Benjamin Möckel: Erfahrungsbruch und Generationsbehauptung. Die "Kriegsjugendgeneration" in den beiden deutschen Nachkriegsgesellschaften (= Göttinger Studien zur Generationsforschung; Bd. 16), Göttingen: Wallstein 2014, 445 S., ISBN 978-3-8353-1581-5, EUR 39,90
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"45er", "68er", "89er": Generationelle Narrative spielen bei der Interpretation der deutschen Geschichte nach 1945 eine wichtige Rolle. Eine besondere Bedeutung wurde dabei der Altersgruppe der um 1920 Geborenen, der sogenannten Generation der "45er", die auch wahlweise als "Hitlerjugendgeneration", "Flakhelfergeneration" oder "skeptische Generation" in der Bundesrepublik bzw. "Aufbaugeneration" in der DDR bezeichnet wurde, zugeschrieben. Diese Altersgruppe schien in ihrer formativen Lebensphase in hohem Maße durch den Zweiten Weltkrieg und vom politischen wie gesellschaftlichen Umbruch des Jahres 1945 geprägt worden zu sein. Aufgrund dieser generationellen Erfahrung waren die Angehörigen dieser Kohorte neueren Forschungen zufolge die Protagonisten des gesellschaftlichen Neuanfangs und in Westdeutschland der politischen und kulturellen Demokratisierung. [1]
In seiner im Göttinger Graduiertenkolleg "Generationengeschichte" entstandenen Dissertation hinterfragt Benjamin Möckel den Generationenbegriff in äußerst produktiver Weise. Zum einen konstatiert er eine "emphatische Überdetermination" des Begriffs im öffentlichen Raum und zum anderen eine hohe "lebensweltliche Evidenz". Generationenreden seien nicht nur als politische und gesellschaftliche Argumente bedeutsam, sondern auch "als Modus einer individuellen Selbstverortung mit einer besonderen emotionalen Kohäsionskraft ausgestattet" (16f.). Möckel betrachtet den Generationsbegriff daher als einen "Scharnierbegriff", weil er politisch-gesellschaftliche Zuschreibungen und individuelle Erfahrungsverarbeitungen bzw. Selbstdeutungen zusammenführt (387). Das Ziel der Arbeit besteht darin, "die doppelte Evidenz des Generationsbegriffs zu problematisieren und nicht vorschnell von einer gemeinsamen Prägung auf eine gemeinsame generationelle Mentalität dieser Jahrgänge zu schließen" (18). In seiner Studie gelingt es Möckel, individuelle Erfahrungen und gesellschaftliche Deutungen zunächst analytisch zu trennen und dann wieder zusammenzuführen. Auf dieser Basis kann er dezidiert den Prozess zeigen, über welchen generationelle Deutungsrahmungen in individuelle Selbstverortungen aufgenommen werden. Möckel verwendet dazu ein breites Quellenspektrum: Anhand von nach 1945 neugegründeten Zeitschriften, wissenschaftlichen Studien und populärer Literatur analysiert er die Debatten um die Jugend bis in die zweite Hälfte der 1950er Jahre. Tagebücher, Briefe, Schulaufsätze und Erinnerungsbücher von männlichen und weiblichen Jugendlichen verwendet er, um individuelle Erfahrungsverarbeitungen vor und nach 1945 aufzuzeigen.
Die Studie ist in drei chronologisch aufgebaute Kapitel gegliedert. Das erste Hauptkapitel untersucht auf der Basis von Selbstzeugnissen die Frage, welchen Stellenwert das von der NS-Propaganda immer wieder inszenierte Bild des Zweiten Weltkriegs als "Bewährung der jungen Generation" besaß. Dabei zeigt Möckel, dass die individuellen Erwartungshorizonte zum Teil direkt an die gesellschaftlich propagierten Gemeinschaftskonzepte anschlossen und die jeweilige Wahrnehmung des Krieges prägte. Die konkreten Erfahrungen des Krieges waren aber viel ambivalenter als viele Jugendliche erwartet hatten, so dass besonders in seiner letzten Phase widersprüchliche Empfindungen in den Vordergrund traten. Das Gefühl sozialer Vereinzelung wurde nun intensiv beschrieben, während Verweise auf gemeinsame generationelle Erfahrungen kaum eine Rolle spielten. Im Vordergrund stand "the shock of violence": der Krieg als "Gewalt- und Dissoziationserfahrung", wie eine Kapitelüberschrift lautet.
Im zweiten Teil analysiert der Verfasser, wie mit dem radikalen Bruch zuvor selbstverständlicher Interpretations- und Wahrnehmungsmuster auf der politischen wie auf der biografischen Ebene umgegangen wurde. Dazu betrachtet er die öffentlichen Jugenddiskurse unmittelbar nach 1945. In den neuen politisch-kulturellen Zeitschriften wurde die zeitgenössische Jugend zunächst als politisch radikalisierte, sozial und moralisch verwahrloste Generation dargestellt, die einem gesellschaftlichen Neuanfang entgegenstünde. Dabei handelte es sich zumeist um Stellvertreterdebatten, in denen gesamtgesellschaftliche Themen verhandelt wurden. Auch in den individuellen Selbstbeschreibungen wurde das Kriegsende als biografischer Bruch empfunden, der häufig mit Eindrücken persönlicher und sozialer Demütigung einherging. Insbesondere Erfahrungen von Gewalt und Verlust wurden von männlichen wie weiblichen Jugendlichen selbst in Tagebüchern entweder überhaupt nicht oder nur sehr bruchstückhaft thematisiert. Auf diese Weise sei, so Möckel, ein Kommunikationsbruch in Bezug auf die Vergangenheit erzeugt worden, der sowohl in einem individuellen Schweigen als auch in den Sagbarkeitsregeln einer "socially constructed silence" (Jay Winter) seinen Ausdruck fand.
Das dritte Hauptkapitel greift zeitlich bis in die zweite Hälfte der 1950er Jahre hinein, als einem Zeitabschnitt, in dem sich die langfristig wirksamen öffentlichen Generationenbilder der um 1920 geborenen Jahrgänge konstituierten. Insgesamt traten die katastrophischen Zukunftserwartungen in Bezug auf die Jugendlichen in den öffentlichen Debatten in den Hintergrund und wichen einer insgesamt positiveren Einschätzung der Jugend. In Westdeutschland wurden einer "jungen Generation" nunmehr die Topoi von Skepsis, politischer Passivität und der Orientierung auf das persönliche Fortkommen zugeschrieben, wie Möckel etwa anhand der Popularität und Wirkmächtigkeit von Helmut Schelskys Credo von der "skeptischen Generation" zeigt. In der DDR wurde die Altersgruppe als Generation inszeniert, die sich nach der Kriegserfahrung mit besonderem politischem Engagement für einen sozialistischen Gesellschaftsaufbau einsetze. Zeitweise ein wenig in den Hintergrund tritt bei Möckel, dass die Medienöffentlichkeit in der DDR stets politisch-ideologisch gelenkt war und dies entsprechende Auswirkungen auf den Generationendiskurs hatte. Besonders interessant ist jedoch, dass er dezidiert untersucht, ob und wie die öffentliche Generationenrede in individuelle Deutungen der betroffenen Jahrgänge Eingang fand. Die Metapher der Generation stellte nach Möckel nämlich in beiden Nachkriegsgesellschaften eine Antwort auf den Kommunikationsbruch des Kriegsendes dar, der in der kollektiven Rhetorik der Generation teilweise kompensiert werden konnte. Dabei spielte die Generationenrede als Deutungsrahmen in zweifacher Hinsicht eine Rolle. Generationelle Fremdzuschreibungen konnten entweder als ungerechtfertigte Vereinnahmungen zurückgewiesen oder als Movens der persönlichen Selbstreflexion aufgenommen werden.
Möckels Dissertation ist für die neue Generationsforschung von zentraler Bedeutung. Denn sie zeigt gut lesbar, exemplarisch und Schritt für Schritt, wie das Kriegsende individuell höchst unterschiedlich wahrgenommen wurde und erst in der nachträglichen Erfahrungsverarbeitung und vor dem Hintergrund eines tiefgreifenden Kommunikationsbruches in eine altersbezogene Gemeinschaftserfahrung umgedeutet wurde. Darin liegt eine wichtige Erklärung für die Frage, warum Generationsreden bis heute in Deutschland so wirksam sind. Die "Selbstgenerationalisierung" (45) diente und dient dazu, individuelle Deutungen kommunizierbar und sozial anschlussfähig zu machen. Die Frage nach der vermeintlich kollektiven Bedeutsamkeit der "45er" für die deutsche Nachkriegsgeschichte muss vor diesem Hintergrund neu gestellt werden.
Anmerkung:
[1] Christina von Hodenberg: Konsens und Krise. Eine Geschichte der westdeutschen Medienöffentlichkeit, 1945-1973, Göttingen 2006; Dirk Moses: German Intellectuals and the Nazi Past, Cambridge 2007.
Lu Seegers