Rezension über:

Bettina Alavi / Martin Lücke (Hgg.): Geschichtsunterricht ohne Verlierer!? Inklusion als Herausforderung für die Geschichtsdidaktik, Schwalbach: Wochenschau-Verlag 2016, 133 S., ISBN 978-3-7344-0271-5, EUR 11,80
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Rezension von:
Benjamin Städter
Didaktik der Gesellschaftswissenschaften, RWTH Aachen
Redaktionelle Betreuung:
Christian Kuchler
Empfohlene Zitierweise:
Benjamin Städter: Rezension von: Bettina Alavi / Martin Lücke (Hgg.): Geschichtsunterricht ohne Verlierer!? Inklusion als Herausforderung für die Geschichtsdidaktik, Schwalbach: Wochenschau-Verlag 2016, in: sehepunkte 17 (2017), Nr. 1 [15.01.2017], URL: https://www.sehepunkte.de
/2017/01/29078.html


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Bettina Alavi / Martin Lücke (Hgg.): Geschichtsunterricht ohne Verlierer!?

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Das 2008 in Kraft getretene internationale Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen fordert nicht nur Bildungspolitikerinnen, Bildungspolitiker und Schulen dazu auf, sich intensiv mit der Herausforderung der Inklusion im schulischen Raum auseinanderzusetzen. Darüber hinaus ist es nun vermehrt die Aufgabe der Fachdidaktiken, domänenspezifische Theorien und Konzepte zu entwickeln, wie inklusives Lernen in den einzelnen Schulfächern gelingen kann. Nachdem in den vergangenen Jahren erste geschichtsdidaktische Überlegungen formuliert wurden [1], stellt der vorliegende Sammelband eine Zusammenschau der Beiträge dar, die 2014 auf einem Panel des 50. Historikertages diskutiert wurden.

In ihrer Einleitung umreißen Bettina Alavi und Martin Lücke drei grundlegende Aufgaben, vor denen die Geschichtsdidaktik im Zuge der Inklusionsdebatte steht: Zum einen muss sich ein inklusiver Geschichtsunterricht den Herausforderungen des zieldifferenten historischen Lernens stellen. Des Weiteren gilt es, barrierefreie Quellen in Leichter Sprache bereitzustellen, wenn denn Quellen weiterhin im Zentrum des Geschichtsunterrichts stehen sollen. Schließlich ist es die Aufgabe der Geschichtsdidaktik, ein kleinschrittiges Raster für die domänenspezifischen Kompetenzen zu erarbeiten, um den inklusiven Unterricht in Zukunft zugleich kompetenzorientiert und zieldifferent konzipieren und durchführen zu können.

Herausgeberin und Herausgeber betonen, dass den einzelnen Aufsätzen ein weiter Inklusionsbegriff zugrunde liegt, der über den Exklusionsfaktor Behinderung hinausgeht und auch Ethnie, soziale Herkunft oder Geschlecht mit einbezieht. Dies ist einerseits bereichernd, fächern die Autoren doch so ein sehr breites Repertoire an Theorien und Konzepten auf. Andererseits stellt sich Leserinnen und Lesern die Frage, ob für die Verschiedenartigkeit der Inklusionsfelder nicht auch ganz unterschiedliche theoretische Ansätze und pragmatische Konzepte gebraucht werden, mit denen Geschichtslehrerinnen und -lehrer der Diversität im Klassenraum begegnen können.

Die einzelnen Beiträge des Sammelbandes teilen sich in drei thematische Abschnitte: Zunächst nähern sich Oliver Musenberg, Bärbel Völkel und Martin Lücke den Grundlagen zu einer inklusiven Geschichtsdidaktik auf einer theoretischen Ebene. Inhaltlich stechen die Überlegungen in diesem Abschnitt dadurch hervor, dass sie einzelne Stränge der bisherigen geschichtsdidaktischen Diskussion um inklusives historisches Lernen aufgreifen und weiterdenken. So nimmt Oliver Musenberg in seinem Aufsatz den von Martin Lücke entwickelten Ansatz einer "eigen-sinnigen Aneignung von Geschichte" auf und entwickelt auf der Grundlage einer begriffsgeschichtlichen Annäherung ein Konzept des historischen Lernens, das dessen subjektive Dimension in den Vordergrund stellt und somit in der Tradition der Idee einer Subjektorientierten Geschichtsdidaktik stehen mag. [2]

Im zweiten Abschnitt des Sammelbandes präsentieren Sebastian Barsch und Bettina Alavi empirische Überlegungen zum Thema Inklusion, die sich zum einen an der bisherigen (spärlich gesäten) empirischen Forschung zu diesem Themenkomplex, zum anderen an einer konkreten Unterrichtsstunde orientieren. Barsch verweist in seinem Beitrag auf Befunde amerikanischer Studien, die aufzeigen können, dass ein höherer Grad an Instruktion durch die Lehrkraft das historische Lernen von Schülerinnen und Schülern mit "learning disabilities" positiv beeinflussen kann. Daraus leitet der Autor ein Plädoyer für neue geschichtsdidaktische Überlegungen bezüglich der Methodik eines inklusiven Geschichtsunterrichts ab.

Unter dem Titel "Pragmatik" wenden sich Christoph Hamann und Birgit Wenzel der Rahmenlehrplan-Entwicklung in Berlin und Brandenburg und schließlich Heike Wolter der Integration der subjektorientierten Disability Studies in den Geschichtsunterricht zu. Inklusion, so Wolter, heißt nicht nur Teilhabe aller, sondern fordert ebenso eine Thematisierung gesellschaftlicher Minoritäten und ihrer Geschichte(n). Anstelle der bisherigen sehr anekdotenhaften und personalisierten Thematisierung von Behinderung im Geschichtsunterricht (etwa am Beispiel der "Euthanasie unter der Herrschaft des Nationalsozialismus") gelte es, die Fokussierung der Behindertengeschichte auf Diskriminierungs- und Exklusionserfahrungen aufzulösen und im Sinne einer Disability History zu erweitern, um so etwa auch Emanzipationsentwicklungen in den Blick zu nehmen. Somit wird solch ein Themenschwerpunkt anschlussfähig an allgemeinere historische Themenbereiche wie etwa Partizipationsbestrebungen und Minoritätserfahrungen anderer gesellschaftlicher Gruppen.

Die unterschiedlichen Zugriffe, die die drei Schwerpunkte Theorie, Empirie und Pragmatik verlangen, bringen es ebenso wie der dem Band zugrundeliegende breite Inklusionsbegriff mit sich, dass die einzelnen Aufsätze in ihrer Diversität nebeneinander stehen. Stellenweise wünschen sich Leserin und Leser einen deutlicheren roten Faden, den der recht schillernde Begriff Inklusion nur in bedingtem Maße geben kann. Die Spannweite zwischen solch unterschiedlichen Themensträngen wie einer im Geschichtsunterricht zu thematisierenden inklusiven Erinnerungskultur, die auch die Geschichtskultur Homosexueller umfasst, und den methodischen Prämissen für das historische Lernen von Schülerinnen und Schülern mit einer Lernbehinderung, ist insgesamt sehr breit.

Hier wird deutlich, dass die didaktische Diskussion um den inklusiven Geschichtsunterricht noch an ihrem Anfang steht. Strukturierende Begriffe und Konzepte, die die thematische Vielfalt des Komplexes zusammenbinden, werden sich erst in den kommenden Jahren etablieren. Als umso bedeutsamer lässt sich der Stellenwert des vorliegenden Bandes für die didaktische Forschung einschätzen. Trotz einiger ärgerlicher Tippfehler, die vor allem in den Zitaten aus der englischsprachigen Literatur das Verständnis der instruktiven Überlegungen stören, ist es dem Band zu wünschen, dass die dort verhandelten Anregungen und Konzepte in der Zukunft weitergedacht werden, um so historisches Lernen in inklusiven Settings zu unterstützen.


Anmerkungen:

[1] Etwa: Sebastian Barsch / Wolfgang Hasberg (Hgg.): Inklusiv - Exklusiv. Historisches Lernen für alle. Schwalbach / Ts. 2014. vgl. hierzu die Rezension in sehepunkte 15 (2015), Nr. 6, URL: http://www.sehepunkte.de/2015/06/25684.html

[2] Heinrich Ammerer / Thomas Hellmuth / Christoph Kühberger (Hgg.): Subjektorientierte Geschichtsdidaktik. Schwalbach / Ts. 2015. vgl. hierzu die Rezension in sehepunkte 16 (2016), Nr. 10, URL: http://www.sehepunkte.de/2016/10/27698.html

Benjamin Städter