Gerhard Sälter / Johanna Dietrich / Fabian Kuhn: Die vergessenen Toten. Todesopfer des DDR-Grenzregimes in Berlin von der Teilung bis zum Mauerbau (1948-1961) (= Beiträge zur Geschichte von Mauer und Flucht), Berlin: Ch. Links Verlag 2016, 310 S., 80 s/w-Abb., ISBN 978-3-86153-933-9, EUR 30,00
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Bedarf es angesichts des bisher erreichten Forschungsstandes zum Thema der Toten an der Berliner Sektorengrenze überhaupt noch einer weiteren Publikation? In einer umfangreichen Einleitung gelingt es den drei Autoren, die Besonderheiten und Schwierigkeiten dieses Themas detailliert zu erörtern. Dabei wird angesichts der deutlich voneinander abweichenden Ergebnisse der unterschiedlichen Institutionen, die sich mit den Todesopfern der deutsch-deutschen Teilung befassen und befasst haben, der in vielen Fällen nicht mehr vorhandenen, weil bereits vor 1989 vernichteten Unterlagen und angesichts des starken Fokus bisheriger Studien auf den Zeitraum nach dem Mauerbau 1961 deutlich, dass die Opfer aus den 1950er Jahren durchaus zu den Vergessenen gezählt werden müssen.
Ein zentrales Merkmal der Publikation ist die zu Beginn vorgenommene Kategorisierung, anhand derer die Todesopfer in einen ursächlichen Zusammenhang mit dem Grenzregime eingeordnet werden. Diese erscheint allein deswegen schon unerlässlich, weil die besondere Nachkriegssituation des geteilten Berlin, die nicht immer eindeutig bestimmbaren Sektorengrenzen sowie die Kontrollpraxis des noch jungen Grenzregimes, welche die drei Autoren in einem nachfolgenden Kapitel eingehend beleuchten, nicht immer klar erkennen ließen, ob und wer ein Todesopfer des Grenzregimes wurde. Die vorgenommene Kategorienbildung leistet jedoch weit mehr, als nur einen direkten räumlichen oder kausalen Zusammenhang der Todesopfer mit dem Grenzregime herzustellen. Anhand weiterer Unterkategorien, die beispielsweise im Dienst getötete West-Berliner Polizeibeamte, alliierte Soldaten, Grenz- und Volkspolizisten oder Suizide erfassen, gelingt es der Studie, ein differenziertes Bild der Todesopfer zu zeichnen, das in vielen Fällen Rückschlüsse auf den Charakter und das Wesen des Grenzregimes vor dem Mauerbau zulässt. Somit wird diese Untersuchung auch zu einer Beschreibung und Analyse des frühen SED-Regimes und dessen Macht- und Herrschaftssicherungsansprüchen.
Der Hauptteil des Buches widmet sich nicht weniger als 39 Personen, welche unmittelbar im Grenzraum oder durch das Grenzregime in Berlin zwischen 1948 und 1961 zu Tode kamen. Dabei werden nicht nur die Umstände ihres Todes anhand einer breiten Quellenbasis aufgearbeitet, sondern auch deren Lebenswege nachvollzogen. Die Darstellung der späteren strafrechtlichen Ahndung bildet jeweils den Abschluss der Einzelanalysen. Eine große Stärke der Studie liegt in der immensen Quellenvielfalt, anhand derer alle nachgewiesenen Fälle untersucht und dokumentiert wurden. Dabei wurden nicht nur die Bestände der einschlägigen Bundes- und Landesarchive in Freiburg, Koblenz und Berlin, der Bundesbeauftragten für die Aufarbeitung der Unterlagen der Staatssicherheit, sondern auch die Quellen des Berliner Landeskriminalamtes und der Staatsanwaltschaft sowie der Polizeihistorischen Sammlung Berlins und weiterer Institutionen ausgewertet. Zum einen entsteht somit insgesamt ein fundierter Überblick, der die in der Forschung stark voneinander abweichenden Opferzahlen erstmals auf eine verlässliche Basis stellt. Zum anderen führt dies - bis auf wenige Ausnahmen - für die Mehrheit der beschriebenen Einzelfälle zu einem sehr dichten Befund, der neben den detaillierten Umständen des jeweiligen Todesfalls oft auch Einschätzungen zum Grenzregime und deren Akteuren zulässt.
Die Autoren üben sich dabei keinesfalls im moralisierenden Fingerzeig auf die Täter. Vielmehr machen sie anhand der untersuchten Todesfälle immer wieder deutlich, wie das SED-Regime bereits vor dem Mauerbau eine Weisungslage geschaffen hatte, "die dem einzelnen Polizisten keine Entscheidungsfreiheit ließ, ob er schießen müsse" wodurch "de facto fast durchgängig ein Zwang zum Schusswaffengebrauch" (91) geschaffen worden war. Im Zusammenspiel mit den "in den Befehlen der DDR-Polizeibehörden geführte[n] überzogene[n] Propaganda gegen 'Agenten' und 'Provokateure' [...], 'Schieber' und 'Buntmetallschmuggler'" schuf dies ein Klima, das dazu dienen sollte, "den Gewalteinsatz partiell zu entgrenzen" (293). Die untersuchten Fälle vermögen eindrücklich zu belegen, dass die in der Mehrheit jungen Grenzsoldaten und Volkspolizisten in nicht wenigen Fällen überreagierten und infolgedessen etwa der 45-jährige Richard Prey "wegen einiger Lebensmittel, die er billig in Ost-Berlin eingekauft hatte, aber nicht hätte kaufen und über die Grenze nach West-Berlin bringen dürfen, an der Grenze erschossen" wurde (164).
Insgesamt kann festgehalten werden, dass der wissenschaftliche Wert dieser Publikation in der umfassenden Quellenauswertung besteht, welche die Schicksale der Todesopfer des DDR-Grenzregimes vor dem Mauerbau auf eine belastbare Grundlage stellt. Zusammen mit der biographischen Studie von Hans-Hermann Hertle und Maria Nooke [1] könnte diese Arbeit zu einem Standardwerk zu den Opfern der deutsch-deutschen Teilung werden.
Anmerkung:
[1] Hans-Hermann Hertle / Maria Nooke: Die Todesopfer an der Berliner Mauer 1961-1989. Ein biographisches Handbuch, hg. vom Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam und der Stiftung Berliner Mauer, 2. durchgesehene Auflage, Berlin 2009.
Jochen Maurer