Frank Schlöffel: Heinrich Loewe. Zionistische Netzwerke und Räume (= Jüdische Kulturgeschichte in der Moderne; Bd. 8), Berlin: Neofelis Verlag 2018, 484 S., 3 Farb-, 3 s/w-Abb., ISBN 978-3-95808-026-3, EUR 29,00
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Heinrich Loewe gehört zu den vielen bedeutenden Zionisten aus der Gründungszeit der Bewegung, die heute kaum mehr jemand kennt. Geboren 1869 in der Nähe von Magdeburg, war er aktiv an der Entstehung der ersten zionistischen Organisationen in den 1890er Jahren in Berlin beteiligt, war Delegierter beim Ersten Zionistischen Kongress in Basel 1897, führendes Mitglied der im selben Jahr gegründeten Zionistischen Vereinigung für Deutschland und bis 1908 Chefredakteur von deren Zentralorgan, der "Jüdischen Rundschau". Außerdem betätigte er sich als bedeutender Theoretiker und Praktiker zionistischer Kulturpolitik und als einer der Initiatoren zum Aufbau der Jüdischen Nationalbibliothek in Jerusalem. Nach seiner Emigration 1933 wurde Loewe Direktor der Stadtbibliothek von Tel Aviv. Er starb 1951 in Haifa.
Die an der Universität Potsdam entstandene Dissertation von Frank Schlöffel hat das Verdienst, Heinrich Loewe und seine wichtige Rolle in der Geschichte des Zionismus in Erinnerung gerufen zu haben. Außer auf eine Biographie Loewes zielt der Band auch auf eine Rekonstruktion der personellen und räumlichen Strukturen des zionistischen Kollektivs insbesondere in Berlin und auf die "Bedeutung von Orten und Dingen für die kulturelle und politische Praxis" (31). So soll anhand des Lebenswegs deutlich werden, wie sich in der Diaspora eine materielle Vorstellung des zu schaffenden jüdischen Gemeinwesens entwickelte und wie diese theoretisch und praktisch nach Palästina projiziert wurde. Darüber hinaus will die Studie eine "Kartographie des Frühzionismus" (32) erstellen, in der die Aktionsräume des zionistischen Kollektivs in Berlin mit denjenigen Räumen verknüpft werden, die im Zentrum der zionistischen Ideologie standen.
Die Studie ist chronologisch aufgebaut und folgt damit zugleich Loewes persönlichem Weg wie den Entwicklungen des deutschen Zionismus. 1889 kam Loewe zum Studium nach Berlin, wo er sich als einziger Nichtrusse dem "Russisch-jüdischen Wissenschaftlichen Verein" anschloss, einer Keimzelle des organisierten Zionismus in Deutschland. In den folgenden Jahren war er an der Gründung einer Reihe weiterer frühzionistischer Vereine und Organisationen beteiligt, so des "Vereins zur Pflege der hebräischen Sprache" und der Studentenverein "Jung Israel", aus dem die "Vereinigung jüdischer Studierender" hervorging. 1898 schließlich wurde unter seiner Leitung die "Berliner Zionistische Vereinigung" gebildet, die bedeutendste Ortsgruppe der ein Jahr zuvor gegründeten "Zionistischen Vereinigung für Deutschland". In den folgenden Jahren gehörte Loewe als Funktionär und vor allem Redakteur und Autor zahlreicher Zeitschriften, insbesondere der "Jüdischen Rundschau", zu den bekanntesten Akteuren der sich formierenden zionistischen Bewegung in Deutschland.
Frank Schlöffel zeichnet in den ersten drei Hauptkapiteln seiner Studie diesen Formierungsprozess detailliert nach und folgt ihm durch die verschiedenen Berliner Wohnungen Loewes und seiner Mitstreiter, durch die Versammlungsorte der zionistischen Vereine und durch die Redaktionsräume der zionistischen Blätter. Er beleuchtet die Stellung Loewes im Beziehungsgeflecht der zionistischen Akteure und damit diese Konstellation selbst. Auch wenn dabei zur Organisationsgeschichte des deutschen Zionismus [1] keine grundlegend neuen Erkenntnisse erzielt werden, so lässt die Darstellung durch ihren Fokus auf die räumliche Dimension der zionistischen Aktivitäten doch ein plastisches Bild entstehen. Unterstützt wird dies dadurch, dass auf der Webseite des Neofelis Verlags ein historischer Stadtplan Berlins abgerufen werden kann, in dem die besprochenen Orte eingezeichnet sind. [2]
Die folgenden beiden Hauptkapitel konzentrieren sich auf die kulturpolitische Tätigkeit Loewes in der Zionistischen Organisation, zuerst während des letzten Jahrzehnts des Kaiserreichs, dann in der Weimarer Republik. Loewe, der 1907 zum Leiter der Abteilung für Kulturfragen des Palästinaamtes der Zionistischen Organisation berufen wurde, war federführend sowohl an zionistischen Bildungsprojekten wie der "Organisation für hebräische Sprache und Kultur", dem "Jüdischen Schulverein" und vor allem der Jüdischen Nationalbibliothek beteiligt, als auch an der Propaganda für das zionistische Siedlungswerk in Palästina, etwa durch das Entwerfen von Lichtbildvorträgen oder im Rahmen der Berliner Gewerbeausstellung von 1896. Sehr deutlich wird dabei die zentrale Rolle, die Loewe bei diesen Projekten einnahm. Es entsteht auch ein lebendiges und in dieser Ausführlichkeit bisher nicht vorhandenes Bild der Vielfalt der zionistischen Kulturpolitik und ihrer Verwobenheit mit der "Renaissance der jüdischen Kultur" (Michael Brenner) vor allem während der Weimarer Republik. Etwas blass hingegen bleibt die analytische Auseinandersetzung mit den dinglichen Dimensionen der Formierung einer jüdischen Nationalkultur, die etwa in den Arbeiten von Michael Berkowitz deutlich tiefer geht. [3] Sehr hilfreich wäre hier sicherlich die Aufnahme von Bildmaterial in die Studie gewesen. Zwar richtet sich diese Kritik eher an den Verleger als an den Autor, doch im Falle des besprochenen Bandes handelt es sich um ein und dieselbe Person.
Insgesamt bietet die Studie eine ausführliche und präzise Rekonstruktion sowohl der frühzionistischen Organisationsgeschichte als auch der zionistischen Kulturarbeit in Deutschland. Der Umfang an ausgewerteten Quellen (der Autor hat auch einen bisher unbekannten Teilnachlass Loewes in der Jüdischen Nationalbibliothek ausfindig gemacht) ist beeindruckend, und dabei kommen viele interessante, auch bisher unbekannte Details ans Tageslicht. Zumindest streckenweise hätte man sich jedoch eine etwas interpretationsfreudigere Herangehensweise gewünscht. Dass die Studie kaum inhaltlichen Widerspruch herausfordert, lässt den Rezensenten daher eher ein wenig unbefriedigt zurück. Auch die theoretischen Ansprüche, die in der Einleitung formuliert sind, werden nur bedingt erfüllt. Um tatsächlich eine "Verflechtungsgeschichte" (9) zu schreiben, hätte der Autor die jüdischen Räume und Diskurse konsequenter verlassen und den Zionismus stärker als Teil der allgemeinen Kulturgeschichte verstehen müssen. Für eine Topographiegeschichte hätte die systematische Bedeutung räumlicher Strukturen für die Konstruktion jüdischer nationaler Identität eingehender diskutiert werden müssen. Nichtsdestotrotz ist gerade die Rückbindung zionistischer kultureller und politischer Praxis an die konkreten Orte, an der sie stattfand, eine der Stärken der Studie. Sie lässt dadurch diese Praxis und ihre Akteure, und nicht zuletzt Heinrich Loewe selbst, in einer bisher selten gesehenen Plastizität wiederaufleben.
Anmerkungen:
[1] Zu nennen sind hier insbesondere die Studien von Yehuda Eloni: Zionismus in Deutschland. Von den Anfängen bis 1914, Gerlingen 1987, und Barbara Schäfer: Berliner Zionistenkreise. Eine vereinsgeschichtliche Studie, Berlin 2003.
[2] Zu finden unter https://neofelis-verlag.de/verlagsprogramm/geschichte/844/heinrich-loewe (letzter Zugriff: 7.9.2018)
[3] Vgl. Michael Berkowitz: Zionist Culture and West European Jewry before the First World War, Cambridge 1993; ders.: Western Jewry and the Zionist Project, 1914-1933, Cambridge 1997; ders.: The Jewish Self-Image in the West, New York 2000.
Stefan Vogt