Lu Seegers: "Vati blieb im Krieg". Vaterlosigkeit als generationelle Erfahrung im 20. Jahrhundert - Deutschland und Polen (= Göttinger Studien zur Generationsforschung; Bd. 13), Göttingen: Wallstein 2013, 620 S., ISBN 978-3-8353-1251-7, EUR 49,90
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Erinnerungskultur und Sozialgeschichte sind eng verknüpft, das haben Studien der letzten Jahre deutlich gemacht. Für die Form des kommunikativen Gedächtnisses, das auf dem Austausch innerhalb einer Gruppe beruht, ist dieser Zusammenhang evident. Aber auch für die öffentliche Erinnerungskultur, die sich von der Primärerfahrung der Individuen und Erinnerungsgemeinschaften löst, hat sich ein Ansatz durchgesetzt, der nicht nur nach Narrativen und Formen des Gedenkens, sondern ebenso nach Trägern und Kontexten fragt. Dabei besetzt das Konzept der Generation bei der Verknüpfung sozial- und erinnerungsgeschichtlicher Ansätze eine Schlüsselstellung: Zum einen bezieht es sich auf Alterskohorten und deren in einer bestimmten Lebensphase gemachten Erfahrungen, die mitunter auch ihre soziale Lage bestimmen. Zum anderen betont die Begrifflichkeit der Generationalität, dass es sich nicht um eine objektiv fassbare Einheit handelt, sondern die Gemeinschaft als Akt der Selbst- und Fremdverortung entsteht.
Lu Seegers hat nun mit ihrer 2013 publizierten Habilitationsschrift ein Buch vorgelegt, das nicht nur die deutsche und polnische Erinnerungskultur beleuchtet, sondern diese mit einer - wie es die Autorin selbst nennt - subjektbezogenen Gesellschaftsgeschichte - verbindet. Im Zentrum stehen Halbwaisen, die ihren Vater im Krieg verloren hatten. Zwar werden beide Weltkriege einbezogen, doch der Schwerpunkt liegt vor allem durch die 40 lebensgeschichtlichen Interviews auf der Zeit nach 1945. Während die sozialen und emotionalen Folgen der Vaterlosigkeit und die Situation der Kriegswaisen bereits in der frühen Nachkriegszeit von Sozialwissenschaftlern und Psychologen aufgegriffen wurden, ist die Beschreibung als Generation eher jüngeren Datums und geht einher mit der Popularisierung des Trauma-Konzeptes in den 1990er Jahren. Hinzufügen ließe sich, dass es auch mit einem veränderten Altersbild zusammenhängt, was die Präsenz vieler Gerontologen in der Debatte erklärt.
Bewusst bricht Seegers mit der in der Generationenforschung üblichen Fokussierung auf Männer und behandelt Geschlecht als analytische Kategorie. Ein weiteres konzeptionelles Merkmal der Untersuchung ist der Ländervergleich, der durch die gewählten Beispiele - Bundesrepublik Deutschland, DDR und Polen - zu einem Systemvergleich wird. Mit den vaterlosen Halbwaisen rücken Personen in den Blick, die heute zur "Generation Kriegskinder" gerechnet werden. Die Autorin interessiert sich für die Selbst- und Fremdbilder dieser Personengruppe sowie für die gesellschaftliche Rahmung ihrer Wahrnehmungen und Deutungen.
Die Arbeit teilt sich in sechs große Kapitel, wobei im ersten sozialpolitische Strukturen der Witwen- und Waisenversorgung sowie Debatten um so genannte Halbfamilien in Populärmedien und pädagogischen bzw. sozialwissenschaftlichen Fachzirkeln dargestellt werden. Hier wird bis in die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg zurückgegriffen, der die Vaterlosigkeit von Kindern erstmals zum Massenphänomen machte. Während sich die Problematisierung dieser Lebenslage von der Weimarer Republik bis in die Bundesrepublik als Kontinuität nachvollziehen lässt, änderte sich in der DDR der gesellschaftliche Umgang mit Halbwaisen signifikant: Da weder über die gefallenen Soldaten im Krieg gegen den Kommunismus - so die Deutung der Sowjetunion und DDR-Führung - gesprochen wurde noch über die nicht unbeträchtliche Zahl der Männer, die während der Besatzungszeit starben, waren auch ihre Angehörigen kein Thema. Das führte zwar auf der einen Seite dazu, dass sie nicht mehr als Sonderfall herausgestellt und stigmatisiert wurden, kam auf der anderen Seite aber auch einer sozialpolitischen Vernachlässigung gleich. Die Oral History Interviews spielen in diesem ersten Kapitel noch keine Rolle, dennoch erscheinen Kriegswaisen und ihre Mütter nicht nur als Personen, über die gesprochen wurde. Vielmehr melden sie sich in Briefen an Behörden und Zeitschriften selbst zu Wort; allerdings behandelt die Autorin dies hier eher illustrativ als analytisch.
Eine systematische Untersuchung der Selbstzeugnisse erfolgt vor allem in den Kapiteln zwei bis vier, die sich weiterhin ganz auf den deutschen Fall konzentrieren. Zunächst untersucht Seegers die Binnenstrukturen und -dynamiken der "Halbfamilien". Die Interviewpartner geben Einblick in Beziehungskonstellationen, die sich mit dem Tod des Vaters veränderten. Die enge Bindung an die Mutter, aber auch die herausgehobene Position der Großeltern, zeigen - wie andere Studien auch - dass die Familienmodelle der Nachkriegszeit vielgestaltiger waren, als die Beschwörung der Hausfrauenehe durch Politiker und auch Wissenschaftler jener Zeit vermuten lässt. Das Ergebnis, dass sich westdeutsche Gesprächspartner vielmehr als Teil einer gesellschaftlichen Randgruppe begriffen, bestätigt die Prämisse der Studie, dass gesellschaftliche Rahmungen, konkret das Wirtschaftswunder, an dem allerdings nicht alle partizipieren konnten, die individuellen Deutungen formten.
Im dritten Kapitel steht das Erwachsenenleben im Vordergrund, wobei in den Interviews die Vaterlosigkeit der Halbwaisen, vor allem mit Bezug auf die eigene Eheschließung und Familiengründung sowie Ausbildung und Erwerbsarbeit zur Sprache kommt. In beiden Situationen beschrieben die Gesprächspartner die Folgen des Todes des Vaters als besonders greifbar. Besonders aufschlussreich ist der Abschnitt, in dem Erfahrungen mit der Studentenrevolte und den Folgen von 1968 diskutiert werden, was zu einem interessanten Perspektivwechsel führt: Es geht weniger darum, den Einfluss gesellschaftlicher Voraussetzungen auf das Leben der vaterlosen Halbwaisen zu bestimmen als um den Blick dieser Gruppe auf ein zeitgeschichtliches Ereignis. Ihre skeptisch-relativierende Sichtweise ist ein wichtiges Korrektiv der bisherigen Darstellungen, die sich meist auf Personen beziehen, die als Kritiker oder Befürworter der Bewegung mit dieser in Verbindung standen.
Das vierte Kapitel ist der Zeit nach der Wiedervereinigung gewidmet, in die auch die erinnerungskulturelle Debatte um die "Kriegskinder" fällt. Während Seegers herausarbeiten kann, wie vor allem westdeutsche Gesprächspartner sich psychologisierende Konzepte aneigneten und ihre Erinnerungen umdeuteten, ist die Situation für die ostdeutschen schwieriger. Bei ihnen überlagerte das Ende der DDR und die Wiedervereinigung die eigene Lebensgeschichte und drängte die kriegsbedingte biographische Prägung zurück.
In den letzten beiden Kapiteln schwenkt die Darstellung schließlich zum polnischen Fall. Die hohe Zahl an vaterlosen Kriegshalbwaisen bildet die erste Voraussetzung für den Vergleich. Schon allein aufgrund der schmaleren Quellenbasis ist der komparatistische Blick asymmetrisch. Der Zielsetzung, die die Autorin verfolgt, tut das keinen Abbruch, allerdings hätte man sich als Leser eine stärkere Reflexion der Versuchsanordnung gewünscht. Die Einbeziehung Polens dient der Beweisführung, dass gesellschaftliche Rahmungen die individuellen Erinnerungskonstruktionen bedingen. Aufgrund der vergangenheitspolitischen Parallelen mit der DDR lassen die Interviews doch einige Ähnlichkeiten zu denen der ostdeutschen Gesprächspartner erkennen, allerdings zeigen sich auch Unterschiede, die sich unter anderem auf die katholische Prägung zurückführen lassen.
Insgesamt ist Lu Seegers eine gut lesbare, methodisch versierte und empirisch fundierte Arbeit gelungen. Nicht nur der nach wie vor großen Gruppe der an Erinnerungskultur, vor allem am kommunikativen Gedächtnis interessierten Leser, sei die Lektüre empfohlen. Beachtet werden sollten auch die Impulse, die sich für die Gesellschaftsgeschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gewinnen lassen. In den Passagen, in denen es um Auf- und Abstieg in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg, die Reaktionen auf 1968 oder um den Umgang mit Tod in der Familie geht, fühlt man sich an Zeiten des LUSIR-Projektes (Lebensgeschichte und Sozialkultur im Ruhrgebiet 1930-1960) erinnert. Eine Rückbesinnung auf diese Anfänge der Alltagsgeschichte, die sich im Kern als Sozialgeschichte verstand, täte der Historiografie bisweilen gut. Sie böte eine wichtige Ergänzung zu einer Geschichtsschreibung, die sich sehr auf die Sichtweise politischer und jetzt vermehrt auch wissenschaftlicher Eliten bezieht bzw. andere Individuen nur dann systematisch thematisiert, wenn es sich um die Querdenker und Rebellen der sozialen Bewegungen handelt.
Nicole Kramer