Dor Guez: Pre-Israeli Orientalism. A Photographic Portrait, Tel Aviv: Resling 2015, 270 S.
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War der Zionismus immer schon eine auf den Westen fixierte, im Sinne Edward Saids gar orientalistisch ausgeprägte jüdisch-nationale Bewegung? Dor Guez - Künstler, Fotograf und Forscher an der Jerusalemer Kunsthochschule Bezalel - versucht in seiner neuen, auf Hebräisch erschienenen Studie, "die historische Debatte um das komplexe Verhältnis des osteuropäischen Judentums - das zugleich europäisches Ostjudentum war - zum Orient bzw. zum Orientalen in Eretz Israel" (11f.) zu erweitern. Pre-Israeli Orientalism: A Photographic Portrait prüft Fotografien von Juden aus Osteuropa, die aus den ersten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts nach Palästina auswanderten. Dabei geht es um das Verhältnis des frühen Zionismus zum Orient. Die Studie erschließt einen von Saids berühmten Orientalismus-Begriff der westlichen Arroganz und Machtausübung gegenüber dem Orient abweichenden, eher inklusiven oder integrativen Orientalismus.
Thematisiert werden Fragen von Bildern und Identitäten in Zeiten des Aufbruchs in der jüdischen Geschichte und in der Geschichte des Landes, das multiperspektivisch betrachtet und mal als Palästina, mal wie im Hebräischen als Eretz Israel oder auch als Heiliges Land bezeichnet wird. Das erste Kapitel "Der Orient als Bild" ergründet den christlich-westlichen sowie den christlich-palästinensischen Blick auf den Orient. In drei Blöcken "Orientalistische Bilder des Heiligen Landes", "Von Bild und Realität des Nahen Ostens" und "Fotografien vom Orient" wird ein im Dienst des westlichen Kolonialismus stehender, "moderner Orientalismus" konstatiert, der sich vom Orientalismus des frühen Zionismus unterschied: "Während der moderne Orientalismus klare Linien zwischen (orientalischem) Objekt und (westlichem) Subjekt zieht, durchzieht die lokale Version des Orientalismus [des frühen Zionismus] stets eine immanente, ungelöste Spannung." (73)
Eben dieses Spannungsfeld ist Thema des zweiten Kapitels: "Europäische Zitadelle in der Levante" behandelt den Zusammenhang zwischen dem zionistischen Projekt der jüdischen Nationsbildung in Palästina und seinen Künstlern. In den drei Blöcken "Der 'Neue Jude' in Bildern jüdischer Künstler in Eretz Israel", "Pre-Israeli Orientalism" und "Erste jüdische Fotografien im Orient" wird die zionistische Perspektive der jüdischen Künstler aus Osteuropa thematisiert. Zionistische Mythen vom "leerem Land" oder vom "verheißenem Land" spiegeln sich in ihren künstlerischen Arbeiten wider. Auch das Bild eines "Neuen Juden im Orient" sowie das ambivalente Verhältnis zu dessen arabischen Bewohnern erschließt Guez hier.
Exemplarisch für seine These vom integrativen Orientalismus steht das dritte Kapitel "Tel Aviv der ersten Tage" mit Fotografien des Tel Aviver Künstlers Avraham Soskin. Zunächst wird der Fotograf Soskin porträtiert, dann geht Guez auf dessen Lebenswerk "Studio-Fotos mit westlichem Gewand" ein. Weiterhin präsentiert er 38 Fotografien, und zwar als Beispiele für den vorstaatlichen Orientalismus des frühen Zionismus: Soskins Arbeiten, meist Porträts osteuropäischer Immigranten mit orientalischer Bekleidung und orientalischen Motiven, sollen die Sehnsucht nach dem Orient widerspiegeln. In drei weiteren Abschnitten "Europäische Motive der Fotografien: Hintergrund und Komposition", "Orientalische Attribute: Sehnsucht nach dem Orient" sowie "Neue jüdische Identität in Eretz Israel", wird die immanente Spannung des Begriffs "vorstaatlicher Orientalismus" veranschaulicht.
Einerseits sieht Guez in diesen Arbeiten der ersten zionistischen Fotografen einen authentischen Versuch, die neue jüdische Identität am Orient zu orientieren. Damit will er seine These vom integrativen Orientalismus untermauern, denn anders als der europäische Orient-Tourist, der letztlich sein westliches Selbstverständnis bestätigt wissen wollte, strebte der zionistische Neuimmigrant danach, seine Vergangenheit in der jüdischen Diaspora Osteuropas hinter sich zu lassen und im Orient eine neue Heimat zu finden.
Andererseits spricht Guez aber von einer "bloßen Inszenierung"; es sei "bei dem Akt der Imitation geblieben". Es wird zwar nicht ausgeschlossen, dass die Sehnsucht der neuen Einwanderer nach dem Orient echt war, doch Guez geht davon aus, dass es sich bei den inszenierten Fotografien vor allem um Taktik gehandelt habe. Es sei weniger um eine echte Integration in den Orient gegangen als um eine neue lokale Identität für die Einwanderer, die im verheißenen Land Israel und entsprechend der zionistischen Ideologie ihre neue Heimat bauen wollten. "Die Sehnsucht nach der historischen Heimat [...] führte zum Akt der Imitation, zur symbolischen Vereinnahmung des Orients, und zwar nicht ohne den westlichen Blick. Die orientalistische Bekleidung bezweckte, ihr letztlich westliches Projekt zu verwirklichen." (20)
Das Orientalische durch Imitation gleichsam zu entsorgen, um das am Westen orientierte zionistische Projekt umsetzen zu können? In diesem Spannungsfeld zwischen der politischen und historischen Bedeutung des zionistischen Projekts, das aus Europa stammte und sich westlich-kolonialer Praktiken bediente, und dem Territorium andererseits, wo man nun einmal "orientalistisch" lebte, bewegt sich Pre-Israeli Orientalism. Immer wieder verweist Guez darauf, dass das zionistische Projekt den ideologischen und historischen Kontext der Fotografien bildete, sei es doch darum gegangen, die Transformation des "diasporischen Juden" zu einem "neuen Juden" im eigenen Land zu bewerkstelligen, mit der Bibel als Legitimationsschrift für das verheißene Eretz Israel und ausgestattet mit dem zionistischen Geschichtsnarrativ vom 'leeren Land'.
Mit dem ersten arabischen Aufstand gegen das zionistische Projekt in Palästina 1929 begann die Faszination für den Orient merklich nachzulassen. Machtausübung, Abgrenzung und Arroganz gegenüber dem Orient und den Bewohnern Palästinas wurden zunehmend zu Instrumenten der zionistischen Bewegung und später des Staats Israel. Die Frage, welche Chance das Projekt eines jüdischen Staats für die europäischen Juden in Eretz Israel mit einem integrativen Orientalismus gehabt hätte, blendet Guez in seiner eindringlichen Studie aus. Der Leitbegriff vorstaatlicher Orientalismus im frühen Zionismus trägt nicht wirklich; er bleibt dünn, fade, uneingelöst - gewissermaßen eine Sehnsucht des Autors nach einer Alternative zu den realen Verhältnissen zwischen dem zionistischen Israel und Palästina in der Gegenwart.
Tamar Amar-Dahl