Hans-Jürgen Pandel: Geschichtstheorie. Eine Historik für Schülerinnen und Schüler - aber auch für ihre Lehrer (= Forum Historisches Lernen), Schwalbach: Wochenschau-Verlag 2017, 430 S., ISBN 978-3-7344-0227-2, EUR 39,80
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In seiner jüngsten Monographie versucht Hans-Jürgen Pandel, einen Adressatenkreis anzusprechen, dem die Geschichtstheorie relativ fremd ist, wird sie doch wenn überhaupt nur innerhalb der Universität diskutiert. Damit setzt er sich deutlich von der Historik ab, die Jörn Rüsen kürzlich verfasst hat. [1] Pandel versteht sein Buch als ein "Plädoyer für historische Bildung" und ist damit bei Schüler_innen und Lehrer_innen genau an der richtigen Adresse. Historische Bildung macht er an der Geschichtstheorie fest, weil sie Schüler_innen helfe, zu wissen, "was sie tun, und sie sollten es mit Bewusstsein tun. Das macht Geschichtsbewusstsein aus" (9). Deshalb fügt Pandel unter dem Titel "Die Historizität historischen Denkens" seinen Ausführungen eine Sammlung von 14 geschichtstheoretischen "Schlüsseltexten" bei, die als Materialien für den Unterricht gedacht sind. Ihm ist wichtig, dass Schüler_innen selbständig lernen und sich nicht ausschließlich mit Wissenserwerb beschäftigen. Diese Möglichkeit solle ihnen in der Schule eingeräumt werden, sich aber auch durch das vorliegende Buch bieten. Es muss sich deshalb zwei Fragen gefallen lassen: 1. Ist es adressatengerecht? 2. Ist es sachgerecht, das heißt, gibt es eine schlüssige Einführung in die Geschichtstheorie? Beides gewährleisten zu wollen, ist kein leichtes Unterfangen.
Pandel gliedert seine Geschichtstheorie in die fünf Kapitel: "Ereignisse", "Methodik", "Geschichtsschreibung", "Geschichtskultur" und, wie oben bereits genannt, "Die Historizität historischen Denkens". Mit den Ereignissen einzusteigen, begründet er schlüssig mit dem Argument, dass Historiker_innen wissen wollen, "was sich wirklich zugetragen" hat (19). Das eigentliche Motiv, warum sie das wollen, bleibt unverständlicherweise zunächst außen vor und wird erst wesentlich später im Zusammenhang mit der Geschichtsschreibung thematisiert. Denn das Fragen nach Geschichte und ihrem Nutzen führt doch erst dazu, sich mit dem zu beschäftigen, was geschehen ist, und zwar nicht nur in der Geschichtswissenschaft, sondern auch außerhalb der Universität.
Das Problem des Geschichtsinteresses wiederholt sich in dem Kapitel zur Methode, denn Pandel beginnt nicht mit der Forschungsfrage, sondern der Heuristik. Droysen, dem Pandel hier folgt, konnte dies aus seinem geisteswissenschaftlichen Selbstverständnis heraus noch tun. Wir aber sind heute, 200 Jahre später, in einer anderen Situation, nachdem der Nationalsozialismus das Vertrauen auf das humanum und seinen Fortschritt in der Geschichte erschüttert hat. Pandel kennt diese Problematik. Er diskutiert den Begriff "Verstehen" durchaus kritisch, benutzt ihn dann aber doch immer wieder. Auf der geisteswissenschaftlich metaphysischen Linie scheint sich ebenfalls sein Versuch zu bewegen, anstelle des Lernens aus der Geschichte von einem Lernen in der Geschichte zu sprechen, das uns heute helfe, uns zu verständigen: "Verstehen und Verständigen" seien "Zwillinge" (308). Dabei schwört Pandel an anderer Stelle auf die Rationalität als das Prinzip der Erkenntnis (88 / 89). Obwohl er "Verdunklungsbegriffe" vermeiden will, wie sie die Geschichtsdidaktik seiner Meinung nach so gerne verwende, gelingt ihm die Definition von "Ereignis" ebenso wenig wie eine zeitgemäße wissenschaftliche Begriffsbestimmung von "Verstehen", dem er doch einen ganzen Abschnitt widmet. Er verwechselt "Ereignis" mit "Geschehnis" und begibt sich damit in die Nähe der Objekttheorie, die er an anderer Stelle doch mit guten Argumenten ausschließen will.
Pandel erweist sich einerseits als Konstruktivist: Erinnerung verändere sich mit der sich wandelnden Gegenwart. Quellen und Geschichtsschreibung seien standortgebunden. Ein objektives Geschichtsbild sei nicht möglich. Sich in Menschen von damals einfühlen zu können, lehnt er kategorisch ab. Das meint übrigens "Verstehen" im geisteswissenschaftlichen Sinn! Anthropologische Konstanten gebe es nicht. Andererseits redet er von richtig und falsch, Fiktionalitätsverbot und Wirklichkeit. Zeichen enthielten "Sinn" (150). Hermeneutik sei "Sinnentnahme und Sinnverstehen" (260), Sinnstiftung dagegen ein "Sektenbegriff" (160), "Sinnbildung" eine "Nebelkerze" (157 / 158), Theorie ein "Netz, mit dem man Fische fängt" (161). Wenn gemeint ist, dass die Fische gewissermaßen die Gegenstände historischen Denkens sind, gerät in Vergessenheit, dass es sich seine Gegenstände selbst erst schafft. Im Sinne der Semiotik bezeichnen Zeichen Dinge, Sachverhalte, Ereignisse und Handlungen, sie haben eine Bedeutung im Rahmen sprachlicher Konventionen, die sich im Sprechakt konstituiert, in dem der Sprecher seine Welt deutet.
Zum Aspekt Zeit verweist Pandel auf Ricoeur: Sie werde in dem Maße zu etwas Menschlichem, "wie sie narrativ artikuliert wird". Zwar ist Zeit das proprium der Narration als die Versprachlichung historischen Denkens, aber sie ist ein Konstrukt und Teil von Kultur, also nichts ontologisch Vorgegebenes, das vermenschlicht werden könnte. An dieser Stelle wäre es wünschenswert gewesen, dass Pandel seine gemeinsam mit Klaus Bergmann 1975 veröffentlichten Überlegungen zu "Geschichte und Zukunft" noch einmal aufgegriffen hätte. [2] Sie sind immer noch hoch aktuell.
Den Begriff Geschichtsbewusstsein verwendet Pandel nur sporadisch und wenig eindeutig, obwohl es sich doch um eine Schlüsselkategorie handelt. Zunächst definiert er es als die Fähigkeit, sich vor Augen zu führen, wie das eigene Wissen über das, was geschehen ist, zustande kommt, zum Beispiel, welche standortgebundenen Werturteile das Geschichtsbewusstsein prägen (9, 175). Damit bewegt sich Pandel auf der Linie des späten Jeismann, der bereits lange vor ihm den Geschichtsunterricht auf die Aufgabe festlegen wollte, ein solches Geschichtsbewusstsein zu fördern. [3] An anderer Stelle setzt Pandel dann das historische Urteil und Geschichtsbewusstsein gleich (210), geht also gewissermaßen einen Schritt zurück und klammert die Ideologiekritik aus, die für Jeismann im Laufe der Zeit immer wichtiger wurde und zu der Pandel sich erfreulicherweise ebenfalls bekennt. Und schließlich redet er davon, dass Geschichtskultur Geschichtsbewusstsein fördere, Geschichtsbewusstsein sich demokratisiert habe (318) und es die Gegenwart erkläre (411). Hier meint er weder historische Urteile noch die Bewusstheit historischen Denkens, sondern wahrscheinlich Vorstellungen von Vergangenheit, anders gesagt Geschichtsbilder. [4]
Was die einleitend formulierten Fragen angeht, fällt die Antwort schwer. Geschichtstheoretisch fehlt die letzte begriffliche Schärfe und nicht zu vergessen zentrale Sachverhalte wie die Erzähltypologie Jörn Rüsens und schließlich auch Pandels eigene Dimensionen des Geschichtsbewusstseins. Im Blick auf die Adressaten finden sich viel Interessantes und viele spannende Beispiele, aber eine präzisere Begrifflichkeit und eine stringentere, übersichtlichere Darstellung würden den Weg der Geschichtstheorie in den Geschichtsunterricht leichter machen. Und dass sie dort einen Platz bekommt, ist tatsächlich notwendig.
Anmerkungen:
[1] Jörn Rüsen: Historik. Theorie der Geschichtswissenschaft, Köln / Weimar / Wien 2013.
[2] Klaus Bergmann / Hans-Jürgen Pandel: Geschichte und Zukunft. Didaktische Reflexionen über veröffentlichtes Geschichtsbewußtsein, Frankfurt am Main 1975.
[3] Karl-Ernst Jeismann: Geschichtsbewußtsein als zentrale Kategorie der Geschichtsdidaktik, in: Gerhard Schneider (Hg.): Geschichtsbewußtsein und historisch-politisches Lernen (= Jahrbuch für Geschichtsdidaktik; 1), Pfaffenweiler 1988, 1-24.
[4] Ebenda.
Jörg van Norden