Rezension über:

Grit Jilek: Nation ohne Territorium. Über die Organisierung der jüdischen Diaspora bei Simon Dubnow (= Schriftenreihe der Sektion Politische Theorien und Ideengeschichte in der Deutschen Vereinigung für politische Wissenschaft; Bd. 24), Baden-Baden: NOMOS 2013, 524 S., ISBN 978-3-8329-7738-2, EUR 79,00
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Joshua M. Karlip: Tragedy of a Generation. The Rise and Fall of Jewish Nationalism in Eastern Europe, Cambridge, MA / London: Harvard University Press 2013, X + 348 S., 16 s/w-Abb., ISBN 978-0-674-07285-5, GBP 33,95
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Rezension von:
Lutz Fiedler
The Hebrew University of Jerusalem
Empfohlene Zitierweise:
Lutz Fiedler: Simon Dubnow und seine Schüler. Über Aufstieg und Untergang des jüdischen Diasporanationalismus (Rezension), in: sehepunkte 17 (2017), Nr. 3 [15.03.2017], URL: https://www.sehepunkte.de
/2017/03/27678.html


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Simon Dubnow und seine Schüler. Über Aufstieg und Untergang des jüdischen Diasporanationalismus

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Es gibt zwei Momente aus dem Leben von Simon Dubnow, dem Autor der Weltgeschichte des jüdischen Volkes, die zugleich die jüdische Geschichte in der Moderne im Allgemeinen symbolisieren. Den ersten erinnert Dubnow selbst in seiner Autobiografie Buch des Lebens. Hier beschreibt er sich als gerade 13-jährigen Jungen im weißrussischen Mstislawl an der Schwelle von religiöser Ausbildung zu säkularem Wissen. "Vormittags hörte ich unkonzentriert die Talmud-Lektion an," hebt Dubnows Erzählung über seine traditionelle Cheder-Erziehung durch seinen Großvater an. "Kaum aber hatte Großvater den letzten Satz beendet, lief ich bereits in die Schule, um nicht zu spät zum Unterricht zu kommen. (...) Großvater ließ gramvoll den Kopf hängen, spürte er doch, dass ich aus der alten in eine neue, ihm fremde Welt überzuwechseln begann, die für eine jüdische Seele viele Gefahren barg." [1] Dubnow berichtet hier vom Eintritt der russischen Judenheiten in die Moderne, ihrem Übergang vom sakralen Gesetz in die säkulare Geschichte. Die andere Momentaufnahme entstammt nicht den Erinnerungen Dubnows, sondern findet sich in den autobiografischen Aufzeichnungen des polnisch-jüdischen Juristen Raphael Lemkin. Auf seiner Flucht vor den Nationalsozialisten, die ihn über Schweden in die Vereinigten Staaten von Amerika führte, war er zu Beginn des Jahres 1940 mit dem inzwischen in Riga lebenden Historiker Dubnow zusammengetroffen. Beide diskutierten nun Lemkins Plan einer juristischen Ahndung von Völkermord, der vor dem Hintergrund der bedrückenden Lage der europäischen Judenheiten dringliche Aktualität erhielt. "Das Verstörendste an dieser Art des Mordens ist, dass es in der Vergangenheit nicht als ein Verbrechen galt, wenn große Menschenmassen deren Opfer waren, die alle zur selben Nationalität, Ethnie oder Religion gehören," unterstützte Dubnow Lemkins Vorhaben. [2] Nur wenige Monate später hatten die deutschen Truppen auch Riga erreicht. "Schreibt alles auf!", waren der Überlieferung nach die letzten Worte Dubnows, bevor er im Dezember 1941 im Ghetto von Riga ermordet wurde.

Zwei in den letzten Jahren erschienene Bücher haben sich Leben und Werk dieses großen Historikers der jüdischen Geschichte angenommen und die Wirkung wie den Untergang seiner historischen und politischen Perspektive im Zeichen von Nationalsozialismus und Judenvernichtung zum Thema gemacht. Nation ohne Territorium. Über die Organisierung der jüdischen Diaspora bei Simon Dubnow heißt die überarbeitete Fassung von Grit Jileks Dissertation an der Freien Universität Berlin zu Leben und Wirken des Historikers, die die Genese und Ausformung von dessen Theorie zum jüdischen Autonomismus sowie die Geschichte seines politischen Engagements für die Anerkennung einer jüdisch-nationalen Diasporaexistenz überzeugend darstellt. Joshua Karlips Studie The Tragedy of a Generation. The Rise and Fall of Jewish Nationalism in Eastern Europe von 2013, die auf seine Dissertation am Jewish Theological Seminary of America (New York) zurückgeht, rückt wiederum detailreich und informiert die Generation von Dubnows Anhängern und Schülern ins Zentrum. Sie waren zwar im Geist von Diasporanationalismus und Autonomismus aufgewachsen, sahen sich aber vor dem Hintergrund des um sich greifenden Antisemitismus und Nationalsozialismus gezwungen, das Scheitern ihrer vormaligen Hoffnungen zu konstatieren.

Jilek sucht in ihrer im Nomos-Verlag erschienenen Monografie zwei unterschiedliche Zugänge zum Leben von Simon Dubnow miteinander zu verschränken: einerseits eine werkgeschichtliche Gesamtschau, die die Genese von Dubnows historiografischer Deutung der Juden als einer säkularen Diasporanation beleuchtet; andererseits Dubnows Beteiligung am politischen Kampf um Anerkennung der Juden als nicht-territoriale Nation im Zeitalter von Territorialstaat und Nationalismus. Um die Entstehung des Narrativs einer Zeit und Raum überdauernden jüdischen Nation nachzuvollziehen, verfolgt Jilek die biografische und generationelle Entwicklung Dubnows in ihrem ersten Kapitel bis zu dessen frühen Jugendjahren im Kontext der russländischen Judenheiten im ausgehenden 19. Jahrhundert zurück (31-145). Zeit seines Lebens war er ein Anhänger von Emanzipation, Liberalismus und Modernität, in denen er die gesellschaftlichen Voraussetzungen wie den einzigen Garanten einer jüdischen Teilhabe an der nicht-jüdischen Mehrheitsgesellschaft ausmachte. Dem historischen Prozess einer Aufgabe jüdischer Kollektivität und nationalkultureller Selbstverwaltung, mit dem die Emanzipation der Juden in Frankreich eingeleitet und ihre Verwandlung in gleichberechtigte Staatsbürger vollzogen wurde, wollte sich Dubnow jedoch nicht lange anschließen. Bis zu Dubnows Briefen über das Alte und neue Judentum aus dem Jahre 1897 rekonstruiert die Autorin die Ausbildung seiner Deutung der jüdischen Geschichte als Weltgeschichte "wandernder Zentren" jüdischer Autonomie in der Diaspora zurück. Dabei zeigt sie, in welch hohem Maße Dubnows Konzept des Autonomismus von der historischen Erfahrung des Kahals - den Institutionen jüdischer Gemeindeselbstverwaltung innerhalb der vormodernen Adelsrepublik Polen-Litauen - zehrte. Während im ersten Kapitel der Arbeit noch Dubnows eigene Forschungen zur Geschichte des Kahals und seiner über die einzelnen Gemeinden hinausgehenden Institution wie dem Waad Arba Arazot (Vierländerrat) in den Blick genommen werden, legt sie im zweiten Kapitel über "Jüdische Autonomie und Autonomismus" (146-238) dar, wie die vormodernen Formen der Selbstverwaltung für Dubnow wegweisend wurden, noch im Rahmen des russländischen Reiches für die Anerkennung der hiesigen Judenheiten als eigenständiger "säkularisierter Nation" mit entsprechenden Kollektivrechten einzutreten. In Dubnows Tätigkeit für das "Komitee der Nationalisierung", das 1901 in Odessa gegründet wurde, erkennt sie schließlich den "Einstieg des Historikers in die Realpolitik" (198-201).

Die Hinwendung zum "politischen Dubnow" und zu dessen Ringen um die rechtliche Anerkennung der diasporischen Juden als "Nation ohne Territorium" gehört zu den spannendsten Abschnitten der Studie. Das dritte Kapitel "Autonomie als moderne Taktik der jüdischen Diaspora-Politik" (239-361) liest sich gleichsam als ein Überblick zur jüdischen Politik von der Jahrhundertwende bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, der entlang von Dubnows politischem Wirken ikonische Ereignisse ebenso wie zentrale Protagonisten der jüdischen Geschichte miteinander verschränkt. Ausgehend von Dubnows Gründung der Jüdischen Folkspartej (1905-1906), wird dessen Beitrag für das Helsingforser Programm (1906) der Zionistischen Organisation vorgeführt, um schließlich den Blick auf die Bedeutung seiner Ideen im Gefolge des Ersten Weltkriegs zu richten. Nicht zu Unrecht hebt Jilek hervor, dass gerade das Programm des 1919 ins Leben gerufenen Comité des Délégations Juives den Ideen von Autonomismus und Diasporanationalismus am nächsten kam (269-312). War das Comité auf der Pariser Friedenskonferenz doch mit dem Anliegen aufgetreten, eine Anerkennung der Juden als nicht-territorialer Nation und damit einhergehend einen international garantierten Minderheitenschutz innerhalb der neugegründeten Nationalstaaten Ostmitteleuropas zu erwirken. Die enge Freundschaft, die Dubnow mit Leo Motzkin, dem Präsidenten des Comité verband, fand zudem in den Bemühungen Ausdruck, eine einigende Repräsentanz der weltweiten Judenheiten aufzubauen (323-361). In Anknüpfung an den historischen Vierländerrat (Waad Arba Arzot) hatte etwa Motzkin vorgeschlagen, einen neuen jüdischen Länderrat - einen Waad HaArzot - ins Leben zu rufen (290-293). Es ist dieses Ringen Dubnows um die Etablierung einer "Weltorganisation für ein Weltvolk", das auf der Züricher Minderheitenkonferenz 1927 noch am Widerspruch der westlichen, sich kaum national begreifenden Judenheiten scheiterte, dem Jilek ein umfangreiches Kapitel widmet. Auf knapp hundert Seiten wird Dubnow hier als geistiger Impulsgeber und federführender Repräsentant eines 21-köpfigen Vorbereitungskomitees um Nachum Goldmann, Stephen Wise, Jitzhak Gruenbaum und vieler anderer politischer Emissäre präsentiert, deren Engagement mit der Gründung des Jüdischen Weltkongresses im August 1936 schließlich zum Erfolg geführt wurde.

Dubnow selbst war es aufgrund einer Krankheit nicht vergönnt, an der Genfer Eröffnungskonferenz teilzunehmen. Doch schon das von Jilek dokumentierte Grußwort, das der Historiker in Genf vortragen ließ, war von dem Schatten des Nationalsozialismus gekennzeichnet, der sich über die Freude des eigenen politischen Erfolgs gelegt hatte. Seit seiner Gründung bestand die Tätigkeit des Jüdischen Weltkongresses deshalb vorrangig in dem zunehmend verzweifelteren Bemühen um die Emigration und Rettung der europäischen Judenheiten. Seine Aktivitäten standen von Anbeginn im Zeichen des Untergangs des europäischen Judentums. Es ist dieser Zusammenbruch der mit dem Namen von Simon Dubnow verbundenen Hoffnungen auf die Verwirklichung nationalkultureller Autonomie für die diasporischen Judenheiten, die noch von dem Erwartungshorizont eines Fortschrittsprozesses der europäischen Mehrheitsgesellschaft zehrten, den Joshua Karlip in seinem Buch The Tragedy of a Generation ins Zentrum rückt. Gegenstand seiner herausragenden Arbeit ist deshalb die "zweite Generation von Diasporanationalisten und Yiddishisten" (11), die sich als Schüler von Dubnow zuerst dessen politischen und kulturellen Selbstverständnisses angeschlossen hatten, angesichts des Aufstiegs von Nationalsozialismus und Antisemitismus einerseits, des Zusammenbruchs des europäischen Liberalismus andererseits, nun aber zusehends dessen Scheitern konstatierten mussten. Oyfn Sheydveg - Am Scheideweg - hieß die Anthologie, die 1939 zum ersten Mal in Paris aufgelegt wurde und in der die Schüler Dubnows ein bitteres Zeugnis vom Scheitern ihrer einstigen Hoffnung ablegten. Sie wurde damit zum Zeugnis einer "Katastrophe vor der Katastrophe" (Dan Diner) und dokumentierte die Reflexion auf den Untergang einer Welt bevor diese unwiederbringlich vernichtet wurde.

Ihren Ausgangspunkt nimmt auch Karlips Darstellung in der Beschreibung des hoffnungsvollen Strebens jener zweiten Generation von jüdischen Diasporanationalisten. Entlang der Lebenswege von Elias Tcherikower (1891-1943) und Yisroel Efroikin (1884-1954), der beiden späteren Herausgeber von Oyfn Sheydveg sowie dem Autor der Anthologie, Zelig Hirsch Kalmanovich (1885-1944), rekonstruiert Karlip in den ersten drei Kapiteln die historische Ära des Diasporanationalismus von ihren Anfängen im spätzaristischen Russland (24-93), über die Zeit von Katastrophe und Renaissance während des ersten Weltkriegs (94-131) bis in die Anfänge der Zwischenkriegszeit und das Ringen jüdischer Organisationen um eine Anerkennung als nationale Minderheit in den neu entstandenen Nationalstaaten (132-175). Dabei hatten auch Tcherikower und Kalmanovich ihre Hoffnung zuerst in eine Russifzierung der Judenheiten gesetzt und sich der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei des Zaristischen Russland zugewandt. Enttäuscht schlossen sich Tcherikower und Efroikin später jedoch Dubnows Folkspartej an, um nach Erstem Weltkrieg und russischer Revolution an unterschiedlichen Orten den kulturellen und politischen Aufbau einer jiddischsprachigen Diasporanation voranzutreiben. Tcherikower gehörte 1925 zu den Gründern des Jiddischen Wissenschaftlichen Instituts (YIVO) in Berlin. Kalmanovich wiederum ging nach Litauen, um sich hier für die Implementierung eines jüdischen Minderheitenschutzes zu engagieren und später am neuen Standort des YIVO in Wilna zu wirken, bis der gewaltsame Untergang des liberalen Europas schließlich alle Wege moderner jüdischer Existenz abbrach.

At the Crossroads (176-234), das vierte Kapitel von Karlips Monografie, bildet gleichsam das inhaltliche Zentrum der gesamten Darstellung und rückt das gemeinsame Zeitschriftenprojekt von Efroikin, Kalmanovich und Tscherikower ins Zentrum. Oyfn Shedveg - das war schließlich Ausdruck ihres Bewusstseins eines tiefgreifenden Wendepunkts der nicht-jüdischen Welt, der auch die einstigen Erwartungen und Hoffnungen von Dubnows Schülergeneration zerstört hatte. "Die gesamte uns umgebende Welt steht nun am Scheideweg" hieß es in der Einleitung des ersten Bandes der Anthologie. "Doch wir Juden, wenn wir nicht ehrliche Unterstützung, einen Weg und neue Stärke in uns selbst zur Bewahrung unserer nationalen Existenz finden, wir drohen unter dem Rad der Geschichte zermahlen zu werden." Angesichts ihrer Diagnose eines Zeitalter der "Gegenemanzipation" wollten die Protagonisten von Ofyn Sheydweg aber nicht nur den Verlust der gesellschaftlichen Voraussetzungen beklagen, an die sie ihre einstige Hoffnung auf die Garantie einer nicht-staatlichen nationalen Existenz geknüpft hatten. Karlips Darstellung zeigt vielmehr, dass dem Zusammenbruch der äußeren Voraussetzung des jüdischen Diasporanationalismus zugleich mit einem Rückzug auf sich selbst begegnet wurde. "Rückkehr ins Ghetto" lautete der Ruf, mit dem Tcherikower das Scheitern einer zweihundertjährigen Emanzipationsgeschichte diagnostizierte und allein in einem Rückzug auf die eigene Tradition und Gemeinschaft die Sicherung der kollektiven Existenz ausmachte. Unwidersprochen blieb eine solche Haltung indes nicht. Karlip macht den generationellen Bruch sichtbar, den die zerberstende Wirklichkeit zwischen den unterschiedlichen Generationen jüdischer Diasporanationalisten erzeugt hatte. Immerhin war es niemand anders als Simon Dubnow selbst, der einen Brief an die Herausgeber von Oyfn Sheydveg gerichtet und sich gegen deren gewandeltes Selbstverständnis in einer Ära der "Gegenemanzipation" gewandt hatte. Statt "am Scheidewege" einer ideologischen Revision zu stehen, hielt Dubnow seinen Schülern entgegen, befinde man sich viel eher "auf dem Schlachtfeld" (202). Sein Vertrauen in den Fortschritt der Emanzipation wollte er jedenfalls nicht aufgeben und propagierte wider den Rückzug die bedingungslose Solidarität mit dem Alliierten. Zwei Jahre später jedoch - als er einen Leserbrief zur dritten Auflage von Ofyn Shedeveg beisteuern wollte - war auch Dubnow bereits von seinem lange währenden Optimismus zurückgewichen. "Wenn der Krieg zu lange dauern wird", schrieb der Historiker im Frühjahr 1940, "werden nur sehr wenige von ihnen [den Juden] übrigbleiben." (210)

Nur Efroikin, der sich über Frankreich nach Uruguay gerettet hatte, sollte den Krieg überleben. Kalmanovich, der im Wilnaer Ghetto interniert war, fiel 1944 der nationalsozialistischen Vernichtung zum Opfer. Und Tcherikower erlag bereits ein Jahr zuvor in New York einem Herzinfarkt. Vom Untergang der jiddischen Kultur Ostmitteleuropas handelt schließlich das abschließende Kapitel von Karlips Studie: The Holocaust (235-302). Mit Blick auf die letzten Texte von Tcherikower, Efroikin und Kalmanovich wird es zum traurigen Zeugnis jener Generation jüdischer Diasporanationalisten, deren Werk nur noch die Einsicht in das Scheitern ihrer einstigen Hoffnungen zu dokumentieren vermochte. Tcherikower hatte in New York eine neue Geschichte der Judenemanzipation zu Zeiten der Französischen Revolution verfasst, die sich ihm nun nicht mehr als Fortschrittsgeschichte sondern als der Beginn eines Verfalls kollektiver jüdischer Existenz in Europa darstellte, die mit dem Jahre 1939 endgültig kollabiert war (236-245). Der daraus folgende Ruf nach eben jener "Rückkehr ins Ghetto", der für eine ideologische Abwendung von der nicht-jüdischen Welt stand, hatte sich in den Texten von Kalmanovich wiederum in einer Rückkehr zur Religion Ausdruck verschafft. Statt der einstigen Hoffnung auf eine Verschmelzung der jüdischen Kollektivexistenz mit dem Zukunftshorizont einer liberalen Moderne, war es nun der sakrale Text, der Antworten auf die sich vollziehende Katastrophe bereitzuhalten schien. Auch Efroikin hatte die einstige Distanz, die die säkularen Diasporanationalisten von der jüdischen Orthodoxie trennte, im Zeichen der kollektiv bedrohten Existenz aufgegeben. Integrale Yidishkeit (Integrales Judentum) lautete stattdessen das neue Selbstverständnis, das er propagierte und mit dem er die Differenzen zwischen religiösem und säkularem Judentum überwinden wollte (245-248). Nirgends hatte sich das Scheitern des Diasporanationalismus aber deutlicher niedergeschlagen als in der Revision des einstigen Strebens nach der Anerkennung einer national-jüdischen Kollektivexistenz innerhalb der Diaspora. Eine langfristige gesicherte jüdische Existenz konnten sich die drei Autoren nun vor allem in Palästina im Rahmen eines eigenen Nationalstaats vorstellen. So markiert Karlips Buch zuletzt auch den Punkt der Verwandlung der Juden aus einer diasporischen in eine territoriale Bevölkerung, einer Verwandlung, die sich jedoch nicht aus weltanschaulicher Überzeugung, sondern allein aufgrund der Vernichtung und der Zerstörung ihrer Existenz in Europa vollzogen hatte. Keine Forschung zum Aufstieg und Niedergang des Diasporanationalismus, ja zur jüdischen Geschichte des 20. Jahrhunderts, kann daran vorübergehen.

Zusammen lesen sich die beiden Bücher von Grit Jilek und Joshua Karlip damit wie eine umfassende Darstellung zur jüdischen Lebenswelt Ostmitteleuropas, bevor sie von den Nazis für immer zerstört wurde. Es ist der Quellenreichtum, der Jileks Arbeit zu Grunde liegt, der ihr Buch zu einem Gewinn für die Forschung macht. In dem sie den Schwerpunkt auf die politischen Aktivitäten des jüdischen Historikers legt, ist ihrer Monografie ein eigenständiger Platz neben den bisherigen Publikationen zu Simon Dubnow sicher. Dass der Verzicht auf manches Detail sich demgegenüber positiv auf die narrative Darstellung auswirkt, ist wiederum dem Buch von Joshua Karlip anzusehen. Mit der Hinwendung zu Oyfn Shedveg betritt seine Arbeit nicht nur thematisches Neuland. Auch durch ihre erzählerische Form leistet sie einen Beitrag, neue Einblicke in die zeitgenössische jüdische Reflexion zu der sich vollziehenden Katastrophe zu gewinnen. Das macht Karlips Buch zu einer unersetzlichen Lektüre.


Anmerkungen:

[1] Simon Dubnow: Buch des Lebens. Erinnerungen und Gedanken. Materialien zur Geschichte meiner Zeit, Band 1: 1860-1903, Göttingen 2004, 102.

[1] Raphael Lemkin: Totally Unofficial. The Autobiography of Raphael Lemkin, ed. by Donna-Lee Frieze, New Haven 2013, 72.

Lutz Fiedler