Olav Heinemann: Das Herkommen des Hauses Sachsen. Genealogisch-historiographische Arbeit der Wettiner im 16. Jahrhundert (= Schriften zur sächsischen Geschichte und Volkskunde; Bd. 51), Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2016, 474 S., 62 Farb-, s/w-Abb., ISBN 978-3-86583-983-1, EUR 80,00
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Im Zentrum der Arbeit steht die Untersuchung der von den Wettinern im 16. Jahrhundert angeregten und in Auftrag gegebenen Werke der genealogisch-historischen Forschungen. Heinemann will die Formen ihrer Instrumentalisierung und die Gründe für ihre Wirkmächtigkeit herausarbeiten (12). Deshalb interessieren ihn die mit den Genealogien verbundenen Intentionen und Vorstellungen von der Abstammung der Herzöge und Kurfürsten von Sachsen. Es geht ihm nicht darum, fiktionale oder nachweislich falsche genealogische Konstruktionen aufzudecken, sondern darum, deren Funktion, Bedeutung und Wirkung im 16. Jahrhundert herauszuarbeiten. Sein Ziel ist es, einen Beitrag zum dynastischen Selbstverständnis der Wettiner zu leisten und die Mechanismen der Produktion von Wissen zur Herrschaftslegitimation aufzuzeigen.
Im ersten Hauptteil seiner Untersuchung beschreibt Heinemann die Entwicklung der genealogischen Arbeiten am Hof der ernestinischen Kurfürsten Friedrich III. (1486-1525), Johann (1525-1532) und Johann Friedrich I. (1532-1547). Nach der Niederlage im Schmalkaldischen Krieg mussten die Ernestiner die Kurwürde an die albertinische Linie des Hauses Sachsen abgeben. Nach Heinemann wurde die genealogische Arbeit unter Kurfürst Friedrich durch die von Maximilian I. unternommenen Bemühungen um das 'Gedechnus' der Habsburger angeregt. Außerdem seien die Rolle der Humanisten am ernestinischen Hof und deren Einfluss auf die Historiografie zu berücksichtigen. Gelehrte wie Georg Spalatin haben als Erzieher der Prinzen und Historiker des Hauses Sachsen wesentlich dazu beigetragen, die Dynastie mit den Ahnen zu einer Gemeinschaft zu verbinden. Die Identität der Fürsten speiste sich maßgeblich aus ihrem Bewusstsein, ein Mitglied der Lebenden und Toten des Hauses zu sein (51). Die wichtigste Referenz für die Arbeit an den Ahnenreihen der Wettiner im 16. Jahrhundert war die weit verbreitete "Meyssenische Chronica" aus dem ersten Drittel des 15. Jahrhunderts, in der schon die Abstammung der Wettiner von Widukind postuliert wurde.
Ausführlich beschreibt Heinemann bei wem sich Georg Spalatin und Friedrich III. über die Geschichte Sachsens und der Wettiner informiert haben: bei geistlichen und weltlichen Fürsten einerseits sowie bei Gelehrten andererseits. Schließlich stellt er drei zentrale Themen der von den Experten geleisteten Arbeit vor: die Entwicklung der wettinischen Ahnenreihe, die Betonung der Verwandtschaft mit den Ottonen und die Darstellung der origio gentis des sächsischen Volkes. Ob und wie die Beschäftigung mit der dynastischen Vergangenheit auch in die Konzeption der Heraldik der Wettiner Eingang gefunden hat, erläutert Heinemann anschließend am Beispiel von Wappenschöpfungen und dem Stammwappen.
Der zweite Hauptteil behandelt die Arbeit an der dynastischen Memoria unter den albertinischen Kurfürsten Moritz (1547-1553), August (1553-1586) und Christian (1586-91). Vorangestellt ist diesem Teil eine Beschreibung der Entwicklung der Beziehungen der beiden wettinischen Linien nach der Teilung von 1485 bis zum Ende des Schmalkaldischen Krieges. Kaiser Karl V. entzog Kurfürst Johann Friedrich I. die Kurwürde und ernannte den Albertiner Moritz, der auf der Seite der Habsburger gekämpft hatte, zum Kurfürsten. Heinemann verfolgt dann weiter, wie die Albertiner - nachdem sie die Führungsposition im Haus Sachsen errungen hatten - versucht haben, diese Position "durch die Durchsetzung der alleinigen Verfügungsgewalt über die Ahnen" zu festigen (232). Zu diesem Zweck haben sie auch Bauten errichten lassen, wie das von Kurfürst August in Auftrag gegebene Moritzmonument in Dresden, die Neugestaltung der Grablege ('domus sepulturae') auf dem Petersberg bei Halle im Jahr 1566, die Anlage einer Ahnengalerie auf Schloss Augustusburg und die 1563 fertiggestellte Grablege im Dom zu Freiberg.
Wichtig für die permanente Herstellung des dynastischen Selbstverständnisses blieb aber auch unter den Albertinern die Geschichtsschreibung. Heinemann stellt deshalb die Historiker am albertinischen Hof vor und beschreibt die Kennzeichen der Historiografie. Deren Hauptmerkmal war die Übernahme und punktuelle Anpassung der vorhandenen und noch während der Amtszeit der Ernestiner als Kurfürsten angefertigten genealogischen Arbeiten. Im Hinblick auf die Ahnenreihe übernahmen die Forscher Georg Agricola und Johann Krauß die in Georg Spalatins "Chronica und Herkommen" (gedruckt 1541) veröffentlichte Version, modifizierten sie jedoch, durch die Fokussierung "auf die genealogische Herleitung des amtierenden Kurfürsten August aus dem kurfürstlichen Geschlecht" ab Kurfürst Friedrich II. (1428-1464) in agnatischer Reihung (255). Auch Georg Fabricius "Originium Saxonicarum libri VII" (gedruckt 1597), brachte inhaltlich wenig Neues, war aber in der Form neu, denn er verwendete "als Erster eine anspruchsvolle und wissenschaftliche Darstellungsweise" (267).
In den 1580er-Jahren hat Petrus Albinus die Ahnenreihe der Wettiner bis in die Zeit vor Christi Geburt geführt und um neunzehn Ahnen erweitert (283/84), die er u.a. in den 'Gesta Danorum' des Saxo Grammaticus und in der Geschichte der englischen Kirche des Beda Venerabilis 'entdeckt' hatte. Die neue Ahnenreihe begann mit einem König Hartharius (um 80 v.Chr.) und löste den bis dahin ältesten Ahnen (König Sieghard) ab. Diese Ahnenreihe wurde nicht nur gedruckt sondern auch in dem auf Veranlassung von Kurfürst Christian 1589-91 gebauten Stallhof (Langer Gang bzw. Langer Saal) präsentiert.
Heinemann hebt die folgenden Funktion der Ahnenforschung hervor: Die Ernestiner wollten den Rang ihrer Dynastie im Reich anheben und ihre auf Sachsen bezogene Führungsrolle absichern; dabei scheuten sie auch die Konkurrenz zu Habsburg nicht (319). Unter den Albertinern Moritz und August hingegen waren gute Beziehungen zu den Habsburgern ein wichtiges Politikziel. August musste sich im Konflikt mit den Ernestinern durchsetzen und benutze dazu die Genealogien, um die Legitimität seiner Kurfürstenwürde zu unterstreichen.
Heinemann hat die Kenntnisse über die Legitimation von fürstlicher Herrschaft durch den Einsatz von genealogisch-historischen Argumenten am Beispiel der Kurfürsten von Sachsen im 16. Jahrhundert erweitert. Er kann zeigen, wie die Wettiner mittels verschiedener Praktiken (Historiografie, Heraldik, Bauten) ihre Herrschaft in der Gegenwart durch Rekurs auf Abstammung und Verweis auf ihre seit Jahrhunderten belegten dynastischen Qualitäten abgesichert haben. Doch Heimann liefert nicht nur eine erste und nützliche Bestandsaufnahme der genealogisch-historischen Arbeit der Wettiner, sondern versucht auch die Gesamtstrategie der wettinischen Linien, ihre Ahnenreihen für das dynastische Selbstverständnis und Selbstbewusstsein einzusetzen, zu erfassen.
Jörg Rogge