Barbara Lubich: Das Kreativsubjekt in der DDR. Performative Kunst im Kontext (= Schriften zur politischen Kommunikation; Bd. 12), Göttingen: V&R unipress 2014, 454 S., 71 s/w-Abb., ISBN 978-3-8471-0085-0, 59,99
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Anja Tack: Riss im Bild. Kunst und Künstler aus der DDR und die deutsche Vereinigung, Göttingen: Wallstein 2021
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Barbara Lubichs 2014 im Verlag V & R Unipress erschienene umfangreiche Dissertationsschrift (454 Seiten mit zahlreichen, teilweise farbigen Abbildungen) widmet sich als historische Untersuchung dem komplexen Thema "Das Kreativsubjekt in der DDR. Performative Kunst im Kontext". Die Autorin unternimmt die überwiegend diskursanalytisch betriebene Untersuchung chronologisch gegliedert über den Zeitraum seit Beginn der Deutschen Demokratischen Republik bis zur Wendezeit vor, überschreibt die vier Teile der Arbeit aber mit strukturierenden, thematischen Begriffen, die den Hintergrund der jeweiligen Kontextualisierung und die Zuspitzung der Fragestellung verdeutlichen helfen - über die Definition und Erörterung der umstrittenen Kategorien "Kanon", "Moderne" und "Freiheit und Struktur" - ein Spannungsverhältnis, das neben der Kunst auch die Wissenschaft und Politik betraf - bis hin zur These einer "Verspätung" der DDR in Sachen künstlerischer Entwicklung, besonders im Vergleich mit dem Westen.
Der einleitende Teil (15-30) betont in Abgrenzung zu einer ebenfalls denkbaren kunsthistorischen Aufarbeitung der Fragestellung, dass es "in diesem Buch nicht darum [geht], DDR-Kunst in einem gültigen Kanon einer universalen Kunstgeschichte einzuordnen. Im Rahmen einer genauen Betrachtung der Erfahrungen und künstlerischen Positionen von DDR-Künstlern wird es vielmehr darum gehen, der Konstruktion eines zeitgenössischen Kunstkanons auf die Spur zu kommen" (19). Diese Konstruktion wird am spezifischen Beispiel "performativer Kunst" der DDR problematisiert, unter welche die Autorin häufig gattungsüberschreitend realisierte Kunstproduktion aus den Bereichen Theater, Tanz, Pantomime und Performance-Kunst subsumiert und anhand von unterschiedlich ausführlich behandelten Fallbeispielen untersucht.
Dabei dienen die ersten drei Teile der Arbeit letztlich der Beantwortung der vorwiegend im letzten Teil fokussierten Frage, "inwiefern die Kunst der letzten DDR-Künstlergenerationen als politische Kommunikation verstanden werden kann" (20/21). Die Autorin setzt sich dazu kritisch mit der häufig postulierten Grundannahme auseinander, das performative Kunstpraktiken - deren Anfänge bereits auf die europäischen Avantgarden zu Beginn des 20. Jahrhunderts zurückdatiert werden, die aber erst in den 1960er-Jahren unter diesem Begriff reflektiert werden - "immer politisch [seien]" (21). Lubich stellt stattdessen die Grundfrage, "inwiefern performative Kunstereignisse überhaupt politisch sein können" (21) und vertritt die These, dass sich gerade die letzten Künstlergenerationen vor der Wende "ästhetisch an einem unexplizierten Kanon performativer Kunst [orientierten]. Sie befanden sich in einem transnationalen Raum, in dem sowohl die Erwartungen des Westens als auch die des Ostens auf sie einwirkten: Nicht nur der Traum internationaler Anerkennung, sondern vor allem der Anspruch, in der eigenen Gesellschaft eine selbstbestimmte künstlerische Arbeit leisten zu können [...] bestimmte das Dasein dieser Künstler." (21)
Die These wird methodisch klug angegangen und plausibel vertreten, indem die Autorin die übergeordnete genealogisch konzipierte Analyse diskursiver Topoi und verschiedener Rückbezüge wie die Genese des sozialistischen Realismus (Kapitel 2.5), die Festschreibung des Attributs "modern" im Kontext des Tanzes (Kapitel 4) oder die Verhandlung des modernen Erbes (Kapitel 6) sowie der Diskurs um die Kybernetik (Kapitel 8) und die Rolle von Improvisation sowie Psychotherapie im Ringen um mehr oder minder offizielle Definitionen der "sozialistischen, schöpferischen Persönlichkeit" (Kapitel 9) in den untersuchten Dekaden zwischen 1950 und 1990 biografisch perspektivierten Künstleruntersuchungen gegenüberstellt. Darin kommen in den 13 Kapiteln der Arbeit die Auseinandersetzungen und Werke von kanonischen Tänzerinnen wie Gret Palucca oder Mary Wigman (Kapitel 2), von Pantomime-Pionieren wie Eberhard Kube (Kapitel 5), von experimentellen Malern wie Ralf Winkler (alias A.R. Penck) (Kapitel 7), von frühen Multimedia-Künstlern wie Lutz Dammbeck und der kollaborierenden Perfomerin Fine Kwiatkowski (Kapitel 10 und 11) oder des Theaterregisseurs Jo Fabian (Kapitel 12) und ihre kritischen Auseinandersetzungen mit der staatlichen Kulturpolitik sowie prägenden institutionellen Strukturen der DDR in zahlreich zitierten Artikeln, Manifesten sowie privater Korrespondenz und Interviews, aber auch Berichten der beunruhigten Staatssicherheit anschaulich und detailliert zur Sprache.
Die kultursoziologische Rede von der prozessual konzipierten "Subjektkultur", die sich explizit auf Andreas Reckwitz' Beschreibung einer ästhetischen Variante moderner Subjektkultur bezieht, ist definiert als eine, die "Gegensubjekte zu den bürgerlichen und nach-bürgerlichen kulturellen Formationen zu instituieren" versucht und mit "selbstuniversalisierende[...m] Anspruch eigentlicher, radikaler Modernität" einhergeht (22). Ihr "Ideal-Ich findet sich heute im Modell des kreativen Subjektes, das in der sozialwissenschaftlichen Literatur als das hegemonial Subjektmodell der zeitgenössischen westlich geprägten Gesellschaften betrachtet wird [..., wobei] die für dieses Subjektmodell typische Künstlerkritik heute das kapitalistische System nicht unterwandert, sondern stabilisiert" (22). Dieser theoretische Ansatz wird von der Autorin daher auf den Kontext der sozialistischen DDR übertragen mit der Frage, "wie dieses Modell in den ästhetischen Vorlieben und in der künstlerischen Auseinandersetzung formuliert wird [...und] inwiefern die Gesellschaft der DDR auch ein Feld gewesen sein mag, in dem die Vorstellung des Kreativsubjekts ihren Erfolg vorbereiten konnte" (23). Eine wichtige Voraussetzung aus Sicht der Autorin ist dabei, dass "die verschiedenen Subjektkulturen der DDR in einer transnationalen Perspektive zu betrachten [sind], ohne dabei vorauszusetzen, dass die Dichotomie Kapitalismus versus Kommunismus mit einer ebenbürtigen Dichotomie der jeweiligen Subjektkulturen einhergehen muss" (23). Vielmehr weist Lubich besonders für die 1970er-Jahre nach, dass die offizielle Rhetorik in der DDR "die Entfaltung kreativer Kräfte als einzuübende Praxis, als Erziehungsmittel zum Besserwerden" verstand und die Forderung, jeder solle lernen, sich selbst zu befreien, hier durchaus Akzeptanz fand (23/24) und schließlich institutionalisiert wurde.
Die Leistung dieser umfangreichen und vielschichtig betriebenen Arbeit, die sich in dem ausgewählten langen Zeitraum, den zahlreichen Fallbeispielen und verschiedenen thematischen Aspekte widerspiegelt, liegt dabei weniger in der vom Klappentext als "überraschendes Ergebnis" konstatierten Feststellung, dass das "für den Kapitalismus heute als hegemonial geltende Leitbild des Kreativsubjekts [...] in der DDR sein sozialistisches Pendant [hatte]". Vielmehr ist es Lubichs ambitioniertes Verdienst gezeigt zu haben, wie dieses Pendant - gerade als ein streckenweise transnational formiertes - von spezifischen Akteuren, bestimmten Institutionen und konfliktreichen ästhetischen wie sozio-politischen Auseinandersetzungen konstituiert wurde und sich wandelte. Ihre Untersuchung konturiert das "Kreativsubjekt der DDR", wenn auch nicht explizit, als die Untersuchung eines spezifischen Dispositivs im Sinne Michel Foucaults, der darunter ein heterogenes Ensemble aus Diskursen, Institutionen sowie Aussagen, die Gesagtes wie Ungesagtes umfassen können verstand, das sich als eine Strategie von Kräfteverhältnissen beschreiben lässt, die Typen von Wissen stützten und von diesen gestützt werden. [1]
Die Analyse der für die DDR spezifischen, ästhetisch-künstlerischen Kräfteverhältnisse führt Lubich daher besonders im letzten Teil ihres Buches zur Einsicht, "dass für die Generation [der in den 1980er-Jahren experimentierenden Künstler wie...] Lutz Dammbeck und Fine Kwiatkowski die politische Konnotation der Gattung performative Kunst noch offen war, während diese Annahme am Ende der 1980er Jahre zur Selbstverständlichkeit wurde" (426). Das "Kreativsubjekt" unterstützte in dieser Zeit also eine entscheidende Transformation des Wissens bzw. wurde umgekehrt von diesem unterstützt.
Die Arbeit bietet mit dieser Art von detailreichen, komplexen und grundlegenden Analysen und Einsichten einen innovativen Beitrag zur noch jungen interdisziplinären Aufarbeitung der Kunstentwicklung der DDR. Das für eine wissenschaftliche Publikation insgesamt gut verständlich geschriebene und ambitionierte Buch richtet sich damit primär an Historiker, Kultursoziologen, Kunsthistoriker und Performance-, Tanz-, Theater- sowie Musikwissenschaftler, ist aber auch für ein interessiertes Laienpublikum durchaus zu empfehlen.
Anmerkung:
[1] Vgl. Michel Foucault: Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit, Berlin 2008.
Franziska Koch