Marko Demantowsky (ed.): Public History and School. International Perspectives, Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2018, X + 220 S., ISBN 978-3-11-046368-2, EUR 51,95
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Welche Bedeutung trägt Public History in der bildungspolitisch geprägten Institution Schule und wie könnte sich das Verhältnis zukünftig entwickeln? Das englischsprachige Sammelwerk "Public History and School" nimmt sich dieser unter verschiedenen Blickwinkeln bearbeitbaren Frage an und versucht sie im internationalen Vergleich zu beantworten. Es ist Ergebnis der von Public History Weekly und der Pädagogischen Hochschule der Fachhochschule Nordwestschweiz (PH FHNW) in Basel veranstalteten Tagung "Public History International. Beyond school? Comparative Perspectives" [1] aus dem Jahr 2015 und wird als open access Veröffentlichung vom De Gruyter Oldenbourg Verlag auch kapitelweise downloadbar bereitgestellt.
Der Band umfasst 15 Beiträge zu Public History in der Schweiz, Österreich und Deutschland ebenso wie in Südafrika, Australien, den Vereinigten Staaten, Großbritannien und Russland, mit Verweisen auf andere Länder, nimmt also überwiegend deutsch- und englischsprachige Räume in den Blick. [2] Die Texte sind vier inhaltlich überlappenden Sinneinheiten zugeordnet, die am Ende jeweils von den Moderator_innen der Sektionen kommentiert und perspektivisch erweitert werden, sodass das diskursive Element einer Tagung erhalten bleibt und Verbindungslinien zwischen den Beiträgen gezogen werden.
Zunächst führt das Vorwort in den Entstehungshintergrund des Tagungsbandes ein. Die folgende "Keynote" ist dann irritierenderweise zum einen der längste Text im Gesamtwerk, zum anderen wird sie aber nicht, darauf verweist auch das Vorwort (VI), als Fundament für die gedankliche Arbeit in den folgenden Einzelbeiträgen genutzt. Marko Demantowsky (PH FHNW, Basel) erarbeitet hier als Herausgeber des Bandes am Forschungsstand orientiert eine Begriffsdefinition von Public History und verschafft einen Überblick über ältere, synonyme Begriffe, die in unterschiedlichen Disziplinen verwendet werden, womit er die Interdisziplinarität des Forschungsgegenstandes unterstreichen kann. Kursorisch spricht er Schwerpunkte der Forschungslandschaft, Arbeitsweisen, Gütekriterien und Desiderate der Wissenschaft an. Zusammengeführt werden viele seiner Gedanken in einer Graphik zum System Public History (26) und einer zur Forschungssystematik des Bereichs (29).
Die erste Sinneinheit ist mit dem Kurztitel der Eröffnungssektion der Tagung "Public History in the Classroom" überschrieben. Zunächst vergleicht Rob Siebörger (University of Cape Town) in zwei Fallstudien südafrikanische Lehrpläne und Unterrichtsmaterialien während und nach der Apartheid und arbeitet die mehrmalige Thematisierung des Meisternarrativs des 'Großen Trecks' im Kontrast zur fehlenden Berücksichtigung der Geschichte von unten sowie der Geschichte der Gefängnisinsel Robben Island heraus. Zugleich berichtet er von Tendenzen der Geschichtskultur, die den Befunden entgegenzusetzen sind, und weist auf Raum im Curriculum für die Einbindung nicht erzählter Geschichten hin. Cord Arendes (Universität Heidelberg) stellt wiederum in seinem Beitrag zur Berücksichtigung von Public History auf der Hochschulebene die Zusammenarbeit zwischen der Universität Heidelberg und öffentlichen Geschichtsarbeitenden für Praxisphasen im Geschichtsstudium vor. [3] Seine konzise und kenntnisreiche Darstellung des Standes der Public History, die er der Projektvorstellung voranstellt, sei hier ergänzend zum Beitrag von Marko Demantowsky positiv hervorgehoben. [4] Christoph Kühberger (Universität Salzburg) wendet seinen Blick auf mediale Repräsentationen von Public History, die bereits im Kinder- respektive Jugendzimmern gefunden werden können und moniert, wie wenig trotzdem in Curricula, Schulbüchern und Handreichungen für den Geschichtsunterricht auf diese Realität eingegangen werde. In diesem Zusammenhang präsentiert er kurz die im deutschsprachigen Raum mittlerweile bekannte Salzburger Interventionsstudie zu Filmen im Geschichtsunterricht. [5] Daisy Martin (Stanford University) gelingt es in ihrem Kommentar, Gemeinsamkeiten zwischen den einzelnen Texten herauszuarbeiten. Sie selbst knüpft an das Bild der Omnipräsenz von Geschichte im Alltag von Kindern und Jugendlichen an, um auf den Konsum von amerikanischen Geschichtsmythen (beispielsweise um Pocahontas) sowie auf die Möglichkeit der eigenen Produktion von Public History einzugehen.
Unter der Sektionsüberschrift "School as an Institution of Public History" [6] befasst sich Mario Carretero (Universidad Autónoma de Madrid) mit Strukturen von nationalen Meister- und Gegenerzählungen, die auch in Geschichtsschulbüchern verschiedener Beispielländer wiederzufinden sind. Zur Entschlüsselung solcher Narrationen bietet er ein eigens entwickeltes Raster an. Marco Zerwas (vormals PH FHNW, Basel) bearbeitet ein ganz anderes Thema: Er fokussiert Parallelen innerhalb der Entwicklung der Public History in den USA und des Geschichtswettbewerbs des Bundespräsidenten in (West-)Deutschland und ordnet Themenvorschläge des Geschichtswettbewerbs in den zeit- und wissenschaftshistorischen Kontext ein. In der gleichzeitigen Entwicklung von Public History und dem vorgestellten Geschichtswettbewerb sieht Robert J. Parkes (University of Newcastle) das Verbindende im Gegenstand der Geschichte von unten. Aus der Darstellung von Carretero greift er das Bild der Kollision von aus der Romantik und der Aufklärung stammenden Zugriffen auf Vergangenheit auf. Er erweitert seinen Kommentar um einen Verweis auf die australischen 'History Wars' um das nationale Narrativ und eine Studie zu Geschichtserzählungen von Lehramtsstudierenden.
In der dritten Einheit "History Politics, School, Public History" liegt der Fokus auf Geschichte(n) als Gegenstand politischer Auseinandersetzung. Peter Gautschi (Pädagogische Hochschule Luzern) beginnt mit einem Beitrag über Geschichtspolitik der Schweizer Volkspartei (SVP) und deren Anliegen, das Geschichtsschulbuch "Hinschauen und Nachfragen" verbieten zu lassen, weil in ihm ein ambivalentes Verhältnis zwischen der Schweiz und dem Nationalsozialismus aufgezeigt wird. Die SVP wartete darüber hinaus mit einem Gegenentwurf zum sogenannten Lehrplan 21 auf. [7] Thomas Hellmuth (Universität Wien) plädiert in seinem Beitrag für eine Abkehr von einer identitätsbezogenen, am politischen oder ökonomischen Nutzen orientierten Zweckrationalität des historischen Lernens, wie sie in der Zweiten Republik Österreich in unterschiedlicher Form erkennbar sei. Eine Alternative sieht er im von ihm so bezeichneten "'history teaching for idleness'" (159) - die beste Übersetzung für "idleness" scheint das Wort 'Müßiggang' zu sein. Jan Hodel (PH FHNW, Basel) fragt etwas abseits des Sektionszuschnitts nach dem Selbstverständnis und der baulichen Repräsentation von Archiven sowie nach dem Nutzen von Archivpädagogik für das schulische Lernen. In ihrem Kommentar fordert Alix Green (University of Essex in Colchester) von Personen mit Spezialist_innen-Identitäten im Bereich Geschichte Aufgeschlossenheit gegenüber Laien: Der Elitestatus in öffentlich geführten Debatten führe dazu, dass sich andere Teile der Bevölkerung, wie in der Brexit-Debatte, nicht ernst genommen fühlen, weshalb sie die Glaubwürdigkeit und den Einfluss von Spezialist_innen in Frage stellen.
Der Abschluss des Bandes geht aus einem Roundtable der Tagung zum Thema "The Future of Public History - What Shall We Teach Perspectively?" hervor. [8] Alexander Khodnev (Yaroslavl' State Pedagogical University) spricht über Veränderungen der Geschichtspolitik in Russland seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion mit Auswirkungen auf Schulbücher, die Errichtung von Instituten der Erinnerungskultur sowie von Museen zur Repräsentation eines vorgegebenen Geschichtsbildes, einer Entwicklung, der die Einrichtung von Masterprogrammen im Bereich Public History an Universitäten entgegensteht. Es sind dann im Grunde zwei Beiträge, die den Band schließen: Charlotte Bühl-Gramer (Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg) bietet zunächst acht, den Band bereits abrundende Gedanken über die Einbindung und eine facettenreiche Betrachtung von Public History in der Schule, wonach Mills Kelly (George Mason University) den Roundtable zusammenfasst. Den von Bühl-Gramer identifizierten Bedarf einer gezielten Berücksichtigung von Public History im Unterricht sieht Kelly ebenfalls in den Vereinigten Staaten gegeben, wo, nach seiner eigenen Überprüfung, Public History in den Common Core Curricula fast komplett abwesend (208) und auch in der Higher Education nicht etabliert sei (209). Die bewusste Kooperation zwischen Bildungsinstitutionen und solchen der Public History berge jedoch das Potenzial, Lehrpläne verändern zu können.
Die Überschriften der Sektionen sind sehr weit gehalten, überschneiden sich sogar und doch richten die Beitragenden ihre Texte nicht durchgehend an dem Oberthema der Sinneinheit aus, der sie zugeordnet wurden. Unter dem Vorbehalt des stetigen Wandels von Geschichtspolitik und der zeitlichen Distanz zwischen der Tagung, der Veröffentlichung sowie der vorliegenden Rezension beinhalten insbesondere die Beiträge von Rob Siebörger, Robert J. Parkes, Peter Gautschi und Alexander Khodnev, am Fallbeispiel arbeitend, sowie von Mario Carretero, Thomas Hellmuth und Alix Green, stärker an Ideen ausgerichtet, für Angehörige der deutschsprachigen Geschichtsdidaktik den wahrscheinlich größten Neuigkeitswert. Die Beiträge von Marko Demantowsky, Cord Arendes und Charlotte Bühl-Gramer bieten zusätzlich Bezugspunkte für ein Weiterdenken der Forschung und Wegweiser für den Auftrag der Disziplin, von der Hochschule aus bis in die Schulen hinein über den Gebrauch und Missbrauch von Geschichte(n) aufzuklären.
Das open access Format wurde innerhalb der Geschichtsdidaktik bisher selten als Publikationsform gewählt, doch ist eine kostenlose sowie unaufwändige Beschaffbarkeit für eine internationale Reichweite und allgemeine Verfügbarkeit im Erscheinungsland und über dieses hinaus sehr dienlich. Somit sind dem Band weltweite Downloads zu wünschen.
Anmerkungen:
[1] Tagungsbericht: Public History International. Beyond school? Comparative Perspectives, 02.10.2015 - 03.10.2015 Basel, in: H-Soz-Kult, http://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-6310, 08.01.2016 (zuletzt aufgerufen am 30.11.2019).
[2] Angedacht war für die Tagung noch ein Beitrag von Mustafa Gündüz (Yıldız Teknik Üniversitesi, Istanbul), der zwar im Programm, aber bereits im Tagungsbericht nicht mehr genannt wird.
[3] Arendes verweist in einer Fußnote (62, Anm. 34) für genauere Informationen auf den Beitrag ders. / Angela Siebold: Historisch Forschen - Professionell vermitteln. Ziele und Herausforderungen einer universitären Public History, in: Ulrike Senger / Yvonne Robel / Thorsten Logge (Hgg.): Projektlehre im Geschichtsstudium. Verortungen, Praxisberichte und Perspektiven, Bielefeld 2015, 105-116.
[4] Dem Stand der Wissenschaftsdisziplin widmen auch Martin Lücke und Irmgard Zündorf mehrere Seiten in dies.: Einführung in die Public History, Göttingen 2018, 13-28. Auf diesen Band sei hier allgemein positiv hingewiesen. Siehe vertiefend Thorsten Logge: Rezension von: Martin Lücke / Irmgard Zündorf (Hgg.): Einführung in die Public History, Stuttgart: UTB 2018, in: sehepunkte 18 (2018), Nr. 12, http://www.sehepunkte.de/2018/12/31521.html , 15.12.2018 (zuletzt aufgerufen am 30.11.2019).
[5] Christoph Kühberger (Hg.): Geschichte denken. Zum Umgang mit Geschichte und Vergangenheit von Schüler/innen der Sekundarstufe I am Beispiel "Spielfilm". Empirische Befunde - Diagnostische Tools - Methodische Hinweise, Innsbruck / Wien 2013.
[6] Hier fehlt der Beitrag von Michele Barricelli (damals Leibniz Universität Hannover, heute Ludwig-Maximilians-Universität München) zum Titel "The Past is Ours. Schools as Powerful Public History Agents".
[7] Siehe auch Nadine Fink / Peter Gautschi: Geschichtsunterricht in der Schweiz, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 68 (2017), H. 3 / 4, 154-171, besonders 157-160.
[8] Cord Arendes trat hier ein zweites Mal als Experte in Erscheinung, weshalb davon auszugehen ist, dass sich Mills Kelly im Kommentar auch auf dessen Beitrag bezieht, wenn er auf die Verbindung von Hochschule und Public History Projekten eingeht.
Ruth Fiona Pollmann