Werner Greiling / Armin Kohnle / Uwe Schirmer (Hgg.): Negative Implikationen der Reformation? Gesellschaftliche Transformationsprozesse 1470-1620, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2015, 438 S., ISBN 978-3-412-50153-2, EUR 50,00
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Einen Sammelband "Negative Implikationen der Reformation" zu nennen, ist provokativ - wie auch die Herausgeber betonen. Aber ist es auch produktiv? Denn es setzt ja bereits voraus, dass die Reformation auch oder primär positive Effekte gehabt habe. Glücklicherweise ist diese wertende Sicht auf die Reformation in den letzten Jahrzehnten einer distanzierteren Sicht gewichen. Man kann sogar bezweifeln, ob die Frage nach negativen Implikationen, die auf eine kirchliche Anregung zurückgeht, überhaupt eine wissenschaftliche Fragestellung ist. Die Herausgeber drücken sich vor dem Problem, indem sie die Frage umformulieren und im Vorwort (eine Einleitung gibt es irritierenderweise nicht) auf die Einbettung der Reformation in langfristige gesellschaftliche Veränderungen abstellen. Dies ist aber eine andere Frage, die zudem konzeptionell nicht ausgearbeitet wird. Auch eine Begründung dafür, warum welche Themen im Einzelnen behandelt werden, findet sich nicht. Und die Autoren verneinen die Frage nach negativen Implikationen meist - oft in dem Sinne, dass die Reformation vorhandene Impulse nur aufgenommen und verstärkt habe.
Ist die Konzeption des Bandes problematisch, so ist es doch plausibel, wenn auch nicht programmatisch begründet, die gesellschaftlichen Transformationen im Gefolge der Reformation im Wesentlichen an einem geografischen Raum (dem mitteldeutschen) durchzuspielen. So können systematische Probleme der Reformationsforschung konzentriert regional behandelt werden. Der informative Abriss von Eike Wolgast zum Gewissenszwang bei kurpfälzischen Religionswechseln fällt daher thematisch heraus; ähnliches gilt für den Aufsatz von Josef Pilvousek zum Tridentinum.
Die Aufsätze sind, auch unabhängig von ihrer Nähe zur Leitfrage, von unterschiedlicher Qualität - manche bieten solide Zusammenfassungen oder weniger, andere präsentieren diskussionswürdige Thesen oder interessantes Material. Julia Mandry demonstriert, dass der reformatorische Impuls zur institutionalisierten Armenfürsorge auf städtische Initiativen des Spätmittelalters zurückgriff. Julia A. Schmidt-Funke rekapituliert die geschlechtergeschichtliche Reformationsforschung und weist darauf hin, dass die Themen 'reformatorische Männlichkeit' und 'theologische Aufwertung von Sexualität' noch besonderes Forschungspotenzial besitzen. Enno Bünz stellt die Aufhebung der Klöster in Sachsen und die Schicksale von Mönchen und Nonnen nach der Klosteraufhebung auf empirisch breiter Basis dar. Dass Bünz die amerikanische Forschung außerhalb seines engsten regionalen Interessenbereichs (etwa die Arbeiten Bradys zur Säkularisation oder Plummers zu entlaufenen Nonnen) ausblendet, erscheint mir als ungute Verengung. Michael Beyer arbeitet die Diskussion über Luther und die Juden auf. Er zeigt, dass hinsichtlich der theologischen Grundsätze der frühe ("judenfreundliche") Luther und der späte ("judenfeindliche") Luther sich kaum widersprechen, positioniert sich aber gegen Thomas Kaufmanns These eines Lutherschen Antisemitismus (statt Antijudaismus): Luthers durchaus auf Bluts- und Naturbegriffe rekurrierender Judenhass unterscheide sich nicht von anderen, etwa nationalen, zeitgenössischen Stereotypen. Hans-Peter Hasse zeigt, dass erst die religiösen Kontroversen ab 1521 eine reichsweite Vorzensur hervorbrachten, aber auch, dass im Gefolge der Auseinandersetzung mit Karlstadt eine Bücherzensur in Wittenberg entstand. Uwe Schirmer demonstriert den Entmündigungsprozess der bäuerlichen Gemeinden durch die Landesherren vom 15. zum 17. Jahrhundert und legt plausibel dar, dass die Reformation, etwa durch das Instrument der Visitation, diesen Trend verstärkte. Allerdings: Ohne das Material wirklich beurteilen zu können, wirkt Schirmers strukturhistorische top-down-Darstellung vor dem Hintergrund des Forschungstrends zum "Aushandeln" von Herrschaft doch übertrieben technokratisch. Kai Lehmann fragt, ob die Hexenverfolgungen als Folge der Reformation gesehen werden dürfen - und antwortet, wenig überraschend, dass die konfessionelle Spaltung und nicht die Reformation selbst teilweise dafür verantwortlich sei. Die ambivalenten Auswirkungen der Reformation auf Kunstmarkt und Künstler illustriert Andreas Tacke. Ralf Frassek zeigt, wie sich durch den Wegfall des kanonischen Rechts und der bischöflichen Jurisdiktion das Eherecht änderte und dass die ernestinische Hofkanzlei zum Zentrum der reformatorischen Ehegerichtsbarkeit wurde. Haik Thomas Porada legt dar, dass die Reformation die letzte Blüte der niederdeutschen Schriftsprache darstellte (man denke an Bugenhagens Kirchenordnungen), bevor sie, wohl wegen des Zusammenbruchs der Hanse, zurücktrat. Ins 19. Jahrhundert führt der Aufsatz von Stefan Gerber, der demonstriert, wie stark die Reformationsdeutung im positiven wie negativen Sinne auf konservative und frühliberale Ideen ausstrahlte.
Gerade weil viele der Aufsätze die Auswirkungen der Reformation eher relativieren, fällt in Georg Schmidts Text die hohe Bedeutung auf, die der Reformation, ja: Luthers Theologie beigemessen wird. Schmidt meint, dass Luthers auf den Territorialstaat zugeschnittene, deutende Übersetzung von Röm 13 das Ferment für die charakteristische deutsche Obrigkeitshörigkeit bis ins 20. Jahrhundert darstellte. Diese neue Variante der Von-Luther-zu-Hitler-Geschichte ist argumentativ recht freihändig konstruiert: durch eine nicht recht plausibilisierte Ausnahmestellung der Lutherschen Interpretation, durch die Ausblendung der inzwischen gut erforschten lutherischen Herrschaftskritik in der Frühen Neuzeit, durch die Behauptung einer mentalitätsprägenden Wirkung des Lutherschen Staatsgehorsams - die aber erst im 19. Jahrhundert durchgeschlagen habe.
Am interessantesten sind die Untersuchungen zu den Universitäten und zum Adel. Andreas Lindner zeigt, wie die Erfurter Universitätshumanisten sich pro oder contra Luther positionierten. Luthers Gegner waren hier ehemalige Unterstützer, denen man kaum das Stereotyp des Dunkelmanns anhängen konnte. In Robert Gramschs Beitrag geht es um die Frage, ob der antiakademische Impuls der frühen Reformation die Universitätskrise der 1520er-Jahre auslöste (eine These, die von Erasmus bis in die jüngste Forschung vertreten wird). Gramschs statistisch untermauerte Antwort lautet: einerseits ja, andererseits ist der Immatrikulationsrückgang Ausdruck einer Sättigung des Akademikermarktes, die erst durch die steigende Nachfrage des Territorialstaates überwunden wurde. Die faszinierende Hypothese, dass es sich um ein "psychologisches 'Marktüberhitzungsphänomen'" (77) handelte, scheint mir aber aus methodischen wie aus Quellengründen kaum beweisbar. Christoph Volkmar geht der Frage nach, welche Rolle der niedere Adel in der Reformation spielte - und weist zurecht auf einen "wirklich miserablen Forschungsstand" hin (376). Die Forschung neigt dazu, dem Niederadel eine ablehnende Haltung zur Reformation zu unterstellen - und tatsächlich fielen ja mit den monastischen Versorgungsoptionen und der mittelalterlichen Adelskirche wichtige Anreize für Adlige weg. Dennoch macht Volkmar deutlich, dass die Forschung hier komplexere Antworten geben müsste und viel Material zu bearbeiten wäre.
Aufsätze wie diese, die Neuland erschließen, versöhnen mit einer Reihe von mäßigeren Texten - und einer Gesamtkonzeption, die letztlich nicht viel hergibt.
Matthias Pohlig