. Jahrhunderts" (1-21). Für die beiden besser zu erforschenden Straftheorien, diejenigen von Plato und Aristoteles, konstatiert er wesentliche Unterschiede bezüglich des Schwerpunktes: Während für Plato die moralische Besserung des Täters durch Bestrafung im Vordergrund gestanden habe, danach auch eine gewisse Präventionsabsicht in Form öffentlicher Prozesse, habe Aristoteles den gerechten Ausgleich zwischen Schädiger und Geschädigtem zur Aufrechterhaltung der Ordnung in der Polis in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen gestellt.
Philipp Scheibelreiter (Wien) macht sich hernach auf die Suche nach griechischen Pendants zu den römischrechtlichen Sanktionen aries und talio (23-47): Während er für den Sühnebock (aries) wegen der unterschiedlichen Kontextualisierung und Funktion keine rechtliche Parallele im pharmakos findet, zeigt er, dass bezüglich der Talion Parallelen bei den Bestimmungen von Zaleukos oder Charondas zu finden sind; allerdings hat diese Talionsregelung zu zahlreichen Dubletten bei bekannteren Nomotheten wie Solon oder Lykurg geführt, so dass Talion als archaischer Rechtstopos in die antike Literatur wanderte. Bei dem vieldiskutierten Einfluss westgriechischen Rechts auf die Zwölftafeln bleibt er jedoch skeptisch, auch wenn er die Gleichheit der Form der Talionsregelung bei Zaleukos / Charondas und dem Zwölftafelgesetz zugesteht.
Die Kompetenzüberschneidungen bei Verboten und Strafen zwischen griechischen Poleis, den jeweiligen römischen Statthaltern sowie dem Kaiser beleuchtet sodann Kaja Harter-Uibopuu (Wien) (49-76). Anhand ausgewählter Beispiele aus Lindos, Ephesos und Athen zeigt sie, dass neben dem formalen Kompetenzgefälle Kaiser - Statthalter - Polis de facto die einzelne Polis solange autonom und von römischen Weisungen unbehelligt blieb, solange sich die römische Verwaltung auf ein korrektes, beim Statthalter oder beim Kaiser nicht moniertes Vorgehen seitens der städtischen Magistrate verlassen konnte.
Kai Ruffing (Marburg) klassifiziert die Körperstrafen im Römischen Reich anhand der gesellschaftlichen Schichten (77-93). So wie er eine während der Kaiserzeit wachsende Dichotomie bei der Strafart zwischen honestiores und humiliores ausmacht, so erweist er eindrücklich, wie dadurch eine Integration bislang außerhalb der traditionellen römischen Gesellschaft stehender Bevölkerungsteile - namentlich des ordo decurionum in die honestiores - stattfand; dass umgekehrt jedoch auch freie römische Bürger als humiliores wie vorher Unfreie bestraft wurden und dass es nicht nur auf die soziale Schicht des Täters, sondern auch auf die Schwere der Tat ankam, sind weitere Erkenntnisse der konzisen Zusammenstellung Ruffings.
Die spezielle Strafform der Hinrichtung in der Arena untersucht darauf Christoph Ebner (Wien), der seine Dissertation zu den rechthistorischen Aspekten der römischen Unterhaltungsindustrie verfasst hat (95-127). Neben dem Aufzeigen der historischen Entwicklung und sozial-interaktiver Aspekte in der Arena arbeitet Ebner deutlich die rechtlichen Unterschiede einer damnatio ad bestias und ad gladium einerseits als scharfe Todesstrafformen und der damnatio ad ludum andererseits mit der Bewährungs- und Entlassungsmöglichkeit aus den Gladiatorenschulen heraus. Interessant wäre im Zusammenhang mit der Christianisierung des Kaisertums in der Spätantike die Frage, warum im Gegensatz zur Einschränkung der Gladiatur und der doch milderen Strafe ad ludum eine Weiterführung der Strafformen ad bestias und ad gladium erfolgte, so diese wenigstens in den Digesten Justinians im Gegensatz zur damnatio ad ludum noch erscheinen.
Die Region "Ägypten und Vorderasien" wird gleich mit neun Beiträgen ausgeleuchtet: Schafik Allam (Tübingen) analysiert anhand überlieferter Gerichtsprotokolle für das pharaonische Ägypten u.a. eindrucksvoll, wie sich nach und nach eine kasuistische Unterscheidung von zivilen und strafrechtlichen Gerichtsverfahren herausbildete (129-145). Da sich dies jedoch nur ex negativo aus Beobachtungen spätpharaonischer, rein zivilrechtlicher Inhalte in Verfahren und Rechtsbüchern als These herleiten lässt, kann weder ein genauer Zeitpunkt noch ein endgültiger Beweis dieser einleuchtenden These erbracht werden. Speziell der Todesstrafe und Folter im pharaonischen Ägypten nimmt sich Renate Müller-Wollermann (Tübingen) an (147-161). Während sie einerseits das im Gegensatz zu anderen altorientalischen Kulturen eher seltene Verhängen von Todesstrafen herausstellt, konstatiert sie andererseits eine doch sehr gut belegte Folterpraxis, wobei als Alternative auch Ordale infrage kamen.
In einer juristische (Rechtsbücher, Gerichtsprotokolle, Privaturkunden, z.T. fiktive Lehrbuchtexte) wie epistolarische Quellen berücksichtigenden Aufarbeitung beleuchtet Hans Neumann (Münster) die Strafrechtspraxis in Mesopotamien im 3. und frühen 2. Jahrtausend v.Chr. (163-179). Einerseits kann er dabei die Unterschiede bei der Verhängung der Todesstrafe in verschiedenen Epochen aufzeigen und diese mit den unterschiedlich autoritären Regierungsstilen verknüpfen; andererseits belegt er auch, inwieweit es durchaus Alternativen zur Todesstrafe, etwa Versklavung oder Geldbußen, gab.
Alessandro Hirata (Sao Paulo) überträgt die Rechtstheorie Max Kasers vom typisierten dolus, also der automatischen Annahme von Vorsatz bei bestimmten Delikten im altrömischen Recht, erfolgreich auf altbabylonische Gesetze (181-190); er schließt damit die Entwicklungslücke zwischen reiner Erfolgshaftung und der "moderneren" Ausdifferenzierung von Zufall, Fahrlässigkeit und Vorsatz bei Delikten.
Der einzige englischsprachige Beitrag "Death Penalty in the Hittite Documentation" aus der Feder von Stefano de Martino (Turin) und Elena Devecchi (München) klassifiziert die mit Todesstrafen belegten Delikte im hethitischen Reich (191-201). Während Hochverrat und Verunglimpfung des Königs als absoluter Autorität sowie der Vorwurf der Hexerei sicher mit der Todesstrafe belegt wurden, ist insbesondere der Mord an "normalen" Mitmenschen zwar auch mit der Todesstrafe bewährt gewesen, jedoch bestand auch die Möglichkeit der Ersatzleistung.
Für die neuassyrischen Rechtsurkunden arbeitet Betina Faist (Heidelberg) die Funktion von Strafe und Strafandrohung heraus (203-213). Die aus der grausamen Behandlung von äußeren Feinden aufgekommene These von der Härte des assyrischen Rechtssystems ist aus ihrer Sicht zu differenzieren, da es im privatrechtlichen Bereich vor allem auf einen Ausgleich für den Geschädigten ankam, während der staatliche Bereich tatsächlich die Bestrafung des Täters als Hauptziel definierte.
Kristin Kleber (Amsterdam) untersucht für das Babylonien des 6.-2. Jahrhunderts v.Chr. die staatliche Gewaltanwendung von der Beweisfindung bis hin zur Todesstrafe (215-229). Insbesondere die in den Quellen aufscheinende Ungleichbehandlung sozialer Schichten sticht hier als Charakteristikum hervor.
Den Interdependenzen zwischen Gesellschaftsstruktur und Strafrecht in der Hebräischen Bibel widmet sich Eckart Otto (München) in seinem Beitrag (233-247). Deutlich erweist er die Übergänge zwischen inner- und intergentalen Konfliktlösungen hin zur staatlichen Strafdurchsetzung mittels lokaler staatlicher Jurisdiktion und zwar in den Bereichen der strafbewährten Delikte mit Todesfolge; bei Körperverletzungen analysiert er die Weiterführung des Talionsprinzips bis in die prozessrechtlichen Bestimmungen. Dass diese Konfliktregelungen wie Strafmaßnahmen profaner, nicht religiöser Natur waren, eröffnet gleichsam einen neuen Blick auf das Verhältnis von Religion und Recht.
Abschließend ordnet Lucian Reinfandt (Wien) die Kreuzigung als Todesstrafe im frühen Islam in das im Orient bestehende Gemenge verschiedener Kulturen, Traditionen und Ethnien ein (249-259). Die Sicherung einer irdischen Rechtsgrundlage der bspw. von den Christen als heilsbringend empfundenen Kreuzigung durch den Koran (5:33) schreibt er dabei eine entscheidende Bedeutung für die Herausbildung dieser Strafart zu; diese wandte die spätere islamische Rechtswissenschaft häufig an, indem sie den Begründungspassus "diejenigen, die gegen Gott und seinen Gesandten Krieg führen und auf der Erde Verderben anrichten" (5:33) ziemlich weit ausdeutete.
Insgesamt bietet der Band sowohl einen lesenswerten Einblick in die antiken Vorstellungswelten bezüglich des Strafrechts als auch in die modernen Methoden bezüglich deren Erforschung, wobei eine kriterien- und aspektgeleitete Zusammenschau im Sinne des Mommsen'schen Versuches leider unterbleibt und damit weiterhin ein Desiderat darstellt.
Anmerkung:
[1] Zum Graeca-Projekt (mit Rezensionen zu den bereits erschienenen Bänden) vgl. http://www.uibk.ac.at/zivilrecht/mitarbeiter/barta (27.1.2013).
Sven Günther