Daniel Martin Feige / Judith Siegmund (Hgg.): Kunst und Handlung. Ästhetische und handlungstheoretische Perspektiven, Bielefeld: transcript 2015, 260 S., 3 s/w-Abb., ISBN 978-3-8376-2796-1, EUR 29,99
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In Zeiten der Entgrenzung der Künste, die sowohl durch eine "Ästhetisierung der Lebenswelt" (Rüdiger Bubner, 21) als auch mit der Moderne und verstärkt seit den 60er-Jahren durch eine Ausweitung ihrer Erscheinungs- und Aufführungsformen gekennzeichnet ist, stellt sich die Frage nach dem Stellenwert der Ästhetik heute mit besonderer Schärfe. Lässt sie sich entgegen ihrer traditionell als zweckfrei angenommenen Auslegung mit handlungsrelevanten Aspekten vereinbaren, die in dieser Entwicklung erkennbar wird? Wird damit nicht grundlegend die Unterscheidung von Kunst und Nicht-Kunst aufgehoben?
Nach dem ersten Ansatz, Kunst als Handeln zu beschreiben 2010 [1], liegt der Fokus der vorliegenden zweiten Schrift Kunst und Handlung, die ebenfalls durch den Forschungsschwerpunkt Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste an der FU Berlin ermöglicht wurde, darauf, das Thema systematisch in geschichtlicher (I.) und handlungstheoretischer Hinsicht (II.) und über die Analyse der Verstehensprozesse (III.) aufzuarbeiten. Dazu versammeln die beiden Herausgeber Daniel M. Feige und Judith Siegmund zehn Beiträge.
Traditionell gesehen gehören die Künste der Poiesis an und grenzen sich insofern von der Praxis und damit der Politik ab, wie es Aristoteles bereits zugrunde legte. Den Weg dahin Kunst dem entgegen als kommunikative Praxis und damit als Handlung zu verstehen, eröffnete historisch gesehen Kant, wie es Bernadette Collenberg-Plotnikov im Anschluss an Bubner herausarbeitet. Denn sein Ansatz die ästhetische Erfahrung vom konkreten Kunstwerk zu lösen und "als intellektuelle Betätigung" des Betrachters zu charakterisierten, leitete die Entgrenzung der Künste von der Lebenswelt ein (20). So provozierte Kant gerade damit eine Reihe von Forschern, der Nivellierung entgegenzuwirken und den spezifischen Sinn der Kunst im Gegensatz zur Nicht-Kunst herauszuarbeiten. Sowohl die Gründung der "Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft" (ZÄK) 1906 als auch nachfolgend der gleichnamigen Gesellschaft 1925 beruht auf diesem Anliegen (21-26). [2] Zu den Protagonisten zählen neben Max Dessoir und Emil Utitz auch Ernst Cassirer. Ihr Ansatz baut darauf auf, die künstlerische Praxis als Funktion aufzufassen (33-38). Grundlage dafür bildet die Annahme, dass der Sinn der Künste in ihrem Wirken liege, den es zu fürchten gelte (28-33). Insbesondere Utitz - und Cassirer, so gilt es zu ergänzen [3] - vertiefen diesen Ansatz, indem sie gerade für die Künste das Potential einer "Gestaltung auf ein Gefühlserleben" hin geltend machen (38-48, hier 44).
Weniger das Erleben selbst, als die "sinnvolle Form", die aus ihm hervorgeht, ist das Thema Eva Schürmanns. Historisch gesehen knüpft sie dabei an die semiotische Tradition an, hier die Sprechakttheorie wie sie John Austin 1955 begründete. Demnach erzeugen nicht nur sprachliche Äußerungen je neue soziale Wirklichkeiten, sondern auch künstlerische (53). Sie gehen aus (Zeichen-)Setzungen hervor, die mit Jacques Derrida einer fortwährenden "Bedeutungstransformation" unterliegen (54). So wird mit den Artikulationen der Kunst und ihrer Rezeption, mit Hannah Arendt, "immer wieder aufs Neue sichtbar gemacht und formuliert, verkörpert und aufgeführt" (57). Beredt spricht davon die Rezeption von Las Meninas von Vélazquez über beinahe 400 Jahre (60-68).
Das Tun der Kunst, so formuliert es Johann Kreuzer im Anschluss an Hölderlin, sei durch die Produktivität des Geistes geprägt (76), die sich mit Fichte und Hegel, aber auch mit Bezug auf Adorno durch ein tätiges Beziehen auf die Welt auszeichnet und nicht durch Urteile über sie wie bei Kant. Erst über das Werk (hier der Sprache) werde das Erinnerte lebendig und wirklich (78, 82-83, 86) und konstituiert damit allererst das Subjekt (83, 87-90).
Die Chance, die künstlerische Setzung und deren Bedeutung zu reflektieren, ermöglicht jedoch auch, ihr zu widersprechen, wie es Niklas Hebing im Anschluss an Walter Benjamin und Peter Weiss am Beispiel des Pergamonaltars herausarbeitet (111-113). Dass künstlerische Setzungen nicht nur affirmativ oder kritisch, sondern selbst bereits von der Triebkraft für gesellschaftliche Veränderungen geleitet sein können, betont insbesondere Judith Siegmund im Anschluss an Robert Pippin bzw. Hegel (127, 132). So könne über sie experimentell an möglichen Lösungen (Antworten) eigener innerer Zwecke gearbeitet werden, wie es John Dewey und zuletzt Hans Joas nahelegen (129-139). Daraus eine Differenz zu nicht-künstlerischem Handeln abzuleiten, gehe, so Siegmund, jedoch zu weit (139-140).
Dass nicht nur die Logik und Ethik, sondern auch die Ästhetik von einem Streben nach Sinnhaftigkeit geprägt sei, das zeigt Fabian Börchers im Anschluss an Gottlob Frege auf (143, hier 171). So zeichne sich die Logik durch ein wahrhaftes Denken (151), die Ethik durch richtig begründetes Handeln (153) und die Ästhetik durch Richtigkeit und Stimmigkeit aus (163-165). Dem schließt sich Daniel M. Feige an, wenn er mit Bezug auf das Streben des Ästhetischen, auf dessen Gelingen abhebt (177-180). Dieses Streben zeichne letztlich alle Handlungsformen aus (189f.), werde jedoch im Künstlerischen explizit, wie er am Beispiel der musikalischen Improvisation im Jazz aufzeigt (177, 188, 190).
Künstlerische Werke verstehen zu können, impliziert, dass über sie eine Aussage und damit Absicht kommuniziert wird, wie es abschließend die beiden auch als Künstlerinnen tätigen Forscherinnen Anna Kreysing und Anke Haarmann sowie Eberhard Ortland herausarbeiten. Dasjenige, was mit der künstlerischen Tätigkeit problematisiert wird, bekomme dabei eine neue Bedeutung (204f., 215, 233). Auch wenn darüber weder eine objektive, noch absolute (Hegel), sondern "nur" eine subjektive Wahrheit aufscheint, vermag sie "im Spiel der Materie" - auch in Kopien derselben - zu einer Reflexion über etwas anzuregen, das für das Verständnis und damit auch für Veränderungsprozesse in der Welt relevant werden kann (hier 231, vgl. ferner 209-213, 219-225, 233, 252f.).
Eines machte die Lektüre damit deutlich, es ist die Hinwendung zu einem funktionalen Verständnis von Kunst, das die Grundlage für die handlungstheoretische Wendung der Deutung von Kunst und damit zugleich aber auch - entgegen der Annahme der ersten Forscher (21) [4] - der Nicht-Kunst voraussetzt. Sowohl die Funktion des Werks und des Schöpfers als auch die Reaktion des Betrachters gewinnen dann an eigener, neuer Bedeutung. Sie lassen sich, wie sich zeigte, als einflussreiche Faktoren unserer Lebenswelt verstehen, als spezifisch kulturell wirksame Leistungen. So vermag die Anthologie einen bedeutenden Beitrag zur Aufwertung der Kunst und der Nicht-Kunst bzw. der Ästhetik als Teil des Lebensvollzugs zu leisten.
Vor diesem Hintergrund wird zugleich deutlich: weiterhin die Geisteswissenschaften finanziell und substanziell auszubluten hieße, sich selbst am eigenen Leib zu beschneiden. Das gilt es in der Debatte stark zu machen und zugleich die Forschungen - auch im Hinblick auf die je konkreten Leistungen von Kunst und Nicht-Kunst - voranzutreiben, so wie es der Band eröffnet.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Karin Gludovatz / Michael Lüthy / Bernhard Schieder / Dorothea von Hantelmann (Hgg.): Kunsthandeln, Berlin 2010.
[2] Die Interdisziplinarität bewahrte die Zeitschrift, so Collenberg-Plotnikov, nach dem Zweiten Weltkrieg bei, während die ursprünglichen wissenschaftlichen Bestrebungen keine Fortsetzung fanden (vgl. 25f.).
[3] Vgl. dazu zuletzt: Martina Sauer: Bildkraft und Tatkraft. Zum Verhältnis von 'ästhetischer Erfahrung' und Technik im Anschluss an Cassirer, Langer und Krois, in: Techne - poiesis - aisthesis (= Kongress-Akten, Deutsche Gesellschaft für Ästhetik; Bd. 3), hg. v. Birgit Recki, 1-25, http://www.dgae.de/wp-content/uploads/2015/02/Sauer_Bildkraft-und-Tatkraft.pdf?c=76f6f1&p0=7&p1=-4&p2=-7 (11.12.2015).
[4] Vgl. hierzu die Herausarbeitung von mir, siehe Anm. 3.
Martina Sauer