Bärbel Völkel: Stolpern ist nicht schlimm. Materialien zur Holocaust-Education (= Geschichte unterrichten), Schwalbach: Wochenschau-Verlag 2015, 111 S., ISBN 978-3-7344-0087-2, EUR 19,80
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Der Titel des bereits 2015 erschienen Unterrichtsmaterials zur 'Holocaust Education' ist ein Blickfang, ragt er doch stilistisch aus sachlicheren Überschriften geschichtsdidaktischer Literatur heraus. Das Motto des Bandes nimmt assoziativ das Motiv des 'Stolpersteins' vorweg, das auf den folgenden Seiten aufgegriffen wird. [1] Die ermunternden Worte des Titels richtet die Autorin Bärbel Völkel an eine nicht weiter spezifizierte Schüler_innenschaft, den eigentlichen Kreis der Adressierten. Dieser soll im konstruktivistischen Sinne durch Quellen und Darstellungen verunsichert werden, über den eigenen emotionalen oder kognitiven Stolperer reflektieren und dadurch Orientierung finden (106). Dennoch ist es keine forschend-entdeckende Quellenarbeit, die Völkel mit ihrem Beitrag zur Unterrichtskultur anregen möchte (109). Im Gegenteil: Als Professorin für Geschichtsdidaktik, ehemalige Gesamtschullehrerin und Fachleiterin stellt sie fest, dass eine "profunde Komplexitätsreduktion" durch die Arbeit mit gekürzten Quellentexten entstehe, aus denen nur "bereits Bekanntes" herausgearbeitet würde (109). Ferner sei es den Schüler_innen unmöglich, Forschungsstände aus Fachliteratur zu erschließen (110). Mit diesem Band sollen sie stattdessen vorwiegend anhand von neu verfassten Darstellungstexten lernen, "Geschichte selbst zu denken" (110).
Der Untertitel des Bandes ist bereits ein Statement innerhalb des geschichtsdidaktischen Diskurses und Kriterium für potentielle Kaufinteressierte: Die Autorin ist eine Befürworterin der 'Holocaust Education'. Dieser internationale, normative, pädagogische Ansatz verbindet unter der Wahrung des Verständnisses des Holocaust als singuläres Ereignis eine Universalisierung der Lehren aus der Geschichte, Moralisierung, eine Anregung für Empathie durch Individualisierung der Opferperspektiven und das Gedenken der Opfer.
Den thematischen Zuschnitt des Bandes konturiert die Autorin klar. Sie möchte den Wandel "einer relativ solidarischen Gesellschaft hin zu einer 'Ausgrenzungsgesellschaft' nachzeichnen" (104). So versammelt sie Materialien zu unterschiedlichen Opfergruppen: Personen jüdischer "Abstammung", Roma und Sinti und deren Verwandte, Homosexuelle, sogenannte "Asoziale" sowie Opfer von "Krankenmorden". Völkel wirft hierbei nicht allein ein Schlaglicht auf die Zeit des Nationalsozialismus, sondern beleuchtet ebenso die historischen Vorgeschichten (Eugenik, Sozialdarwinismus, Rassismen) und die Fortentwicklung gesellschaftlicher Ausgrenzungspraktiken bis heute (Opferentschädigung, soziale Ungerechtigkeit, Xenophobie). Die erweiterte Sicht auf die hier berücksichtigten Opfergruppen ist bis jetzt nicht selbstverständlicher Status quo in der Gestaltung von Unterricht(smaterialien), der analytische Zeitrahmen, der bis in die Gegenwart reicht, macht die anhaltende Brisanz augenscheinlich.
Der Gegenwartsbezug ist Einstiegs- und Schlusspunkt der hier vorgelegten Unterrichtsmaterialien. Die Art, wie die Autorin kontinuierlich einen Rückbezug zur Jetztzeit herstellt, ist eine klare Stärke des Bandes und der angestrebten Subjektorientierung zuträglich. Wie genau gelingt Völkel dieser Zirkelschluss?
Die ersten Seiten sind überschrieben mit "Deine Zukunft..." (4) beziehungsweise "Gegenwart, Zukunft, Geschichte und: Du" (5). Die Zielgruppe wird an Geschichte mit einem Bewusstsein dafür herangeführt, dass jeder Mensch eine Identität und Zukunftswünsche besitzt. Im Kapitel "Du sollst nicht mehr leben..." (8-19) begegnen die Lernenden dann Lebensgeschichten, die von Rainer Redies, Leiter der Bad Cannstatter Stolperstein-Initiative, verfasst wurden. Über den deutschen Wohnort Bad Cannstatt hinaus verbindet die auf Individualisierung ausgerichteten Geschichten der Typus der Opferbiografie. Keine der Personen überlebte das NS-Regime, der ideologische (Schein)grund der Ausgrenzung, der durch die nationalsozialistische Gesetzgebung legitimiert wurde, ist hingegen bei jeder Person anders geartet, sodass unterschiedliche Opfergruppen berücksichtigt werden. Die in der Gesamtheit und im Einzelnen facettenreichen Biografien werden in ihren Aspekten über den Band hinweg erschlossen. Ob und wie die nationalsozialistischen Verbrechen hingegen die Leben anderer Menschen innerhalb der Gesellschaft veränderten, wird nicht an einzelnen Biografien dargestellt. Stattdessen verschwimmen diejenigen, die entweder Verfolgung ausübten, als Normalität tolerierten oder sich dieser widersetzten in einer diffusen Masse (7, 21).
Sechs "Themenfelder" bieten anschließend einen Einblick in die bereits vor dem Nationalsozialismus etablierten, als wissenschaftlich verstandenen Vorstellungen der Eugenik und des Sozialdarwinismus, die zum "eingeübte[n] Denken in der Gesellschaft" gehörten (21). Die Ausgangsfrage "Wem gehört meine Solidarität?" (20) adressiert die Lernenden direkt. Mit wem genau sie sich zukünftig solidarisieren (sollten), wird durch die anschließenden Kapitel eingeleitet. Die folgenden Sinneinheiten greifen thematisch ineinander und bauen aufeinander auf. Gesetze, Verordnungen und Verfassungswidersprüche et cetera werden im Kontext der "ideologische[n] Rassenpolitik" auf diese Weise kenntnisreich in einen "Erklärungs- und damit [...] Verstehenszusammenhang" gebracht (21). Zu kritisieren ist, dass es sich bei den Texten um (zeitgenössische) wissenschaftliche Einschätzungen und 'Täterdokumente' handelt, während keine exemplarischen Wahrnehmungen und Erfahrungen in Form von zeitgenössischen Selbstzeugnissen die Perspektive erweitern. Die Opferbiografien der Stolperstein-Initiative, die kurz das Leben und die dokumentierte Todesursache einzelner Personen wiedergeben, reichen als Gegengewicht nicht aus, da diese aus zeitlicher Distanz sachlich von einer vermutlich unbeteiligten Person dargestellt werden.
Einen weiteren analytischen Zugang zur Geschichte des nationalsozialistischen Massenmordes bietet die Autorin über die Einführung der zeitlichen Kategorien "Kontinuität und Wandel" (58). Die beiden Begriffe werden zum Leitmotiv der nachfolgenden sieben Lerneinheiten. Die Vorgeschichten der bereits thematisierten Formen der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit werden dargeboten und Fortentwicklungen zum Teil unter synchroner Berücksichtigung der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik aufgezeigt. Hier werden geschichtswissenschaftliche Interpretationen, geltendes Recht und Rechtsstreite referiert. Ferner greift die Autorin auf gesellschaftskritische, soziologische Studien - deren Designs nicht vertieft erläutert werden - oder auf Onlinebeiträge (Wörterbücher, Blogs) zurück. Über das Material hinaus werden Internetrecherchen zu bestimmten Fragestellungen angeregt, die für neue Projekte genutzt werden können. Zwar variiert die perspektivische Ausgewogenheit der einzelnen Kapitel, doch ist die innovative Schwerpunktsetzung durchaus dafür geeignet innerhalb aber ebenso außerhalb der Beschäftigung mit den Verbrechen des Nationalsozialismus, fachübergreifend eine Ethikdebatte über den Abtreibungsparagraphen 218a des Strafgesetzbuches einzuleiten oder den Ansatz der 'Queer History' knapp vorzustellen.
Der Abschluss des Arbeitsteils ("Willkommen zurück!" (97) und "Wo stehe ich jetzt?" (98)) holt die Heranwachsenden aus den Lerneinheiten ab und schließt mit der heutigen Handlungsdisposition den Kreis zu den individuellen Visionen der Zukunftsgestaltenden, die zu Beginn der Sequenz festgehalten wurden. Eine Änderung des Zustandes wird in die Hände von "vielen 'kleinen' Menschen" (98) gelegt, zu denen auch die Schüler_innen selbst gezählt werden: "Was ich tun kann und was ich gerne tun würde..." (ebenda) lautet dann der bewusst suggestive, letzte Halbsatz des Arbeitsmaterials.
Hinter Verzeichnissen über Literatur und digitale Quellen verstecken sich das achtseitige, an Lehrer_innen gerichtete Grundlagenkapitel und eine Überblicksgraphik, die Verbindungen zwischen den Materialien visualisiert. Das Abschlusskapitel verdeutlicht zwar die Idee hinter dem Band, doch fehlt eine grundlegende Definition von 'Holocaust Education', welche deren verschiedenen Prinzipien vereint, sowie Vorteile und Fallstricke aufzeigt und eine Abgrenzung zu anderen Ansätzen wie der 'Erziehung nach Auschwitz' vornimmt. Die Überblicksgraphik wiederum ist für Sequenzvorschläge nicht ausreichend. In der Binnenstruktur beziehen sich Aufgabenstellungen ohne konkreten Materialverweis auf Textblöcke, Seiten und Kapitel. Aus konstruktivistischer Sicht können die Lernenden dann flexibler Materialien zum Erkenntnisgewinn einbeziehen, für die Unterrichtsplanung jedoch ist diese Darbietung des kapitelübergreifenden, vernetzten Lernens eine Herausforderung.
Berufseinsteiger_innen könnte die Materialsammlung vor Probleme stellen: Das Abschlusskapitel könnte thematischen Neulingen einen noch weitergefassten Überblick verschaffen, die Sequenzplanung wird aus bereits genannten Gründen erschwert. Die nahezu durchgehende Annotierung von Fremdworten weist an wichtigen Stellen Lücken auf - so bleibt beispielsweise veraltetes, euphemistisches Jargon ('Schutzhaft' (10), 'Notzuchtverbrechen' (14), beides im Text ohne Anführungszeichen) unkommentiert. Zudem kann wohlgemeinte Emotionalisierung leicht in eine Läuterungs- und Zeigefingerpädagogik umschlagen. Hierfür finden sich in den Aufgabenblöcken einige diskutable Beispiele.
Insgesamt bietet Völkel routinierten Lehrkräften ein reichhaltiges Angebot an Darstellungstexten und Quellen, deren Zusammenführung ein einheitliches Narrativ zum Thema Ausgrenzung in Vergangenheit und Gegenwart ergibt. Die Ganzschrift kann inhaltlich eine gute Ergänzung zum Schulbuch und strukturell wiederum zur Quellensammlung darstellen. Den gesamten Band unterrichtlich durchzuarbeiten ist bei den rund hundert Seiten Umfang unrealistisch, dafür können mit einer Klasse oder einem Kurs exemplarisch "Themenfelder" und Kontinuitäten behandelt werden. Im Gesamtbild ist der Band, der die Anbindung an die Gegenwart sucht, im besonderen Maße auf das lernende Subjekt ausgerichtet.
Anmerkung:
[1] Anna Warda: Ein Kunstdenkmal wirft Fragen auf. Die "Stolpersteine" zwischen Anerkennung und Kritik, http://zeitgeschichte-online.de/geschichtskultur/ein-kunstdenkmal-wirft-fragen-auf, 21.03.2017 (zuletzt aufgerufen am 14.04.2017).
Ruth Fiona Pollmann