Lambert Wiesing: Die Sichtbarkeit des Bildes. Geschichte und Perspektiven der formalen Ästhetik (= Campus Bibliothek), Neuaufl., Frankfurt/M.: Campus 2008, 331 S., 4 Farbabb., ISBN 978-3-593-38636-2, EUR 19,90
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Gottfried Boehm / Birgit Mersmann / Christian Spies (Hgg.): Movens Bild. Zwischen Evidenz und Affekt (= eikones), München: Wilhelm Fink 2008, 435 S., ISBN 978-3-7705-4631-2, EUR 39,90
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Diese Rezension erscheint auch in KUNSTFORM.
Anna-Maria C. Bartsch: Form und Formalismus. Stationen der Ästhetik bei Baumgarten, Kant und Zimmermann, Würzburg: Königshausen & Neumann 2017
Daniel Martin Feige / Judith Siegmund (Hgg.): Kunst und Handlung. Ästhetische und handlungstheoretische Perspektiven, Bielefeld: transcript 2015
John Michael Krois: Bildkörper und Körperschema. Herausgegeben von Horst Bredekamp und Marion Lauschke, Berlin: Akademie Verlag 2011
Birgit Mersmann / Hauke Ohls (Hgg.): Okzidentalismen. Projektionen und Reflexionen des Westens in Kunst, Ästhetik und Kultur, Bielefeld: transcript 2022
Burcu Dogramaci / Birgit Mersmann (eds.): Handbook of Art and Global Migration. Theories, Practices, and Challenges, Berlin: De Gruyter 2019
Lambert Wiesing: Sehen lassen. Die Praxis des Zeigens , Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag 2013
Neben der Ikonologie bildet die Formanalyse eines der grundlegenden Werkzeuge des Kunsthistorikers. Die Schriften dazu u.a. von Riegl und Wölfflin und weiterführend auch von Konrad Fiedler zählen zum Kanon der Ausbildung. Insbesondere die Voraussetzung für diesen Ansatz, das angenommene relational-logische Gefüge der Formen neu zu betrachten und für die aktuelle Diskussion um die Macht und Bedeutung der Bilder und damit deren Beziehung bzw. Einfluss auf den Rezipienten fruchtbar zu machen, eröffnet die bereits 1997 erstmals herausgegebene und 2008 ein zweites Mal aufgelegte Schrift Lambert Wiesings Die Sichtbarkeit des Bildes. Geschichte und Perspektiven der formalen Ästhetik. So sind es die durch die Neuen Medien veranlassten Diskussionen zum Bild als Medium, zu dessen Mitteilungscharakter (als Symbol bzw. Zeichen), zur Frage nach dessen Status als Kunst- oder Nicht-Kunstwerk und vor allem diejenigen zur Stellung des Rezipienten, die die Frage nach den bildnerischen Voraussetzungen, letztlich dem gemeinsamen Nenner einer auf Anschauung beruhenden formalen Analyse, die unabhängig vom Medium erfolgen kann, heute erneut in den Vordergrund rücken. [1]
Besonders deutlich wird dieser Bedarf, die Bedingungen der Möglichkeit für eine Rezeption und damit weiterführend auch der Einflussnahme aufzuarbeiten, im Anschluss an die Lektüre der 2008 erschienenen Anthologie zum Movens der Bilder, in der Beiträge der gleichnamigen Eröffnungsveranstaltung des Ende 2006 von Gottfried Boehm in Basel gegründeten Forschungszentrums Eikones zusammen mit weiteren zum Thema veröffentlicht wurden: Movens Bild. Zwischen Evidenz und Affekt, hg. von Gottfried Boehm, Birgit Mersmann, Christian Spies. Die Evidenz und damit die vordergründige Augenscheinlichkeit einerseits und die angenommene affektive Wirkungsweise der Bilder anderseits veranlasst auch darin nach dem "Wie das möglich ist?" und insofern sowohl nach der Rezeption als auch nach der Gestaltung der Werke als Ausgangspunkt zu fragen. [2]
Lambert Wiesing arbeitet zu diesem Fragezusammenhang einen Antworthorizont heraus, der für die weitere Forschung von grundlegender Bedeutung sein kann, indem er im Anschluss an die Geschichte der formalen Ästhetik darauf verweist, dass es eine Analogie zwischen Gestaltungsprinzipien und Wahrnehmungsweisen gibt (einleitend 16ff., hier 18-19). Seine eigenen Schlussfolgerungen daraus zielen zunächst mit Blick auf die Neuen Medien darauf ab herauszustellen, dass Bilder, wie er mit Sartre formuliert, "als Produktionstechnik einer besonderen Art von Gegenständlichkeit" zu verstehen sind, als keine Schein-, sondern eine Seinsproduktion von imaginären Dingen. Insofern könne ein Bild ein Zeichen sein, müsse es aber nicht. Denn, fundamentaler als jede Lesbarkeit, sei die Sichtbarkeit des Bildes, seine "artifizielle Präsenz" (VI-XI). [3] Entsprechend untersucht Wiesing die Geschichte der formalen Logik bzw. Ästhetik, in der unabhängig vom Medium, apriorisch, die logisch wahrnehmbaren Unterschiede bzw. die Beziehungen der Teile untereinander den Ausgangspunkt bilden (insb. 89-91). [4] Ihre Geschichte stehe, so Wiesing, in einer lebensphilosophischen Tradition (Nietzsche, Schopenhauer, Dilthey, 134ff.) und führe über Robert Zimmermann 1895 (27-56) hin zu Alois Riegl (Wiener Schule) 1901, dessen deskriptives Modell mit der Unterscheidung etwa von malerisch und haptisch den Stilbegriff vom Schönheitsideal löst, dessen Bedingungen aufzeigt und entsprechend je eigene Auslegungen von Welt (Kunstwollen) ermöglicht (57-91). Daran schließen Heinrich Wölfflins Kunstgeschichtliche Grundbegriffe von 1915 an, mit deren Begriffspaaren weiterführend zwischen malerisch - linear bzw. optisch - fernsichtig, geschlossene - offene Form, u.a. unterschieden und entsprechend differenzierte "Anschauungsformen" von Welt erkennbar werden (95-141). [5] In den technischen Vorentscheidungen heutiger Computerbilder zwischen Pixelbildern (malerisch) und Vektorgrafiken (linear) bzw. regelbaren Farbkontrasten finden sich nach Wiesing diese Prinzipien wieder (111-116).
Mit Konrad Fiedler, dessen für diesen Zusammenhang maßgebliche Schrift bereits 1887 erschien, werde, so Wiesing über Martin Seels Auffassung hinaus weisend, der Schritt von der Darstellung von Sichtweisen von Welt hin zur Erfindung solcher vollzogen bzw. eigene Welten geschaffen: "reine Sichtbarkeiten" (145-205). Insbesondere im modernen Videoclip seien diese Sichtbarkeiten als Formen des Seins und nicht des Scheins realisiert (172ff. und 257ff.). Die Frage nach dem Wahrheitsanspruch erübrige sich insofern (193-205). In Anlehnung an den Semiotiker Charles William Morris 1946 könne das Bild, wie er abschließend verdeutlicht (245-268), als Formel aufgefasst werden bzw. als eine Sonderform der Designation ohne Denotation. In der Unähnlichkeit und im Flüchtigen erweisen sich gerade Videoclips als "formative Diskurse" (vgl. ergänzend die Ausführungen zu Foucault, 67ff.) in denen stilistische Schematisierungen erkennbar und als intentionale Ausrichtungen auf eine Referenz verstanden werden können ("Nullmedien") (260ff., hier 265).
Wesentlich für die weitere Forschung in der Frage nach der Rezeptionsweise der Form ist schließlich das Aufzeigen der spezifischen Einstellung, die nach Wiesing, im Anschluss an Maurice Merleau Ponty, die Bildwahrnehmung ausmache und Grundlage für die Reduktionsmodelle der formalen Ästhetik sei. Eine Wahrnehmungsweise, die vor der natürlichen, auf Wiedererkennbarkeit ausgerichteten, erfolge und entsprechend wieder vergessen werde: die phänomenologische (Epoché) statt natürliche Einstellung. Insbesondere die Abstraktion sei von dieser Haltung geprägt und ermögliche entsprechend "eine bildnerische Selbstreflexion" des Gestaltungsvorgangs (209-235, insbes. 207ff., hier 231).
Dass mit der Formanalyse insofern eine künstliche bzw. mit Wiesing zugleich eine ursprüngliche, da vergessene Einstellung zum Werk eingenommen wird, die entsprechend zunächst nicht an der Gegenständlichkeit orientiert ist, wird für zahlreiche Forschungsbeiträge, die in der Anthologie zur Frage des Movens der Bilder vorgestellt werden, indirekt ebenfalls zum Ausgangspunkt. Eine schlüssige Konsequenz in Bezug auf die Rezeptionsweise kann in der Nachfolge von Riegls Begriff des Kunstwollens, ein entsprechend auf "Welthabe" (Evidenz) ausgerichteter Wille (auch Begehren) des Rezipienten sein, der die Wahrnehmung von Bildern und damit entsprechend den Auswertungsprozess des formal-relationalen Gefüges bestimmt. Auf dieser Annahme aufbauend, so lässt sich anschließen, hebt insbesondere Gottfried Boehm auf ein entsprechend "ikonisches Ordnungsmuster" ab. Von ihm angeregt dränge der Bildeindruck zur Evidenz. Die jeweilige Sicht, die sich dann einstelle, erlaube schließlich "hindurchzublicken - auf ihren unbestimmten Grund" (36). Wobei Boehm, im Anschluss an Husserl, das Moment der Affektion, in der Intentionalität der Wahrnehmung (ihrem "Drängen"), d.h. den "Akten der Orientierung" auf eine Welt, in der wir uns schon immer bewegen ("primordiale" Welthabe), sieht (21).
Daneben eröffnet sich jedoch noch ein weiterer Ansatz, wie das relational-formale Gefüge der Bilder aufgefasst werden könnte. Dieser, so zeichnet sich ab, scheint weniger von einem Willen und vielmehr von einer Hingabe an die Welt und damit auch an das Bild geprägt zu sein. Es ist vor allem Bernhard Wadenfels, der auf die, die Affektion unmittelbar anregende Wirkungsform der formalen Ebene selbst abhebt, die "ein Empfinden in Bewegung" (kinetisches Sehen) auslöse. Sie sei Ausgangspunkt für das Pathos, das Auffallen, dem ein Aufmerken antworte. Insofern könne das Bild als Ereignis- bzw. Erregungsbild aufgefasst werden ("Ikonopathie") (56-57). Die in diesen beiden Ansätzen erkennbar werdende Differenzierung der Wahrnehmung der Form (des relational-formalen Gefüges) im Sinne einer Orientierung (Boehm) bzw. einer den Rezipienten unmittelbar bewegenden Erfahrung (Waldenfels), erweisen sich für die Forschung als weitreichend. Wobei mit Blick auf die Beiträge in der Anthologie die meisten mit dem Aufgreifen der Formel des Begehrens dem Ansatz Boehms nachfolgen.
So verweist Sebastian Egenhofer in der Auseinandersetzung mit Mondrian auf ein dionysisches Werden vor der Figuration (Nietzsche), aus dem eine Differenziertheit des Seienden hervorgehe und insofern "als Stätte der Produktion möglicher Erscheinung" aufgefasst werden könne (74), während Michael Wetzel auf ein Ausdrucksgeschehen abhebt, das eine message generiere, ein im Sinne Didi-Hubermans "aus dem Bild kommend zur Sprache gelangen" (150). Diesem darin erkennbar werdenden Begehren der Bilder, dem zur Sprache kommen wollen, wie es Jacques Lacan ursprünglich formulierte, könne, wie es Marie-José Mondzain nach Philipp Stoellgers herausstellt, durch symbolische Ordnungen "Gewalt" angetan werden. Insofern, dass die Bilder durch Systeme wie die des Staates, aber vor allem der Kirche für spezifische Zwecke domestiziert bzw. funktionalisiert werden (184). Darauf aufbauend betont Stoellger grundsätzlich die ikonische Kinetik von Bildern, die Effekte zeitige, d.h. sie "bestimmen und bewegen die Welt, in der wir leben." (185) Es seien jedoch gerade die künstlerischen Bilder, die ein Mehr an Bedeutung hervorbringen, indem sie die Ordnungen stören ("ein nichtintentionales Sichzeigen") (212). Mit Blick auf die geäußerte Kritik Mondzains können, wie er in der konkreten Auseinandersetzung mit Cusanus nahe legt, gerade "Bilder, die uns anblicken" in ihrer Offenheit als "heilswirksam" aufgefasst und derart auf die "Sorge" Gottes verweisen (202ff., hier 208). Andreas Cremonini hebt im Anschluss an Lacan konkret auf den Triebimpuls ab, der in das Bild eine Signifikanz hineinlege, so dass dieses als Blick eines Anderen (dessen Begehren) erfahren werde. Eine Wirkung, die nach Cremonini insbesondere vom "Glanz" der Bilder ausgelöst werde (110-114). Dieses Begehren sieht Christian Spies weniger im Anderen (dem Bild) als im Blick des Betrachters angesichts der Vorhangbilder Gerhard Richters, der von dem Scheitern, die Illusion einzulösen, affektiv erregt werde. Das Faktische, Gemalte entpuppe sich hier als das eigentlich Evidente (133ff.). Aus dem Blickwinkel eines Psychologen verweist Klaus R. Scherer in diesem Zusammenhang auf komplexe emotionale Erlebnismuster, die von dem Produzenten in das Bild umgesetzt und entsprechend von dem Rezipienten ausgewertet werden können (Appraisaltheorie) (260 bzw. 267). Silke Tammen weist in ihrer Besprechung mittelalterlicher Reliquiare auf eine haptische Aufladung hin (durch die Ornamente und Gitterstruktur), die ein Sehbegehren auslöse und gemeinsam mit der abbildlichen Ebene eine "visuelle Gotteserfahrung" ermögliche. Nicolaj van der Meulen sieht die affektive Aufladung im Rahmen barocker Architekturerfahrungen in spezifischer Weise gesteigert und bezeichnet diese entsprechend als einen affektgeleiteten Appell ("prozessorientiertes Affizierungsmodell"), der als evident (wahrhaftig) erfahren werden könne (290ff.).
Nach der Bildauffassung des Islam, so Heike Behrend, seien es gerade die Leidenschaften, wie sie Menschen ausdrücken können, die die Gefahr der Idolatrie bergen (331). Entsprechend werde dem mit einem Bilderverbot bzw. einer "Ästhetik der Kühle" (335) begegnet. In den Weltbildern der Antike, so Christoph Markschies, spiegele sich eine auf Totalität hin orientierte kosmologische Perspektive (345). Insofern bilden sie die Welt nicht ab, sondern geben (Welt-)Orientierung, sie bewegen (360-361). Dass mit der spezifischen Auslegung, wie sie durch die szenische Auswahl und Ordnungen in Bildern zum Tragen kommen, zugleich Macht auf das Handeln ausgeübt wird, wird von Friedrich Balke kritisch als "Enteignung des Körpers" (385) herausgestellt und verweist entsprechend auf deren politische Dimension (395).
Ob womöglich Distanz und eine bewusste Reflexion der Bandbreite der künstlerischen Techniken den Verdacht der Verfügbarkeit über den Rezipienten, die im Aufdrängen ihrer jeweils vermittelten Sichtweise erkennbar wird, aufzuheben vermag, steht infrage. Indirekt nähren sowohl Claudia Blümle als auch Sibylle Peters mit ihren Beiträgen diese Hoffnung: Blümle, indem sie auf die Distanz mit gleichzeitigem Bezug auf eine Instanz (Gott) aufmerksam macht, die ein Urteilen durch kritisches Betrachten (Fixieren) ermögliche, wie Vergleiche von mittelalterlichen mit frühneuzeitlichen Bildwerken verdeutlichen (422ff.) und Peters, indem sie auf das Stocken des Redners bzw. die "Präsentation der Präsentation" und damit die Verwirrung bei der Präsentation mit PowerPoint aufmerksam macht, das von einem Wissen um die Verführungskraft des Zeigens und Wirkens des Rhetorischen hinweise (373ff.). Auf Bewusstsein hinzuwirken und den eigenen Erfahrungsraum evident zu machen, erhoffte sich, so Hermann Kappelhoff, auch die allgemeine Filmtheorie und der moderne Autorenfilm. Ausgangspunkt dafür sei das Arbeiten mit den "apriorischen Strukturen" des Films, deren Grundlagen Kappelhoff an Einsteins Montagetheorie herausarbeitet. Ihre Anwendung erlaube ein neues Denken, im Sinne von "Ich-Sehe, Ich-Empfinde" bzw. eine Öffnung oder Veränderung der symbolischen Ordnungen zu initiieren, indem die "gesellschaftlichen, historischen, und medialen Bedingungen" sinnlich greifbar, anschaulich und evident werden können, auch wenn die kulturelle Praxis des Kinos, wie Kappelhoff herausstellt, dem schon immer entgegen stand (316 bzw. 301-304).
Bildwahrnehmung, so legt es die Auseinandersetzung mit den beiden Bänden einmal mehr nahe, wird demnach nicht nur von der abbildlich, kontextuell zu erfassenden Idee des Bildes geprägt, sondern in besonderer Weise auch von der formalen Struktur. Dass dafür die im Zustand der Epoché wahrnehmbaren, nicht abbildlich, sondern formal-relational differenzierbaren, logischen Gefüge von Bildern nicht nur für die Ausdifferenzierung von Sichtweisen, sondern darüber hinaus für das Hervorbringen neuer Sichtbarkeiten verantwortlich gemacht werden können, legen insbesondere Wiesings Ausführungen nahe. [6] Eine weitere Zuspitzung erfährt dieser Ansatz darin, dass formale Aspekte in ihrer Differenz zur natürlichen Welthabe bzw. über ihre Inszenierung mit als eine Grundlage für eine affektive Auffassung des Bildes angesehen werden können, wie es in der Anthologie an sehr unterschiedlichen Beispielen aus der Malerei, der Architektur, der Objektkunst und des Films aufgezeigt wurde. Dass diese darüber hinaus unmittelbar auf die Befindlichkeit des Rezipienten Einfluss nehmen können oder diese als ein Ausdruck des Begehrens des Bildes selbst gedeutet werden und damit auf die Projektionsleistung des Rezipienten bzw. auf ein Transzendentales, wie Boehm (mit Bezug auf einen "Grund") und Stoellger (einen "göttlichen Blick") verweisen können, weitet die Diskussion aus. Sie macht auf mögliche zweckgerichtete Einflussnahmen auf den Rezipienten aufmerksam. Ob künstlerische Bilder sich von solchen der Werbung und Propaganda unterscheiden, wird dabei als Problemstellung gesehen. [7] So sei es das Innovative entgegen dem Gewohnten (Wadenfels, 52, 60) bzw. das Mehr an Bedeutung entgegen dem Eindeutigen (Stoellger, 188ff.), das Kunstwerke auszeichne. Gerade dieses Mehr, so Stoellger, mache sie unbeherrschbar (217). Entziehen könne sich der Rezipient ihrer Wirkung, so Waldenfels ergänzend, mittels der Epoché. Insbesondere diese Aussage eröffnet eine Antwort auf die grundlegende Frage, wie es zur Einnahme des Betrachters von der jeweiligen mit dem Bild vermittelten Weltsicht kommen kann, d.h. warum Werbung und Propaganda so "überzeugend" sein können: Dann, wenn der Rezipient bereits über die Wahrnehmung der formalen Struktur affiziert wird und derart von der dann als eindringlich und zugleich wahr empfundenen Sichtweise des Anderen "überredet" wird. Mit dem Hinweis auf das analogische Verhältnis von Bildform und Sehen, wie es Wiesing wegweisend aufzeigt, eröffnet sich für dieses erweiterte Bildverständnis eine erste Antwort darauf, wie das möglich sein kann.
Anmerkungen:
[1] Vgl. hierzu ergänzend Hermann Bauers Erläuterungen von 1985: Form, Struktur, Stil: Die formanalytischen und formgeschichtlichen Methoden, in: Kunstgeschichte: Eine Einführung, hgg. von Hans Belting / Heinrich Dilly / Wolfgang Kemp / Willibald Sauerländer / Martin Warnke, Berlin 1988, 151-168.
[2] Leitend wurde diese Frage von mir bereits bei der ersten Besprechung der Tagung eingebracht. Vgl. hierzu Martina Sauer: Tagungsbericht: "Movens Bild. Zwischen Evidenz und Affekt" 1. Jahrestagung des nationalen Forschungsschwerpunktes "Bildkritik. Macht und Bedeutung der Bilder", 26.10.-28.10.2006, Basel, in: Arthist, http://www.arthist.net/download/conf/2006/061114Sauer.pdf (zuletzt besucht am 24.6.2010)
[3] Vgl. weiterführend ders.: Artifizielle Präsenz. Studien zur Philosophie des Bildes, Frankfurt a.M. 2005.
[4] Wird dieses als konstitutiv wirksam aufgefasste Moment der Tätigkeit des Rezipienten, d.h. die Einlösung der Verbindungen, wie sie das relationale Geflecht im Bild über die Anlage der bildnerischen Mittel ermöglichen, nicht als ein solches verstanden, kann das zu weitreichenden Missverständnissen führen, wie die Besprechung der Erstausgabe von Wiesings Schrift durch Georg Bertram und Jasper Liptow verdeutlicht, in: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 43 (1998), 295-303.
[5] Hierin wird zugleich der grundlegende Unterschied etwa zur Strukturanalyse der Sedlmayr-Schule erkennbar (vgl. hierzu auch Anm. 1), in der wie Guido Kaschnitz-Weinberg in Abgrenzung zu Riegl formuliert, die "stete Verbundenheit mit dem zu erforschenden Objekt, das beständige Ausgehen vom gegebenen Kunstwerk selbst und nicht vom Subjekt oder von dessen Verhältnis zum Objekt wie bisher" und insofern der innere Wandel der Struktur von Körper- und Raumdarstellung im Hinblick auf das Wesen von dessen Struktur im Vordergrund steht. Vgl. ders., Alois Riegl: Spätrömische Kunstindustrie, in: Riegls Erbe, Hefte des Kunsthistorischen Seminars der Universität München, hg. von Hans Sedlmayr, München 4 (1963), Nachdruck von 1959, 25-39, hier 33ff., Zitat 34.
[6] Eine Annahme, die von den die Abstraktion einleitenden Künstlern nicht nur praktisch, worauf Wiesing hinweist, sondern auch theoretisch reflektiert wurde. Kandinsky etwa hebt explizit auf die konstruktive Kraft der Kunst ab. (in: Über das Geistige in der Kunst, Bern 1952 (1911), 139ff.) Klee weist in diesem Zusammenhang auf "formende Kräfte" hin (in: Das bildnerische Denken, Vortrag im Kunstverein Jena v. 26.01.1924, in: Paul Klee Form- und Gestaltungslehre, Bd. 1, hg. und bearbeitet v. Jürg Spiller, Basel / Stuttgart 1971 (1925), 81-95, hier 92) und Baumeister betont weiterführend, dass über Farbe und Form eine neue Welt entstehe: "Sie (Farbe und Form) werden erlebt ohne Gegenständlichkeit" bzw. "Alles, Raum, Zeit, Farben muss in uns neu entstehen." (in: Das Unbekannte in der Kunst, Köln 1988 (1847), Teil I, Zustand und Umstand, 11-61, hier 38 und 40)
[7] Mit eigenen, exemplarisch zu verstehenden Forschungen zu "Anselm Kiefer. Deutschlandbilder. Orte kultureller Wertebildungen" möchte ich an diese Fragestellungen anschließen (erscheint demnächst).
Martina Sauer