Matteo Burioni (Hg.): Weltgeschichten der Architektur. Ursprünge, Narrative, Bilder 1700-2016 (= Veröffentlichungen des Zentralinstituts für Kunstgeschichte in München; Bd. 40), Passau: Dietmar Klinger Verlag 2016, 296 S., ISBN 978-3-86328-147-2, EUR 29,00
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Der Band "Weltgeschichten der Architektur. Ursprünge, Narrative, Bilder 1700-2016" ist der knapp 300-seitige Katalog zu der gleichnamigen Ausstellung, die vom 15. Dezember 2016 bis 28. Februar 2017 in Form einer Vitrinen-Schau im Zentralinstitut für Kunstgeschichte München stattfand. Sie präsentierte überwiegend historische Handbücher zur Architekturgeschichte, die dem Anspruch nach die gesamte Welt in den Blick nehmen.
Der textreiche und farbig bebilderte Band liest sich außerdem wie ein Nachschlagewerk, das jedes Handbuch mit einem bis zu zweiseitigen Text samt exemplarischer Illustration vorstellt, historisch kontextualisiert und seine Bedeutung für diesen weltumspannenden, aber doch im Wesentlichen westlich geprägten Blick auf die Architekturhistoriografie erläutert. Denn der Band kann bezeichnenderweise fast kein Handbuch aus außereuropäischer bzw. -amerikanischer Feder besprechen. So bleibt ein Beitrag über den Argentinier Ángel Guidos (1896-1960) und seinen Entwurf eines mestizischen Barocks mit Verweis auf Wölfflin die Ausnahme (174).
Den beteiligten 54 Autoren und Autorinnen gelingt es in gleichbleibend hoher Qualität, die wichtigsten historischen Fakten über den jeweiligen Handbuchverfasser mit kurzen Analysen zu verbinden, die die sehr unterschiedlichen Strukturen der Publikationen erhellen. Während Pioniere wie Julien-David Leroy 1764 die "Histoire de la disposition et des formes différentes que les Chrétiens ont données à leurs temples [...]" noch auf 90 Seiten abzuhandeln versuchten, begegnete man dem globalen Anspruch häufig gleich in mehrbändigen Publikationen. So konzipierte Johann B. F. von Erlach seinen "Entwurff Einer Historischen Architectur" von 1721 mit sechs Bänden ebenso wie später Carl Friedrich von Wiebeking seine "Theoretisch-practische bürgerliche Baukunde [...]" (1821-25). Bisweilen blieben die publizistischen Großprojekte denn auch unvollendet, wie Johann A. Romberg und Friedrich Stegers "Geschichte der Baukunst von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart" (1844) zeigt, von der nur der Band zu Indien herauskam. Dem Katalog gelingt es mit knappen Verweisen auf Pionierleistungen, die konzeptuellen und illustratorischen Innovationen, regionale bzw. national gelagerte Konkurrenzen und deren Wirkung, die zunehmend reich verzweigte Genealogie dieser kunsthistoriografischen Gattung aufzuzeigen. Schlaglichtartig scheinen dabei schon im ersten Kapitel "Weltgeschichten der Architektur", das dem langen 19. Jahrhundert gewidmet ist (vor 1780 / nach 1910 werden nur wenige Beispiele behandelt), der wechselnde Zeitgeist und die epistemologischen Bedingungen und Grenzen der Kunstgeschichte als einer dynamischen Disziplin auf. Denn die Handbuchautoren - im Übrigen fast alles Männer [1] - verhandeln ihren theoretischen Welterklärungsanspruch mehr oder weniger explizit.
Charakteristisch für die ersten beiden Jahrhunderte ist, dass die Handbuch-Verfasser häufig vergleichend vorgehen und die Architektur bestimmter Regionen und Zeiten als anderen überlegen oder als Ursprung für bestimmte technische oder stilistische Errungenschaften bestimmen. Konsequenterweise ist das zweite Kapitel der "Vergleichenden Architekturgeschichte" und das fünfte den "Ursprünge[n] und Natur" gewidmet.
In den Beispielen, die Kapitel 2 "Vergleichenden Architekturgeschichte" versammelt, wird deutlich, wie sehr der vergleichende Blick auf Bilder angewiesen ist und ihre technisch-medialen Bedingungen nicht hintergehen kann. So berufen sich diese Publikationen zunehmend auf die bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts stark anwachsende Reiseliteratur, wobei die Autoren zunächst mit Stichen arbeiten (z.B. D'Agincourts "Histoire de l'art par les monuments [...]", sechs Bände, 1823) ohne immer selbst vor Ort gewesen zu sein; später dann mit Fotografien (beispielsweise Mendelsohns "Russland Europa Amerika. Ein architektonischer Querschnitt", 1929). Diese vergleichenden Ansätze halfen maßgeblich, eine "Rhetorik des subjektiven Blicks" zu verfestigen, mit der die "Autorität des Augenzeugen untermauert werden soll" (91). So lässt sich exemplarisch nachvollziehen, wie die Publikationen für die Kunstgeschichte insgesamt stilbildende, kombinatorische Bildarrangements entwickeln, die wie "Versuchsanordnungen" funktionieren, in denen "Hypothesen getestet und / oder verworfen werden" (91).
Beispielsweise trugen die in Kapitel 5 "Ursprünge und Natur" versammelten Beispiele von Laugier über Semper bis Bourdieu zu einem Ursprungsdiskurs bei, der "'Zeit' und 'Geschichte' außer Kraft [setzt], [in dem] durch den Rückgriff auf die 'Natur des Menschen' [...] Geografie scheinbar keine Rolle [spielt] und Architektur [...] natürlich, autorlos, ja anonym" erscheint (193). Es wird deutlich wie architektonische Utopien inspiriert von der "Urhütte" (Edward Shaw in "Rural Architecture", 1843), dem "Palast des genügsamen Wilden" (Deutsches Museum München, 1920) oder der "Baukunst der Insekten" (James Rennie, 1847), angesichts der industriellen Urbanisierung einem zivilisationskritischen Narrativ geschuldet sind, ohne dass dadurch die kolonialen, imperialistischen oder anthropozentrischen 'blind spots' dieser Entwicklung unbedingt bewusst geworden wären.
Der viel kritischere Blick der heutigen Autoren und Autorinnen auf langlebige historiografische Leitkategorien basierend auf "Nationale[n] und imperialen Narrative[n]" (Kapitel 3) - um 1900 im Gefolge der Weltausstellungen und von Kulturkreislehren unterfüttert - oder "'Rasse', Rassismus und Rassedenken" (Kapitel 4) - schon seit der Mitte des 19. Jahrhunderts - bringt das problematische Erbe dieser Narrative ans Licht.
Demgegenüber erscheint es auf den ersten Blick weniger einsichtig, warum "Weltkunstgeschichten" in Kapitel 6 als eigene Handbuchkategorie, in der Architekturgeschichte häufig aufgeht, und schließlich Kapitel 7 zu "Monumente und Globalgeschichte" den Band beschließen. Matteo Burioni, der Herausgeber des Bandes gibt zu, dass die "Abgrenzung [von Weltkunstgeschichten] zur Architekturgeschichte [...] in der Sache künstlich [ist], aber [...] von der schieren Menge her zu rechtfertigen" sei (221), möchte jedoch "einige Perspektiven auf das viel weitere und eine eigene Darstellung erfordernde Thema der Global Art History" eröffnen (221). So belegen die hier versammelten sieben Kunstgeschichten von Anton Springer über Karl Woermann bis Jean Guiart und Philippe Descola, das die Kategorie "Welt" genauso großen Schwankungen in geografischer wie werksbezogener Auswahl unterlag, wie in den behandelten Architekturgeschichten.
Kapitel 7 ist abschließend als methodisch selbstbewusster Vorschlag zu lesen, dem seit 1900 erkennbaren westlichen Boom universalistisch perspektivierter Architektur-/Kunstgeschichten, die unter kolonialen und imperialen Vorzeichen auch erfolgreich exportiert wurden, im Zeitalter der medialen Globalisierung praktisch zu begegnen. Es eröffnet "einen fragmentarischen Ausblick auf eine Globalgeschichte der Architektur [...], die nicht entlang von Epochen, Ländern oder Stilen, sondern an einzelnen Bauten und deren globalen Netzwerken erzählt werden könnte" (245). Faszinierend speziell und dennoch in der methodischen Fragestellung und einigen historischen Kontexten verbunden lesen sich denn auch die Beiträge von so verschiedenen Orten wie Pekings "Sommerpalast", das Senate House von Madras, die Zacherlfabrik in Döbling oder die Rekonstruktionen Angkor Wats sowie Abu Simbels.
Der Band stellt daher nicht nur die detaillierte Dokumentation einer verdienstvollen Ausstellung zu einer für das Fach Kunstgeschichte nach wie vor aktuellen Fragestellung dar - wie bildet Architektur/Kunst Weltverständnisse ab und welches Weltverständnis spiegelt sich in der Architektur-/Kunsthistoriografie? Er ermöglicht Fachleuten und interessierten Laien auch einen breit, praktisch und ästhetisch ansprechend angelegten Überblick darüber, wie sich das Architekturhandbuch in den letzten 300 Jahren zum Welterklärungsinstrument mauserte bzw. an diesem Anspruch scheiterte. Dank der breit gefächerten Expertise und kritisch epistemologischen Ansätzen der beteiligten Autoren und Autorinnen, ergibt sich insgesamt ein lesenswert vielschichtiger und methodologisch selbst-reflexiver Blick auf (die) Weltgeschichten der Architektur.
Anmerkung:
[1] Die einzige Autorin, die im ersten Kapitel figuriert, ist Doris Heyden mit einem Beitrag zu "Pre-columbian Architecture of Mesoamerica" in der "Storia universale dell'architetture" (herausgegeben von Pier Luigi Nervi, 1972). Da ihr Beitrag der einzige in dieser Publikation ist, der den europäischen, mediterranen und orientalischen Raum transatlantisch überschreitet, erscheint Heyden als Vorreiterin für zunehmend sichtbare weibliche Kunst-/Architekturhistorikerinnen in der Nachkriegszeit. Sie konnten sich mit einem Fokus auf "marginale" Regionen (Lateinamerika, Afrika, Südasien, indigene Völker verschiedener Weltteile) aus Sicht der früher institutionell erfassten und männlich dominierten Forschungsregionen (Europa, Nordamerika, Ostasien, Indien) einen Namen machen.
Franziska Koch