Mirko Breitenstein / Julia Burkhardt / Stefan Burkhardt u.a. (Hgg.): Identität und Gemeinschaft. Vier Zugänge zu Eigengeschichten und Selbstbildern institutioneller Ordnungen (= Vita regularis. Ordnungen und Deutungen religiosen Lebens im Mittelalter. Abhandlungen; Bd. 67), Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2015, XI + 326 S., ISBN 978-3-643-13242-0, EUR 44,90
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Mirko Breitenstein: Vier Arten des Gewissens. Spuren eines Ordnungsschemas vom Mittelalter bis in die Moderne, Regensburg: Schnell & Steiner 2017
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Mirko Breitenstein: Vier Arten des Gewissens. Spuren eines Ordnungsschemas vom Mittelalter bis in die Moderne, Regensburg: Schnell & Steiner 2017
Wer im OPAC-Katalog der Regesta Imperii nach dem Wort "Identität" sucht, der wird mit nicht weniger als 600 Ergebnissen rechnen müssen, die vom Jahr 1833 bis zum Jahr 2016 reichen. Nach einer näheren Betrachtung ergibt sich, dass die überwiegende Mehrzahl der Beiträge - ca. 90 Prozent! - nach dem "Wendejahr" 1990 erschienen sind.
Das explosionsartig gewachsene Interesse an der Thematik der persönlichen und kollektiven Identitäten der Vergangenheit erklärt sich nicht nur dadurch, dass nach dem immer wieder thematisierten Untergang der großen politischen Ideologien des "kurzen 20. Jahrhunderts" das Bedürfnis nach einer neuen, individuellen oder kollektiven Identität eine gewichtigere Rolle für Einzelne sowie für Gruppen eingenommen hat, sondern auch und vor allem durch die verstärkte Rezeption seitens der Historie von methodischen Ansätzen aus den Gebieten der Kultursoziologie und der Sozialpsychologie. Einflussreiche Impulse im Bereich des Religiosentums kamen insbesondere aus den Forschungen von Peter von Moos und Alois Hahn, die einen starken Fokus auf die Wechselwirkungen zwischen Selbstbeschreibung und sozialer, kultureller sowie institutioneller Zuschreibung gelegt haben.
Die Beschäftigung mit Ausbildung, Negierung, Stabilisierung, Verstetigung, Neukodierung oder gar Auflösung von Identitäten im Kontext monastischer und regulärer Gemeinschaften des hohen und späten Mittelalters steht auch im Mittelpunkt des vorliegenden Sammelbandes. Dabei werden allerdings nicht nur die Faktoren herausgearbeitet, die sich für die jeweiligen Entwicklungsprozesse als maßgeblich erwiesen, sondern auch deren wechselseitigen Interaktionen. Rekurriert wird diesbezüglich vorranging auf das Hahnsche Modell der partizipativen Identitäten, wonach die Identität eines Individuums oder einer Gemeinschaft durch die Kombination mehrerer Partizipationen konstruiert wird.
Der Einteilung des Werkes in vier Hauptsektionen, jede von einem der Herausgeber eingeleitet, entspricht der Einsatz von vier thematischen Ansätzen, die jeweils einen speziellen Zugang zu Identitäten im kirchlich-religiösen Bereich in den Vordergrund stellen. Die Beiträge der von Jörg Sonntag eingeführte Sektion "Die Erklärung des Wesentlichen" (4-11) setzen sich mit der "Perfektionierung des Normativen" auseinander. In seinem Beitrag über die Konstruktion monastischer Identitäten in karolingischen Kommentaren der Regula Benedicti (13-30) arbeitet Christoph Dartmann heraus, wie diese Texte durch Vergewisserung und Vertiefung der gemeinsamen monastischen Grundlagen sowie das Bewusstmachen des Kerns des Mönchtums einen Beitrag zur Konstruktion monastischer Identitäten geleistet haben. Die Perfektionierung des Normativen wird im Aufsatz von Björn Gebert (31-45) als eine Reihe von durch kontingente Faktoren bestimmten Anpassungen verstanden: Die hier behandelte niederhochdeutsche Übersetzung eines pseudo-hugonischen Augustinerregelkommentars aus dem Nürnberger Dominikanerinnenkloster St. Katharina stellt das letzte Glied einer Kette von Perfektionierungen dar, die die Eintracht als Wesen(tliches) der Gemeinschaft hervorhebt. Am Beispiel des Regelkommentars des Tegernseer Benediktiners Johannes Keck befasst sich der Beitrag von Meta Niederkorn-Bruck (47-87) mit den Interaktionen zwischen dem Universitäts- und Klosterleben sowie mit den daraus resultierenden Identitäten: Nicht nur erwiesen sich die akademischen Erfahrungen auf Dauer für viele monastische Karrieren von erheblichem Vorteil, sie prägten zudem - wie im Fall Kecks - die Regelkommentare und dadurch das "wissenschaftliche Leben" der jeweiligen Kommunitäten maßgeblich.
Die zweite, von Mirko Breitenstein eingeführte Sektion zu Training und Akzeptanz (91-97), legt den Fokus auf die Generierung und Stabilisierung kollektiver Identitäten durch spirituelle Leitideen. Eine auf die virtutes zentrierte Analyse der normativen Texte von Zisterziensern und Minoriten führt Krijn Pansters (99-124) zum Schluss, dass in beiden Gemeinschaften der Tugendbegriff im Zentrum einer Dynamik von Normierung und Formierung stand, die zu einer vergleichbaren Anpassung im Sinne einer zunehmend symbolischer Deutung bestimmter virtutes führte. In seinem Beitrag zu den Gebetszyklen der Lüneberger Frauenklöster und des Hamburger Beginenkonvents (125-148) interpretiert Christian Schmidt die hier thematisierten liturgischen Erfahrungen, vor allem die Vorbereitung auf die österliche Kommunion, als identitätsstiftende Momente, die durch performative Handlungen und individuelle Reflexion auf eine Reform des inneren Menschen zielten. Coralie Zermatten geht in ihrem Aufsatz (149-178) auf die erzählerischen, normativen und figurativen Strategien ein, die bei Kartäusern und Karmeliten eingesetzt wurden, um ihre "bedrohte" eremitische Identität zu bewahren und identifiziert sie hauptsächlich in der Glorifizierung der Anfänge, in einer neuen Deutung von Zelle und Wüste sowie in der Herausbildung einer auf die Gottesmutter Maria zentrierte Theologie und Frömmigkeit.
Im Mittelpunkt der Beiträge der dritten, von Stefan Burkhardt eingeleiteten Sektion (182-187), stehen die Wechselwirkungen zwischen Identität und Herrschaft. Unter anderem am Beispiel der Markgrafen von Baden zeigt der Aufsatz von Benjam Müsegades (189-209), wie stark sich der Einfluss der Herkunftsfamilie auf die Identität geistlicher Fürstensöhne im Spätmittelalter auswirkte - er spricht diesbezüglich von primärer Bezugsgemeinschaft - und welche Konflikte aus der Ablehnung der jeweils angetragenen Rollen entstehen konnten. Matthias Schrör behandelt in seinem Beitrag (211-221) die Papstschismen aus der Mitte des 11. Jahrhunderts und stellt dabei fest, dass gerade diese Krisen zu einer noch stärkeren Profilierung des Papstamtes geführt haben. Ausgehend von einer kontextbezogenen Auseinandersetzung mit dem Liber de restauratione Hermanns von Tournai arbeitet Harald Sellner heraus (223-247), welche Bedeutung die Konstruktion und Definierung der Eigenidentität in Zeiten intensiver monastischer Reform einnehmen konnten, und wie diese Identität seitens der Klostergemeinde in Tournai nuanciert wurde, um die eigene Unabhängigkeit gegen die Ansprüche des cluniazensischen Generalkapitels zu bewahren.
Auf die Rolle von Natur und Architektur als "identitätsstiftende Ordnungsprinzipien" wird in der abschließenden, durch Julia Burckhardt eingeleiteten Sektion (251-258), eingegangen. Victoria Smirnova (259-273) entwickelt in Bezug auf die Wundergeschichten des Cäsarius von Heisterbach den Begriff "narrative Theologie" und zeigt, wie durch diese Erzählungen unter anderem eine gemeinsame Plattform für die allegorische Interpretation von Naturereignissen geschaffen wurde. Die zugleich traditionsbezogene und innovative Auslegung des Menschenbildes bei Albert dem Großen wird von Guy Guldentops (275-292) als ein wichtiger Beitrag zur Genese der spätmittelalterlichen kulturellen Identität Westeuropas gedeutet. Leonie Silberer zeigt in dem abschließenden Aufsatz (293-313), wie intensiv vor allem in der Frühzeit des Minoritenordens auf architektonische Konzepte rekurriert wurde, um die ordenseigene Identität nach Innen und nach Außen zu manifestieren.
Bei geschichtswissenschaftlichen Werken, die soziologische Begriffe in den Mittelpunkt stellen, besteht ein konkretes Risiko darin, die jeweiligen Deutungsmuster allzu statisch anzuwenden und die diachrone zugunsten der synchronen Dimension preiszugeben. Vor dieser Gefahr haben sich die Herausgeber und Autoren des vorliegenden Bandes gehütet, indem sie ein dezidiert dynamisches Modell entwickelt und gemeinschaftliche Identitäten als diskursive Entitäten verstanden haben, die immer wieder umgeschrieben, neu konfiguriert und gewechselt werden. Diese "Einstellung" hätte paradoxerweise auch das Gegenteil bewirken und zur Feststellung von Identitätskonstruktionen selbst dort führen können, wo es vorrangig um Durchsetzung von Ambitionen und Sichtweisen ohne den bewussten oder unbewussten Anspruch auf die Prägung einer Identität ging. Bis auf einzelne Passagen, bei denen die Heranziehung von Identitätsbegriffen nicht so ungezwungen erscheint, bleibt allerdings auch dieses Risiko ausgeschaltet und der Band lässt sich ohne Vorbehalte als ein gelungenes Werk bezeichnen, das zahlreiche Denkanstöße für eine zusätzliche Deutung institutioneller Ordnungen bietet.
Étienne Doublier