Helmut Müller-Enbergs / Armin Wagner (Hgg.): Spione und Nachrichtenhändler. Geheimdienst-Karrieren in Deutschland 1939-1989, Berlin: Ch. Links Verlag 2016, 375 S., 11 s/w-Abb., ISBN 978-3-86153-872-1, EUR 25,00
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Ein ganzes Panorama der "geheimen Geschichte" des 20. Jahrhunderts in Deutschland entfaltet der hier zu besprechende Sammelband. Dieser vereint zehn Lebensläufe nicht nur "klassischer" Spione, sondern auch von freien Nachrichtenhändlern, Propagandafachleuten und Ministerialbeamten (7). Die Schwerpunkte liegen dabei auf den Jahren 1939/45 bis 1989, wobei es der biografische Zugang ermöglicht, "der Geschichte ins Gesicht [zu] sehen" (31). Nach Meinung der Herausgeber Helmut Müller-Enbergs und Armin Wagner erscheint das Buch in einer "Sattelzeit" der Geheimdienstforschung. Derzeit seien auf vielen Ebenen Öffnungsbestrebungen im Gange [1], die eine "Initialzündung" erwarten lassen (30). Hierzu leistet das Buch "Spione und Nachrichtenhändler" einen gewichtigen Beitrag: einerseits durch Aufarbeitung neuer Primärquellen aus US-amerikanischen und bundesdeutschen Archiven, andererseits durch eine gründliche De-Mystifizierung der nachrichtendienstlichen "Schattenwelt". Deutlich werden die Unzahl an Motiven für Spionage, der mitunter dysfunktionale Konkurrenzkampf zwischen bürokratischen Apparaten, die bruchlose Kontinuität von Karrieren und der Einfluss von Kameradennetzwerken.
Als erster eingeführt wird Hermann Baun (1897-1951), Osteuropaexperte bei der Abwehr, der sich nach 1945 praktisch ebenbürtig mit dem Leiter der Generalstabs-Abteilung Fremde Heere Ost, Reinhard Gehlen, in US-amerikanische Dienste begab. Obwohl Baun in seinem neuen Aufgabenbereich gewinnbringend für die US-Dienste arbeitete, geriet er gegenüber Gehlen ins Hintertreffen. Letzterer avancierte 1946 an die Spitze der Organisation Gehlen und stand zwischen 1956 und 1968 dem daraus hervorgegangenen Bundesnachrichtendienst (BND) als erster Präsident vor.
Selbst in dem illustren Personenkreis, der in "Spione und Nachrichtenhändler" porträtiert wird, nimmt Josef Adolf Urban (1897-1973) eine Sonderstellung ein. Der ehemalige Mitarbeiter im Sicherheitsdienst der SS befand sich im Sold von insgesamt zehn Geheimdiensten, denn Urban war ein Nachrichtenhändler par excellence. Er baute eine Gruppe von Beschaffern auf, die im besetzten Nachkriegs-Österreich den Papierabfall sowjetischer Dienststellen nach Beutedokumenten durchsuchte.
Der Historiker, "Volkstum"-Experte und NS-Geheimdienstler Heinrich von zur Mühlen (1908-1994) spielte eine wichtige Rolle als "Informationsleiter" bei der 1948 gegründeten Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit. Dabei handelte es sich um eine der "schillerndsten Gruppierungen des frühen deutsch-deutschen Kalten Krieges" (109). Mühlen, den seit jungen Jahren ein "kompromissloser Antibolschewismus" geprägt hatte (136), war auf allen Feldern der Spionage und Subversion gegen die DDR tätig.
Der einzige nicht-deutsche Fall, der in "Spione und Nachrichtenhändler" behandelt wird, ist Maurice Picard (1907-1979). Dieser hatte während des Zweiten Weltkriegs sowohl zum französischen Widerstand als auch zur Geheimen Staatspolizei (Gestapo) Beziehungen unterhalten. Nach 1945 stieg er zum Präfekten des Departements Haut-Rhin auf, ehe es 1968 zur Verhaftung und Verurteilung wegen Mehrfachspionage kam.
Der Werdegang von Martin Riedmayr (1896-1989) reichte vom Engagement im Freikorps Epp und im Bund Oberland über eine Polizeikarriere in der Weimarer Republik, Mitläufertum während der NS-Zeit bis hin zur Tätigkeit als "Sonderverbindung" (Informant) des BND. 1954 wurde Riedmayr schließlich Präsident des Bayerischen Landesamts für Verfassungsschutz, eine Funktion, die er sechs Jahre ausfüllte.
Eine "graue Eminenz" schlechthin war Ewert von Dellingshausen (1909-1996). Während der 1950er-Jahre und in den frühen 1960er-Jahren war er innerhalb des Bundesministeriums für gesamtdeutsche Fragen für Abwehrarbeit zuständig, insbesondere was "psychologische Kriegsführung" anging. Der Baltendeutsche betrachtete den "Kommunismus als Grundübel" und pflegte enge Kontakte zum BND sowie zum Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV).
1964 erhängte sich der Präsident des Bundesdisziplinarhofs, Kurt Behnke (1899-1964). Dem Selbstmord vorangegangen war eine Kontroverse um moralisches Fehlverhalten. Darüber hinaus stand Behnke seit Längerem unter Spionageverdacht. BND-Präsident Gehlen hatte ab Mitte der 1950er-Jahre selbst zeitweise die operative Leitung der Ermittlungen inne. Beweise wurden keine gefunden (244). Nach heutigen Erkenntnissen war Behnke zwar kein Agent des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR (MfS), "doch saß die HV A [2] über lange Jahre mit an seinem Schreibtisch, wenn nicht an seinem Bett" (245).
Mit Hans Joachim Bamler (1925-2015) wird der erste Resident des MfS in Frankreich porträtiert. Bamler war der Führungsoffizier des Ehepaars Peter und Renée Kranick, das in das NATO-Hauptquartier in Paris eingeschleust worden war - als sich dort noch der Sitz des westlichen Bündnisses befand. Nach Meinung eines Angehörigen der französischen Spionageabwehr war es nicht irgendein Vorgang: "Ihre Geschichte ist eine der bedeutendsten unserer Zeit." (250)
Ein Beispiel für besonders erfolgreiche Spionagetätigkeit des MfS zeigt sich darin, dass der langjährige Mitarbeiter und dann stellvertretende Chef des Militärischen Abschirmdienstes (MAD), Joachim Krase (1925-1988), nie enttarnt wurde. Von 1969 bis Mitte der 1980er-Jahre lieferte der Selbstanbieter Interna aus dem "Herzen" des westdeutschen Militärgeheimdienstes. Als Motiv dürfte insbesondere berufliche Unzufriedenheit eine Rolle gespielt haben.
Den wohl ungewöhnlichsten Fall des Samples stellt Hildegard Zickmann (1925-2010) dar. Die nach DDR-Maßstäben gute sozialistische Staatsbürgerin rutschte wegen ihres Sohnes ins Spionagefach. Dieser war 1977 in die Bundesrepublik ausgereist, hatte aber auch dort nicht Fuß fassen können. Auf seinen Vorschlag hin und um ihn finanziell unterstützen zu können, ließ Zickmann zwischen 1982 und 1986/87 Informationen über das sowjetische Militär dem US Army Intelligence and Security Command zukommen. 1986 kam das MfS infolge einer Postkontrolle auf ihre Spur und investierte beträchtliche Ressourcen in die Aufdeckung.
Zusammengefasst offeriert "Spione und Nachrichtenhändler" viel Neues zu wenig bekannten Akteuren der zweiten Reihe und zum grundsätzlich ähnlichen Funktionieren von Geheimdiensten in unterschiedlichen Systemen. Deutlich wird auch, dass hierbei der menschliche Faktor eine zentrale Rolle spielt. Auch wenn die Vielzahl an Daten und Akronymen den Lesefluss mitunter behindert, dürfte das Buch bald zur Standardliteratur der Intelligence Studies gehören.
Anmerkungen:
[1] Ausgehend von einer Liberalisierung des US-amerikanischen Archivwesens ab 1998 im Zuge des Nazi War Crimes Disclosure Acts, der die CIA zur Offenlegung von Aktenbeständen zwang, sind ähnliche Entwicklungen auch auf deutscher Seite im Gange: Das BfV legte 2015 eine Studie zur Wiederbeschäftigung von NS-Personal vor. Der BND richtete 2010 eine Forschungs- und Arbeitsgruppe zur eigenen Geschichte ein. Seit 2011 untersucht eine Unabhängige Historikerkommission darüber hinaus die Historie der Organisation Gehlen.
[2] Die Hauptverwaltung Aufklärung (HV A) war innerhalb des MfS für Auslandsspionage zuständig.
Thomas Riegler